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1.6 Forschungsstand I: Denkmäler und ihr Gebrauch

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Im Gegensatz zu kunst- und geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zu Entstehung und Gestaltung von Denkmälern sind Gebrauchsanalysen seltener, sowohl was die geschichtskulturelle Prägung und Ausstrahlung als auch was die individuelle Nutzung von Gedenkstätten, historischen Stätten und Denkmälern angeht.[65] Zu beiden Bereichen liegen Untersuchungen vor, von denen nachfolgend wesentliche Ergebnisse diskutiert werden.

Der kollektive Umgang mit und die geschichtspolitische Funktionalisierung von Denkmälern steht im Zentrum dreier neuerer Studien. So fokussiert Sandra Petermann auf zwei historische Räume, die Region um Verdun und die Normandie als alliierte Landestelle 1944. Aus der Analyse von Gedenkorten, Akteursgruppen und Zeremonien und ihren Wandlungsprozessen resultieren mehrere idealtypische Phasen wechselnder Gedenkmotivation: das trauernd-erinnernde, das national-patriotische, das versöhnend-vereinigende und das historisch-pädagogische Gedenken.[66] Marco Zerwas seinerseits zeichnet minutiös die geschichtskulturelle Dynamik des Deutschen Ecks in Koblenz am Rhein nach. Dazu untersucht er nicht nur die Gestaltung des Denkmals, sondern auch die jeweils zeitgenössische Wahrnehmung sowie immer wieder aktualisierte Deutungsmuster samt damit verknüpften mythischen Narrativen.[67] Die neueste Einzelstudie im schweizerischen Kontext legte Konrad Kuhn vor, der Entstehung und geschichtskulturelle Nutzung des Forchdenkmals bei Zürich aufzeigt.[68] Er sieht darin «ein paternalistisch-pädagogisches Lehrprojekt»[69], das durch geschichtspolitische Funktionalisierung die Erinnerungen der Schweizer Bevölkerung an den Ersten Weltkrieg formen sollten. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der drei Arbeiten, dass sich Denkmäler und deren kollektive Nutzung in Gestalt und Gebrauch im diachronen Längsschnitt verändern – insbesondere auch relativ zum zeitlichen Abstand zum Referenzereignis – und gleichzeitig von politischen und gesellschaftlichen Akteuren funktionalisiert werden.

Auf den individuellen Umgang mit Denkmälern und Gedenkstätten fokussiert die Besucherforschung, deren neuere, wesentliche Erkenntnisse im Hinblick auf das vorliegende Rütli-Projekt dargestellt werden. Generell ist ein Mangel an Studien festzustellen, die sich Aneignungs- und Erinnerungsformen erwachsener Gedenkstätten-Besuchenden widmen.[70] Christian Gudehus geht in seiner Studie der Funktionsweise von mehreren deutschen Gedenkstätten nach.[71] Dabei stehen die Führungen im Zentrum, die an vier ausgewählten Orten angeboten wurden.[72] In teilnehmender Beobachtung begleitete er mehrere Führungen, um die Narrationen über die Vergangenheit und über dessen Repräsentation sowie die Reaktion der Besuchenden darauf zu analysieren. Er stellt kritisch fest, dass die institutionalisierten Begehungen nicht so sehr auf ein verbessertes Verständnis des vergangenen Geschehens abzielten; vielmehr wirkten die Führungen moralisierend und emotionalisierend und wollten auf diese Weise normative Leitlinien für das eigene, individuelle Denken und Handeln vermitteln, ein Umstand, der letztlich und grundsätzlich nach den Aufgaben von Gedenkstätten als Bildungseinrichtungen fragen lasse.[73] Hier schliesst Bert Pampels Studie zu subjektiven Erfahrungen und Deutungen erwachsener Individualbesuchender an, die er in drei sächsischen Gedenkstätten durchführte.[74] Vergleichbare Resultate konnte Maik Zülsdorf-Kersting in seiner Einzelfallstudie zu Schulbesuchen in einem Konzentrationslager beibringen. Der Besuch, das heisst die direkte Konfrontation, wirke zweifach auf Schülerinnen und Schüler: als emotionale Verstärkung moralischer Überzeugungen und als partielle Infragestellung von vorhandenen Vorstellungen.[75] Die Untersuchung vermag jedoch aufgrund ihres methodischen Settings nicht zu beantworten, inwiefern und ob überhaupt solche punktuellen Auseinandersetzungen mit spezifischen ausserschulischen Lernorten geschichtliche Vorstellungen nachhaltig beeinflussen, ja verändern könnten. Solche Nachweise sind bisher von keiner empirischen Studie erbracht worden.[76]

Wenig später untersuchte Marion Klein den Umgang von Schülerinnen und Schülern mit dem «Denkmal für die ermordeten Juden Europas» in Berlin.[77] Ein bemerkenswertes Resultat ist für sie das Dilemma der Jugendlichen, einerseits dem normativen und intentionalen Anspruch, Trauer zu empfinden, zu genügen, andererseits über keine gemeinsame milieu- bzw. generationenspezifische Erfahrungsbasis mit den Opfern zu verfügen, was Voraussetzung für Trauer wäre. Sie versuchen deshalb mit verschiedenen Strategien, das Denkmal «zu authentisieren», das heisst anschlussfähig zu machen zur eigenen Gefühls- und Erfahrungswelt.[78] Diese Anschlussfähigkeit thematisiert auch Gaynor Bagnall in ihrer Interview-Studie zu zwei englischen «heritage sites», zwei aufbereiteten Industrieanlagen des 19. Jahrhunderts.[79] Hier werden die dargebotenen Informationen bereitwillig aufgenommen, eine kritische Haltung entsteht nur, so Bagnall, wenn die mitgebrachten Vorstellungen nicht dem an Ort Dargebotenen entsprechen. Das bedeutet, dass es sich weniger um einen adaptiven als vielmehr um einen bestätigenden Rezeptionsprozess handelt, der überdies stark emotional und von individuellen Dispositionen geformt wird. Diese Befunde können für amerikanische «historic sites» bestätigt werden.[80] Diese Orte oszillieren zwischen Gedenkstätten und «living history», einem Konzept, das mittels kostümierter Schauspieler Geschichte in Inszenierungen und Führungen wiederaufleben lassen will. Diese Unterschiedlichkeit ist auch im Hinblick auf das Rezeptionsverhalten der Besuchenden zu bedenken. Von den von Conny C. Gratt publizierten Besucherstudien seien hier jene Ergebnisse angeführt, die sich nicht explizit auf die besonderen Inszenierungen beziehen.[81] An erster Stelle steht der Wunsch, durch Erlebnisse zu lernen und durch anschauliche Art in eine andere Zeit zurückversetzt zu werden. Als zweiten Aspekt führt Gratt an, dass die Besuchenden die Vergangenheit aus dem Blickwinkel eigener Erlebnisse wahrnehmen, und drittens wird die solcherart inszenierte Vergangenheit gerne partnerschaftlich als soziales Erlebnis entdeckt.

Für das deutsche Museumsdorf Cloppenburg liegen die Erkenntnisse der quantitativen Fragebogenuntersuchung von Holger Höge vor.[82] Demnach begründeten die Befragten ihren Besuch mit dem Wunsch, historischen Alltag zu erleben und Wissen zu erwerben. Der Rundgang durch die Anlage ermöglichte einer Mehrheit der Besucherinnen und Besucher solche empathischen, sensorischen und kognitiven Erfahrungen. Dass praktische alle angeben, etwas gelernt zu haben – unklar bleibt, was genau –, erstaunt daher wenig. Hingegen scheinen der Besuch individuelle Einstellungen und Vorstellungen sowie die Bereitschaft, diese zu verändern, kaum zu tangieren.

Weitet man schliesslich den ausserschulischen Einflusshorizont von punktuellen Besuchen auf das allgemein ausserschulische Erleben aus, lassen sich zwei Faktoren nachweisen, nämlich Geschlecht und Alter, die eine Rolle zu spielen scheinen. Carlos Kölbl stellt in seinen empirisch gestützten Untersuchungen fest, dass ausserschulische Einflüsse auf das Geschichtswissen und das historische Interesse besonders im Primarbereich bedeutsam seien.[83] Weiter scheint zu gelten, dass Knaben Mädchen übertreffen bezüglich dieser beiden Aspekte, wohingegen sich die Struktur des Wissens, der Methodenkenntnisse und des historischen Denkens im Verlauf des Kindes- und Jugendalters verändert.

Auch wenn die Resultate insbesondere für Gedenkstätten nationalsozialistischer Verbrechen nur begrenzt auf historischen Stätten und Denkmäler mit geschichtspolitischer Intentionalität übertragbar sind, lassen sich dennoch einige grundsätzliche Erkenntnisse festhalten. Zum einen tendiert das vor Ort bestehende Informationsangebot – moralisierend und emotionalisierend – zu einem normativen Anspruch. Zum anderen erfolgt die individuelle Rezeption vor allem emotional, kaum kognitiv, jedoch abhängig vom pädagogisch-didaktischen Setting der Anlage. Sie beeinflusst deshalb emotional-moralische Überzeugungen, nicht jedoch geschichtliche Vorstellungen, die sich kaum verändern resp. die eher bestätigt werden wollen als hinterfragt. Normativ-gesellschaftliche Ansprüche sowie der mitgebrachte Erfahrungshorizont prägen das Erleben, wo Letzteres zu einer spezifischen Authentifizierung führen kann.

Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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