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1.5 Theoretische Rahmung V: Ritual
ОглавлениеDie Definitionen von Ritualen sind heterogen. Das liegt daran, dass der Begriff des Rituals von einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen verwendet wird. Das liegt aber auch daran, dass er, insbesondere aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive betrachtet, definitionsbedürftig ist: In den untersuchten Quellen taucht er nicht auf, er dient vielmehr als Analyseinstrument. Für die vorliegende Untersuchung soll die für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen vorgeschlagene Ritualdefinition von Barbara Stollberg-Rilinger zur Anwendung kommen.[57] Diese Beschreibung ist zum einen transdisziplinär breit gefasst, zum anderen enger als der alltägliche Sprachgebrauch. Demnach benennt das Ritual eine menschliche Handlungsabfolge, die erstens durch Standardisierung und Wiederholung der äusseren Form gekennzeichnet ist. Sie ist deshalb erwartbar und wiedererkennbar, jedoch ebenso, wenn auch nur in einem gewissen Masse, veränderbar. Zweitens hebt es sich durch seinen demonstrativen, öffentlichen Aufführungscharakter zeitlich, räumlich und sozial vom alltäglichen Handlungsfluss ab mittels verschiedenartiger akustischer, visueller und sprachlicher Symbolik. Ein Ritual geschieht also nicht zufällig oder unbewusst, sondern wird absichtsvoll inszeniert. Als drittes Merkmal gilt seine Symbolizität, die auf eine spezifische Bedeutung, auf einen grösseren sozialen Ordnungszusammenhang verweist – darin unterscheidet es sich von Routinen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Beteiligten bezüglich dieser Bedeutung übereinstimmen, der gemeinsame Vollzug und damit der Glaube an einen gemeinsamen Sinnbezug reichen bereits. Viertens üben Rituale eine Wirkung aus. Ihre Performativität kann soziale Wirklichkeit schaffen, Gefühle der Zusammengehörigkeit erzeugen, ja eine Verpflichtung stiften, sich an das zu halten, was im Ritual gemeinsam darstellt wurde. Letzteres nachzuweisen fällt unter Umständen schwer, entscheidend ist vielmehr die durch das Ritual veränderte Erwartungshaltung. Fünftens schliesslich weist es zeitlich in doppelter Weise über die Gegenwart hinaus: Es erinnert an Vergangenes und verpflichtet zu zukünftigem Handeln. Durch seine elementare, sozial strukturbildende Wirkung verbindet es Individuum und Gesellschaft, Dauer und Wandel. Für Handlungen indessen, die wesentliche rituelle Merkmale nicht aufweisen, insbesondere die herausgehobene Feierlichkeit, schlägt Stollberg-Rilinger den Begriff der Ritualisierung vor. Ritualisierungen bezeichnen ein Verhalten, dass sich in seiner äusseren Form regelmässig wiederholt und in der Regel kommunikativer Natur ist. Die so gefasste Ritualdefinition vereingt die drei Dimensionen von Hettlings «Erlebnisraum» in sich. Für den alltäglichen Rütli-Besuch von Individuen und Gruppen ergibt sich daraus das folgende Analyseraster (Darstellung 1), mit dem der Umgang resp. die Interaktion der Besuchenden mit dem Denkmal – also den Erlebnischarakter und damit die rituelle Intensität – untersucht werden soll.
Analyseraster für die rituelle Interaktion von Einzelbesuchern und Gruppen | |
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Ritual/Erlebnis Die Handlungsabfolge … | Ritualisierung Die Handlungsabfolge ist … |
… ist formal standardisiert, repetitiv | … formal wiederholbar |
… ist absichtsvoll inszeniert und vom Alltag herausgehoben | … kommunikativ |
… ist ortsbezogen symbolisch | |
… intendiert politische Emotionen, Haltungen zu wirken | |
… intendiert Gedenken und Tradierung zu wirken |
Darstellung 1
Dem entsprechenden Analyseraster für Gedenkfeiern (Darstellung 2) liegen neben Stollberg-Rilingers Ritualdefinition die theoretischen Überlegungen von Bizeul zu politischen Mythen und Ritualen sowie jene von Müller zu historischen Jubiläen und Gedenktagen zugrunde.[58] Diese theoretische Erweiterung vermag der kollektiven Interaktion gerecht zu werden.
Analyseraster für die Gedenkfeiern auf dem Rütli |
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Ritual der Gedenkfeier/Erlebnis Die Handlungsabfolge … |
… ist formal standardisiert, repetitiv |
… ist absichtsvoll inszeniert und vom Alltag herausgehoben |
… ist ortsbezogen symbolisch |
… intendiert Sinnstiftung durch Stabilisierung und Strukturierung des Gedenkens, der Tradition und der gegenwärtigen Wirklichkeit |
… intendiert identitätsstiftende Wirkung durch partizipative und emotionale «Wir-Inszenierung» |
… legitimiert bestehende Machtverhältnisse und soziale Unterschiede |
Darstellung 2
Ein histoisches Jubiläum wird nicht selten geradezu als natürlich gegeben wahrgenommen, in der Tat ist es als geschichtlich bedingtes Ereignis unter der sozialen Zeitkategorie zu subsummieren. Das Gedenken in bestimmten Zeitintervallen dient nämlich als politisches Instrument dazu, Traditionen zu erfinden und zu formen.[59] Solche Gedenkfeiern entsprechen politischen Ritualen, denen Bizeul drei Funktionen zuweist.
Eine erste Funktion erkennt Bizeul in der stabilisierenden Sinnstiftung.[60] Analog zum politischen Mythos strukturiert auch das Ritual die Wirklichkeit, vereinfacht es, stellt ein Koordinationssystem zur Verfügung. Dieses Koordinationsystem enthält die die Gruppe auszeichnenden Werte, Normen und Vorstellungen. Müller vertieft diesen Aspekt, indem er im regelmässig wiederkehrenden Jubiläum einen Verweis auf Tradition und Stabilität sieht; vergangene Stabilität kann die Zukunftserwartung im Sinn einer Selbstversicherung beeinflussen. Gemäss der zweiten Funktion, die Bizeul dem Ritual zuweist, integriert es gemeinschaftsbildende Sinngebungen, wie sie sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart verfügbar sind, und verknüpfen sie identitätsstiftend.[61] Eine solche «Wir-Identität» entsteht durch die Reduktion von Komplexität oder die Exklusion anderer; nur so lässt sich eine «politische Vergemeinschaftung» (Max Weber) erreichen. Die scheinbar einheitliche, konsensual entstehende «Wir-Identität» wird indessen durch die dritte, die legitimierende Funktion eines politischen Rituals relativiert. Denn häufig dient es der Legitimation sozialer Unterschiede und politischer Herrschaft.[62] Generell, so Müller, werde im Jubiläum «Geschichte nicht nur einfach bewahrt, sondern geformt oder – je nach Standpunkt des Betrachters – verformt»[63]. Gesellschaftliche und politische Akteure formen und gestalten nämlich Jubiläen, indem sie absichtsvoll gewählte Elemente der Vergangenheit inszenieren und instrumentalisieren, um ihren politischen und sozialen Einfluss in der Gegenwart zu vergrössern oder ihre Macht zu legitimieren. Dementsprechend erscheint solchermassen «geformte» Gedenkleistung antagonistischen Akteuren als «verformt» sowohl in Form als auch in Inhalt. Damit hängt auch das emanzipatorische Potenzial zusammen, in dem Bizeul die vierte Funktion erkennt.[64] Politische Rituale können nämlich nicht nur der integrierenden Sicherung bestehender Machtverhältnisse dienen, sondern auch der Formung und Prägung antagonistischer, ja reformorientierter Bestrebungen. Aus diesen vergleichenden Betrachtungen resultiert das folgende Raster, das der Analyse der Gedenkfeiern auf dem Rütli dienen soll.