Читать книгу Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation? - Martin Schaub - Страница 9
1.2 Theoretische Rahmung II: Gebrauchsgeschichte und Mythen
ОглавлениеIm Kontext des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft von 1991 beschäftigte sich die Schweizer Geschichtswissenschaft intensiv mit Repräsentationsformen der Nation. Daraus entstand eine ganze Reihe von Studien, welche Ideologien und Leitbilder sowie deren visuelle und textuelle Repräsentation beschreiben und analysieren. Diese sind für das vorliegende Projekt von besonderem Interesse.[10] Als bedeutsam hervorzuheben sind zwei Beiträge. Guy P. Marchal und Aram Mattioli unterstreichen, dass einerseits die für die Selbstdarstellung und -vergewisserung inszenierten Bilder der Vergangenheit häufig nicht identisch seien mit der geschichtswissenschaftlich fundierten Darstellung; andererseits erwiesen sich die Repräsentationen stets als orts- und zeitgebunden.[11] Marchal richtete sein Augenmerk in einem weiteren Schritt auf die beobachtbaren Mechanismen, wie Wissen und Vorstellungen über die Nation und ihre Geschichte verwendet werden.[12] Mit dem Begriff der Gebrauchsgeschichte rückte er statt der «Geschichte», der Inhalte, nunmehr deren «Gebrauch», also deren Produktions- und Verwendungs-, ja Instrumentalisierungsprozesse in den Vordergrund. Er definiert seinen Leitbegriff als Geschichte, «die der nationalen Identität dient, sei es als Nationalgeschichtsschreibung, die dem Staat eine zielgerichtete Entwicklungsgeschichte hin zum aktuellen Zustand verpasst, um diesen historisch zu begründen; sei es in Form allgemeiner historischer Vorstellungen und im Bewusstsein lebendiger Geschichtsbilder, die das Selbstwertgefühl, das Bewusstsein einer nationalen Identität stützen und fördern».[13] Gebrauchsgeschichte hat also dienenden Charakter, sie wird zur Identitätskonstruktion eingesetzt, sei es in Form ganzer nationaler Epen, sei es als identitätsstiftende Geschichtsbilder. Gebrauchsgeschichte wird von mannigfachen Akteuren verwendet, verändert, instrumentalisiert und ist daher einer permanenten Umformung unterworfen. Um die Wirkungsweise der Gebrauchsgeschichte zu verdeutlichen, führt Marchal den Begriff der Geschichtsbilder ein, geschichtliche Vorstellungen, die er auch als «imaginaire historique» bezeichnet.[14] Er versteht darunter «die im Selbstverständnis oder Nationalbewusstsein einer staatlichen Gemeinschaft eingelagerten und darin weiterlebenden Geschichtsbilder».[15] Diese Bilder stimmten oft nicht mit dem geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand überein, vielmehr sind es geradezu Historiengemälde im Kopf, die einen gewünschten Erkennungseffekt ermöglichen, Gefühle ansprechen, Assoziationen auslösen – und sind geprägt durch die jeweils aktuelle, soziale, kulturelle und politische Verfasstheit der Gesellschaft.
Marchal verortet seine Gebrauchsgeschichte also nicht im Kontrast zur wissenschaftlich gestützten Geschichtsschreibung, sondern untersucht deren Eigenschaften, Funktionsweisen und Wirkungen. Dabei stellt er nicht nur Parallelen mit dem Konzept der Geschichtskultur fest, sondern auch mit demjenigen der Erinnerungsorte: Die Frage nach dem Gebrauch scheidet tatsächliche Erinnerungs- und Gedenkorte von den bloss geschichtswissenschaftlich bestimmten.[16]
Eine paradigmatische Ausprägung von Marchals Gebrauchsgeschichte stellen politische Mythen dar. Deren grundlegende Merkmale beschreiben Etienne François und Hagen Schulze, indem sie die europäischen und amerikanischen Erzählungen vergleichen.[17] Demnach ist der politische Mythos in der Totalität der Zeit verortet, indem er in einer unbestimmten Vergangenheit spielt, auf die Gegenwart und Zukunft übertragbar ist und auf diese Weise eine grosse Kontinuität der dargestellten Nation widerspiegelt. Weiter wird die mythische Erzählung als eigentliche Geschichte verstanden, welche die Nation mit der Idee von Unabhängigkeit und Souveränität begründet und in einem christlichen Kontext entstehen lässt. Schliesslich, und diese Eigenschaft ist besonders bedeutsam, wird die Gemeinschaft, also die Nation, als einzigartige Schicksalsgemeinschaft geschildert, die sich von allen anderen Gemeinschaften wesentlich und positiv abhebt – ein «Wir» lässt sich damit von einem «Sie» abgrenzen.
Herfried Münkler seinerseits fokussiert in seiner grundlegenden Studie zu den deutschen Mythen auf die Wirkungsweise, den Gebrauchsaspekt der politischen Ursprungs- und Bewährungserzählungen.[18] Sie bilden die symbolische Grundlage eines Gemeinwesens und wirken auf das identitätsstiftende kollektive Gedächtnis ein – und umgekehrt: Politische Entwicklungen können dazu führen, dass sich Narrative verändern. Solche Prozesse manifestieren sich in drei verschiedenen Formen, der erzählten Form, also der Narration, der architektonischen, dem Denkmal, sowie der ritualisierten, dem Fest, eine Trias, die derjenigen von Hettlings «Erlebnisraum» entspricht.[19] Grundsätzlich stellt Münkler fest, dass ein Mythos seine Kraft nur zu entfalten vermöge, wenn er in allen drei Formen seinen Ausdruck erhalte. Greifen nun politische Akteure die bestehende Ordnung an, erringen die Macht oder scheitern an der etablierten, kann sich dies darin niederschlagen, dass Denkmäler gestürzt oder umgestaltet, Rituale neu geformt, mythische Narrationen neu erzählt werden. Dabei kommt Letzteren eine zentrale Funktion zu. Ihnen fehlen feste Konturen, weshalb sie in Form und Bedeutung wandelbar, also narrativ variabel sind.[20] Es ist genau diese Veränderbarkeit, so die Hypothese Münklers, durch welche die Narrative eher Veränderungen befördern resp. nachzeichnen, während Bilder und Denkmäler sowie die mit dem Mythos verbundenen Feste einen überwiegend bewahrenden Charakter haben. Umgekehrt vermögen gerade in einem demokratischen Staatswesen führende politische Schichten eher die ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung zu beeinflussen als die Erzählungen, deren Verfügbarkeit nicht eingeschränkt werden darf. Wenn die erzählten Mythen hingegen ihre Kraft verlieren – solche Prozesse können zäsurartig rasch oder erodierend langsam verlaufen –, büssen der Ort und auch die praktizierten Rituale ihre Bedeutung ein. Diese von Münkler beschriebenen Mechanismen sind direkt anschlussfähig an Hettlings Konzept des «Erlebnisraums» und dienen ebenfalls als theoretisches Raster für die Denkmalanalyse.