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1.7 Forschungsstand II: Geschichtliche Vorstellungen zu den rütlibezogenen Mythen

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Empirische Untersuchungen über Vorstellungen zu Gründungsmythos und Rütli sind rar. Markus Kübler geht der Dichotomie von Geschichte und Mythos nach, und zwar mit geschichtskulturellem Blick auf Materialien zur Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft, die Grundschullehrkräften zur Vorbereitung und Durchführung von Unterricht zur Verfügung stehen.[84] Er stellt fest, dass gerade diejenigen Materialien, die als Zielpublikum die Schülerinnen und Schüler aufwiesen, noch stark dem mythisch-identitätsbildenden Paradigma verpflichtet seien und die fachwissenschaftlich modernen Sichtweisen kaum miteinbezögen. Breiter angelegt ist Markus Furrers Studie, in der er die Leitbilder der Schweizer Nationalgeschichte in Schweizer Geschichtslehrmitteln der Nachkriegszeit und Gegenwart untersucht.[85] Dabei zeigt er anhand des gesetzten Rahmens auf, wie Geschichtsbilder zu Meistererzählungen zusammengesetzt werden und wie sich die Schulbuchdarstellungen entwickeln im Kontext der europäischen und der Schweizer Geschichte. Die kanonisierte Form der Gründungserzählung sieht er Ende des 19. Jahrhunderts entstehen und in überraschend unveränderter Form bis in die 1970er-Jahre weiterbestehen. Die darauffolgende Erschütterung des traditionellen Geschichtsbildes habe, gemäss Furrer, dazu geführt, dass die nationale Geschichte als Ganzes in den Lehrmitteln fast verschwunden sei, um in einem weltgeschichtlichen Fokus aufzugehen. Diese Entwicklung negiere die Notwendigkeit, Mythen im Sinne von Marchals Gebrauchsgeschichte im schulischen Kontext zu thematisieren, denn nur auf diese Weise lasse sich eine kritische und kontrollierte Identitätsbildung anstossen. Dass eine detailliertere Darstellung seiner Ergebnisse – zusammen mit denjenigen einer Studie zu Schweizer Lesebüchern – erst in den Kapiteln 4.1.3 und 4.1.4 folgt, also im Analyseteil des vorliegenden Projekts, hat seine Gründe darin, dass die Ergebnisse Furrers mit eigenen Recherchen ergänzt werden und die rütlispezifische Diskussion seiner Resultate direkter in das Zwischenfazit der kollektiven Gebrauchsanalyse einfliessen kann.

Zu individuellen, rütlibezogenen Vorstellungen wiederum sind ebenfalls einige empirische Untersuchungen greifbar. Die frühesten Daten liefern die regelmässig durchgeführten Rekrutenbefragungen, die mit der Einführung öffentlicher Bildungssysteme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einhergingen.[86] 1874 beschloss der Bundesrat, die Prüfungen jeweils bundesweit durchzuführen und die Resultate, unter anderem zur Vaterlandskunde, zu publizieren – ein Vorgehen, das bis 1915 stattfand.[87] Die in den kantonalen Staatsarchiven aufbewahrten Unterlagen konnten im Rahmen dieses Projektes jedoch nicht aufgearbeitet werden.[88] Einzig die zusammenfassenden Berichte der Bundesbehörden enthalten allgemeine Hinweise zum jeweils erhobenen Zustand geschichtlichen Wissens. Demnach lag das Bildungsniveau in protestantischen Kantonen im Vergleich zu den katholischen wesentlich höher. In Bezug auf die abgefragte Vaterlandskunde holten letztere jedoch – aufgrund spezifischer Schulungsmassnahmen – bis zum Ersten Weltkrieg auf.[89] Im Zuge der «Geistigen Landesverteidigung» nahmen die Behörden die Rekrutenprüfungen wieder auf. Von diesen Erhebungen sind nun rütlispezifische Daten greifbar. So gaben in den Rekrutenbefragungen von 1953 87 Prozent, 1965 84 Prozent der Teilnehmer das Jahr 1291 als Gründungsjahr der Eidgenossenschaft an.[90] Von denjenigen, die Inhalte aus dem Bundesbrief anführen konnten (gut 40 Prozent), zitierte die Hälfte ganz oder auszugsweise den Rütlischwur aus Schillers «Wilhelm Tell».[91] Sowohl diese eindeutigen Werte als auch die weiter oben angeführten Erkenntnisse von Kübler und Furrer spiegeln sich teilweise wider in den Resultaten der repräsentativen Umfrage einer Schweizer Zeitschrift aus dem Jahr 2004, dem Jubiläumsjahr von Schillers «Tell». Sie ergab, dass 75 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer noch immer der Ansicht sind, die heutige Schweiz sei vor 700 Jahren auf dem Rütli entstanden; 51 Prozent glauben, dass Tell die Schweiz tatsächlich von Habsburger Vögten befreit habe.[92] Eng mit dem Festhalten an der mittelalterlichen Geschichte verbunden ist die grosse Emotionalität, mit der einige Personen reagieren, wenn diesbezügliche und als gültig empfundene Vorstellungen in Frage gestellt werden.[93]

Der mit dem Rütli-Rapport eng verbundene General Guisan erfreute sich gemäss der Rekrutenbefragung von 1972 grösserer Bekanntheit, denn nur gerade knapp drei Prozent der Befragten hatten seinen Namen noch nie gehört.[94] In einem gewissen Gegensatz dazu steht das Resultat einer Umfrage, die eine Schweizer Zeitung 2008 durchführte.[95] Bei der Frage nach den «bedeutendsten Schweizern» lag Guisan erst an 16. Stelle.

Weitet sich der Untersuchungshorizont vom Gründungs- und Unabhängigkeitsmythos hin zum nationalen Selbstbild, rückt die Studie von Meier-Dallbach, Rosenmund und Ritschard aus dem Jahr 1979 in den Vordergrund. Eine grössere Sammlung von Pressetexten des Zeitraums von 1920 bis 1977 bildet die geschichtskulturelle Datengrundlage, um die Dynamik des Selbstbildes der Schweiz zu erforschen. Dabei unterscheiden sie ein Vorkriegs- von einem Nachkriegsgedächtnis. Ersteres operiere grundsätzlich bedeutend mehr mit Symbolvorräten, die essenzialistische Umweltdarstellungen ermöglichten und dadurch sakrale, metaphysische oder räumlich-identive Konnotationen aufwiesen, beispielsweise Vaterland oder Heimat. In den Nachkriegsgedächtnissen hingegen sinke die Bedeutung dieser Symbole markant und würde ersetzt durch analytischere, neutralere, womit der Abstraktionsgrad der Symbole in den Nachkriegsgedächtnissen zunehme. Fokussiert auf politische und nationale Identitätssysmbole stellen sie fest, dass diese im deutschschweizerischen Vorkriegsgedächtnis präsenter seien als im gleichzeitigen französischsprachigen und im deutschweizerischen des Nachkriegsgedächtnisses. Die Autoren sehen die Begründung dafür in der direkteren und stärkeren Exposition gegenüber Deutschland, einer Exposition, die eine stärkere Abgrenzung erforderlich gemacht habe.

Insgesamt also kanonisiert sich die Meistererzählung des Gründungsmythos Ende des 19. Jahrhunderts und hielt sich bis in die 1970er-Jahre stabil, um danach zwar dekonstruiert, jedoch nicht durch eine andere, wirksame Erzählung ersetzt zu werden. Die 1291-Gründung wird auch heute noch von einer grossen Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für authentisch resp. historisch gehalten, Tell dagegen geniesst weniger Glaubwürdigkeit, Guisan weniger Bekanntheit. Im Hinblick auf das nationale Selbstbild wird eine Vielzahl sakraler und räumlicher Symbole nach dem Zweiten Weltkrieg abgelöst durch abstraktere Zeichen, denen zudem weniger Bedeutung zukam.

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