Читать книгу Brief an Marianne - Martin Winterle - Страница 12

Ausgeträumt…

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Sie spürte ein sanftes Schmusen an ihrem Hals, einen leisen Druck auf ihrer Schulter. Fühlte wie sein Mund, sein Dreitagebart, zärtlich über ihre Wange streichelte. Die Spitze seiner Zunge mit ihrem Mundwinkel spielte. Weigerte sich die Augen zu öffnen, drückte die Lider fester zusammen. Gestern war nicht wahr, nicht die Wirklichkeit. Gestern war nur ein böser Traum, ein Alptraum der allerschlimmsten Sorte gewesen. Das konnte einfach nicht sein, durfte nicht sein. Eva musste sich getäuscht haben, ganz bestimmt sogar. Horst lag ja neben ihr, würde sie mit seinen Zärtlichkeiten gerade liebevoll, mit allen seinen innigen Gefühlen die er für sie empfand, in einen wundervollen Tag hineinführen. Für diesen einen Moment, war sie so voller Glück, so unvorstellbar in ihrer Mitte, wie selten zuvor, in ihrem Leben. Es war nur noch traumhaft. Wieder strich er zärtlich mit seiner Zunge über ihre Nasenspitze und kitzelte sie. Marianne musste niesen, explosionsartig…

BENJAMIN!!!

Mit einem Satz war der Ersatz-Horst auf die flauschige Eisbärimitation vor Eva´s Bett gesprungen. Dort stand der Schmusekater nun auf seinen vier Pfoten, schaute treuherzig zu Marianne hinauf, verstand die Welt nicht mehr. Bei Frauchen durfte er immer mitkuscheln, da hatte er es halt einmal bei ihr versucht, was war da schon groß dabei.

Sie saß kerzengerade in Eva´s französischen Bett.

War erschrocken in die Höhe gefahren, suchte nach einem Taschentuch, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Wenige Minuten nach acht, eigentlich Zeit um aufzustehen. Wie ein Hammerschlag, trafen sie die gestrigen Gespräche mit Eva. Spürte, wie ihr die Tränen aufstiegen.

Benjamin ließ es auf einen zweiten Versuch ankommen, nahm Anlauf. Mit einem eleganten Sprung landete er auf ihren Beinen. Legte sich auf ihren Bauch, drehte sich unter leisem schnurren, zu einer Halbkugel zusammen. Ihr war es, wie wenn der Kater sie ablenken und trösten wollte. Sie war viel zu traurig, um Benjamin die erbettelten Streicheleinheiten zu verwehren. Ihre Finger kraulten sich in das seidenweiche Fell, auf das ihre Tränen nun ungehindert herab tropften.

Nicht das Eva davon aufgewacht wäre. Nein, sie zog sich lediglich die bunte Flickendecke über ihre Ohren und schlief seelenruhig weiter.

Marianne sah auf ihr Handy. Sie hatte es lautlos geschaltet, die Hülle zugeklappt. Ein SMS von Horst war gekommen, um 6 Uhr 58 hatte er es geschickt. Das war wahrscheinlich Gassi Time. Er erkundigte sich, wie sie geschlafen habe, ob der gestrige Tag mit Eva für sie fein gewesen sei, sie für heute plane. Nach einer ganzen Palette, ausgeschmückter Liebeserklärungen, bat er sie, ihm heute am Abend doch bitte, bitte ein Mail zu schreiben, er würde sich wahnsinnig freuen, könne vor Sehnsucht nach ihr, an nichts anderes, als an sie denken. Er liebe sie über alles!

Wie anders las sich dieses SMS heute, nach dem gestrigen Tag.

Es tat verdammt weh, seine Liebesbeteuerungen zu lesen, gleichzeitig zu denken, dass er sicherlich gerade, das eheliche Bett verlassen hatte.

Ahnte diese Sabine, dass ihr Ehemann seit einem Monat eine Geliebte hatte?

Hatte Horst offiziell an den Mittwochnachmittagen geschäftliche Termine?

Schlief er etwa mit Sabine und mit ihr?

Innerhalb weniger Stunden, weniger Tage, einmal mit der einen, dann wieder mit der anderen?

In welchem Zustand war seine Ehe, dass er sich so sehr in sie, Marianne verlieben konnte?

Gab er nur vor, in sie total verknallt zu sein, damit sie sich ihm hingab?

Dachte er nicht an die Verantwortung, die er seinen beiden Buben gegenüber hatte?

Würde nicht seine Ehe zerbrechen, wenn Sabine hinter diese Affäre mit ihr käme?

Hatte sie überhaupt ein Recht darauf, mit Horst zu schlafen?

Benjamin sah zu ihr hinauf. Sie hatte ihn, während ihr diese, und noch viele andere Fragen, wie Silvesterraketen, in den Kopf schossen, aufgehört zu streicheln. Schuldbewusst streichelte sie über seinen Nacken, was er mit dankbaren Geschnurre quittierte.

Ihr wurde es im Bett, unter der warmen Decke plötzlich zu eng. Irgendetwas schnürte ihr die Luft ab. Liebevoll nahm sie den Kater auf den Arm, setzte ihn vorsichtig neben dem Bett auf den Boden.

Schwang sich auf, schlich leise aus dem Zimmer.

Benjamin war zu seinem Frauchen unter die Decke gekrochen.

Frauen sind ersetzbar…

Holte frische Wäsche aus ihrer Sporttasche, kleidete sich vor Eva´s kreisrunden, überdimensionalen Badezimmerspiegel an. Sie sah verweint aus, hatte rote Augen und Nervositätsflecken auf ihrer Stirn. Ihr Anblick versetzte sie in mittlere Panik. Sie sollte heute Nachmittag bei ihrer Mutter zum Kaffee trinken antanzen, mit ihr anschließend auf den Friedhof fahren. Ihre Mutter wollte eine Kerze auf dem Grab von Mariannes Vater anzünden, Blumen gießen. So fertig, wie sie sich gerade aus dem Spiegel entgegen starrte, konnte sie bei ihrer Mutter nicht aufkreuzen, ohne lange und breite Erklärungen abzugeben. Danach war ihr im Moment echt nicht. Wollte in diesem Augenblick niemanden sehen, selbst ihr Spiegelbild war ihr zu viel.

Bis heute wusste von ihrer Beziehung zu Horst nur Eva und die auch genaueres erst seit Donnerstag, sonst keine Menschenseele. Ihrem Sohn, waren die abendlichen Mails bis dato nicht aufgefallen, ihrer Mutter hatte sie nichts erzählt, ihrer Schwester erst recht nicht. In der Firma und in ihrem Wohnhaus, hatte niemand sie gemeinsam beobachtet. Marianne achtete penibel darauf, dass es auch so lange als möglich, so bleiben würde. Letztlich war sie aber alt genug, um über ihr Leben selbst bestimmen zu können, zudem niemanden Rechenschaft schuldig…

Sie huschte in die Küche, zog die Türe hinter sich ins Schloss. Eva wird ja irgendwann aus den Federn kriechen. Sie bereitete Kaffee vor, stellte auf den Tisch, was ihr für ein gemütliches Sonntagsfrühstück passend schien. Im Kühlschrank fanden sich zwei Eier, die sie weich kochen konnte. Die passenden Weißbrotschnitten für den Toaster waren auch vorhanden, sollten ihrem Ablaufdatum nach, eigentlich seit zwei Wochen schon, nicht mehr existieren. Marianne erbarmte sich ihrer.

Sie schlich, begleitet von Kaffeeduft in Eva´s Schlafgemach. Diese war aufgewacht, nicht wirklich munter, aber ansprechbar. Immerhin war es zwischenzeitlich dreiviertel neun. Sie gähnte herzhaft, streckte sich nach allen Seiten(Benjamin war wieder einmal wenig amused…), zog ihre langen Beine unter der bunten Decke hervor.

>Guten Morgen Mädel, bist du schon lange auf? Du bist ja schon fertig designt. Du, gib mir zehn Minuten, dann mache ich uns ein leckeres Frühstück. Ich habe sogar noch zwei freilaufende Frühstückseier für heute Sonntag. <

Eva zog ihren ehemals pink farbigen, etwas verwaschenen, Frottee-Morgen-Bade-Relax-Mantel vom antiquierten Gründerzeit Kleiderständer, wollte ins Bad. In der weitläufigen Diele umwehte sie der verführerische Duftmix eines perfekten Frühstücks. Zog eine Katzenwäsche vor, mochte Marianne nicht warten lassen.

Eva köpfte gerade ihr glücklich freilaufendes Frühstücksei, als sie ihrer Freundin, einen so neutral als möglichen Blick zuwerfend, fragte:

>Wie hast du denn geschlafen, auf den gestrigen, aufregenden Tag hin? <

Eigentlich ganz gut, antwortete Marianne. Ja, wirklich, sie wundere sich selber darüber, aber sie sei auch ziemlich erschöpft gewesen. Logisch, dass es nichts bringen würde, etwas anderes, als Mariannes Beziehungschaos zu bereden.

>Hast du dich schon zu einer Entscheidung durchringen können? Was wirst du tun, wie verhältst du dich jetzt, deinem Galan gegenüber? Ich meine, einfach zur Tagesordnung überzugehen, das wird’s nicht spielen, denke ich. <

Eva spielte, laut nachdenkend mit ihrem Müslilöffel. Marianne versuchte gerade, die letzten Reste ihres Eies aus der Schale zu hebeln, ließ sich mit ihrer Antwort etwas Zeit. Nein, eine Entscheidung habe sie noch nicht treffen können, dazu sei die Situation noch zu frisch, der Schock sitzt zu tief. Heute Abend wird sie Horst ein Mail schreiben und ihn fragen, ob er Morgen zwischen 17 und 19 Uhr Zeit hätte, sich mit ihr in der Stadt zu treffen. Sie schreibt ihm auch gleich dazu, dass es etwas außerordentlich Wichtiges zu besprechen gibt. Etwas, das keinen Aufschub duldet. Weder am Telefon noch per Mail zu klären sei. Das wäre für Marianne eine günstige, nach oben begrenzte Zeit, da sie zum Italienischkurs gehen musste. Dieser begann um 19 Uhr. Auf die lange Bank schieben wollte sie die Angelegenheit natürlich nicht. Sie musste Klarheit haben, und zwar vor Mittwochnachmittag. Dann würde sie weiter sehen. Machte es von Horsts Reaktion abhängig.

Eva war da ganz anderer Meinung:

>Mädel, das ist alleine deine Angelegenheit, ob du dir diese Beziehung weiterhin gibst oder den Hut drauf wirfst. Kann nicht von seinen Ausflüchten, Verharmlosungen, Beteuerungen und Versprechungen abhängen. Du alleine entscheidest, wer und was dein Leben bestimmt! <

Hatte Eva noch hinzugefügt. Noch einmal die beiden gestrigen Varianten, wie sie persönlich es halten würde, ins Spiel gebracht. Aber auch dazu gemeint, sie sei die Eva, und nicht die Marianne, leider. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende, philosophierte Eva.

>Du, weißt du was, du könntest ihn auch anrufen, um ihm gleich zu sagen, dass Morgen 17 Uhr einfach fix zu sein hat. Er soll sich das gefälligst einrichten. Sag ihm ruhig, dass Feuer am Dach ist. Du musst nicht gleich am Telefon schon sagen, was ich herausgefunden habe, aber mach unmissverständlich klar, dass er dich nach dem Büro abzuholen hat, laß´ ihm gar keine Wahl! Sieh einmal in den Spiegel wie du aussiehst. Wie eine glücklich Verliebte, ganz bestimmt nicht, ganz im Gegenteil. Er soll sein Fett abbekommen. Laß´ ihn erklären, wie er sich eine Zukunft vorstellt, mit euch beiden. <

Ziemlich emotional war sie geworden, die liebe Eva. Hatte sich eine Zigarette angezündet, das Küchenfenster geöffnet, den Rauch, demonstrativ ins Freie geblasen. Marianne fand den Vorschlag gar nicht einmal schlecht. Sie würde das am Nachmittag versuchen. Wenn er nicht abhob, nicht abheben konnte, weil Sabine oder die Jungs bei ihm waren, würde sie ihm später ein SMS mit diesem Inhalt schreiben. Auf ein Mail mit dahinschmelzen, es vor Sehnsucht nach ihm, nicht mehr aushalten können, heute wird er vergeblich warten. Das versicherte Marianne, Eva im gleichen Atemzug.

War aufgestanden, räumte den Tisch ab und begann mit dem Abwasch. Eva´s Kommentar dazu:

>Kannst du nicht eine Minute ruhig am Tisch sitzen bleiben. Ist doch völlig wurscht, wenn ich das später mache, ist ja nicht viel. Du rufst mich auf alle Fälle an, wenn es was Neues gibt, versprochen! Auf alle Fälle will ich wissen, was bei eurem Gespräch heraus gekommen ist. Fakt ist, dass du mehr als vorsichtig sein musst. Der Peter hat mich ausdrücklich gebeten, dich vor Horst zu warnen. Du hast ja sein Mail selber gelesen. Horst ist ein Weiberheld, und du sein williges Opfer. Bitte sei dir dafür zu schade, Mädel! Wenn du nur Sex mit ihm willst ok, aber laß´ die Gefühle aus dem Spiel. Besser gesagt, bring sie wieder unter Kontrolle, deine Liebe zu ihm. Glaub mir, es ist besser so. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, du weißt mich zu finden, zu jeder Zeit, verstanden! <

Eva mit Nachdruck angefügt.

Marianne nahm sie dafür in ihre Arme, drückte sie an sich.

>Ich bin so froh, dass es dich gibt. Du bist für mich ein unendlich wichtiger Halt, danke. <

Die altmodische Küchenuhr aus Delfter Keramik, war auf etwas nach elf geklettert. Marianne machte sich bereit zu gehen. Mit einem fast schuldbewussten Blick auf den vollgeräumten Frühstückstisch, den Eva nun alleine abräumen müsste.

Diese wiederholte noch einmal alle ihre guten Ratschläge, forderte Marianne auf, ja Bericht zu erstatten. Wollte vom Gespräch mit Horst auch die Zeichen hinter dem Beistrich wissen…

Als Marianne ihre Wohnung aufschloss, wäre sie um ein Haar über die Sporttasche ihres Sohnes gefallen. Dieser duschte gerade, folglich kein freies Badezimmer. Wie gerne, wäre sie in diesem Moment ganz alleine gewesen. So musste sie sich Gedanken machen, was sie zu Mittag kochen könnte, der Nachwuchs hatte, im Gegensatz zu ihr, sicher Hunger. Sie hatte noch acht Spinatknödel, einige Pizzas und Gulasch für zwei, zur Auswahl im Tiefkühler. Wenn er aus der Dusche kommt, wird sie ihn fragen, auf was er Gusto hätte. Sie trat auf den Balkon hinaus, sah nach den frisch eingesetzten Kräutern. Holte ein wenig Wasser für die kleinen Sprießlinge. Mit beiden Händen hielt sie sich am Geländer und schaute nach Nirgendwo hin. Es war windstill und bedeckt, regnete aber nicht. Vom Turm der Stadtpfarrkirche läuteten die Mittagsglocken. Ihr Sohn kam aus dem Bad geschlichen, machte einen übernächtigten Eindruck und meinte auf ihre Frage, ob er hungrig sei, und auf was er am meisten Lust hätte:

>Mutsch, mach deine Spinatknödel, Pizza habe ich in vier Tagen, glaube ich dreimal gegessen, die hängen mir schon zum Hals raus. <

Viel mehr Konservation war nicht drin, er war in seinem Zimmer verschwunden. Sollte sie die Sporttasche ausräumen und die Schmutzwäsche in den Wäschekorb geben? Ganz sicher nicht!

Die Spinatknödel mit Buttersauce waren fertig. Marianne hatte sinnvollerweise alle acht Stück ins heiße Wasser gegeben. Ihr Nachwuchs setzte sich zu ihr, ließ sich das Essen schmecken. Auf ihren Teller lag nur ein Knödel. Sie hatte ausgiebig gefrühstückt, zudem schnürte ihr sie Sache mit Horst den Magen zu. Marianne fragte, wie es mit dem Maturaprojekt laufe und ob er von der Montanuniversität Leoben schon etwas gehört hätte. Hatten sich ja seit Anfang der Woche nicht mehr gesehen, nur kurze SMS ausgetauscht.

>Der Maturatermin ist jetzt auch fix. Wir sind am 19. und 20.an der Reihe. Die Präsentation von unserem Gruppenprojekt wollte der Direx vorverlegen. Geht jetzt aber nicht, kein Platz in der Aula…und im Klassenzimmer, nein danke. Wir haben dagegen protestiert, war auch echt notwendig, in der Klasse schaut sich´s keine Sau an. Da findet ja keiner hin. Stehst dir den halben Tag die Füße in den Bauch, und keiner will’s erklärt haben. Dafür die ganze Plackerei, ohne uns. Klar die Eltern kommen…du kommst doch auch, hoffe ich? <

Zwischen Knödel drei und vier, sah er seine Mutter fragend an.

Sie nickte etwas abwesend, stand auf um den Termin im Kalender zu fixieren. Natürlich wird sie kommen, klar. Wenn ihr Großer sein Projekt präsentiert, durfte sie nicht fehlen.

>Wegen Leoben, hat sich was verändert. Ich hätte lieber Industriellen Umweltschutz inskribiert, die sind aber mehr als voll, und die Warteliste ist mir zu ungewiss. Bin jetzt fix bei den angewandten Geowissenschaftlern eingeschrieben. Die Bestätigung habe ich letzte Woche per Mail bekommen. Natürlich machen die´s vom Maturazeugnis abhängig. Aber da hab ich echt keine Panik, das ist gelaufen, kannst dich verlassen, Mutsch! Hab ich´s dir echt nicht erzählt? <

Marianne konnte sich nicht erinnern, auch mit den beiden Studienrichtungen, nichts anfangen, sich nichts Konkretes darunter vorstellen. Meinte aber, das sei super und sie freue sich ehrlich.

>Du Mutsch, kommenden Samstag beginnen unsere Frühjahresmeisterschaften. Zu den Heimspielen kommst du doch, oder? Du kannst ja die Eva mitbringen, die so schrill zwischen ihren Fingern pfeifen kann, und diese schiefe Ines. Wir können jede Menge hübsche Cheerleader brauchen, die uns anfeuern. <

Ihr Sohn war zu seinem Lieblingsthema gewechselt, Marianne einer seiner treuesten Fans.

>Die schräge Ines, meinst du. <

Korrigierte ihn seine Mutter lachend.

>Wenn es mir ausgeht, komme ich selbstverständlich. Deine Oma nehme ich aber nicht mehr mit, mir haben die letzten Herbstmeisterschaften gereicht. Sie kriegt ja immer einen halben Herzinfarkt, wenn du zu Boden gehst. Hat schon Angst, wenn du die Hände zu hoch hinauf reckst, dass du dir vielleicht was überdehnen könntest. Also sag bitte zu Oma nichts deswegen, ok. Was machst du mit Handball, wenn du in Leoben studierst? <

Interessierte Frage von ihr. Er hat sich bereits beim dortigen Club angemeldet, berichtet er.

Ihr fiel gerade auf, wie selbständig ihr Sohn geworden war. Aber auch, dass sie eigentlich vieles aus seinem aktuellen Leben gar nicht mehr wusste. Früher hatte sie über jeden Schritt ihres Buben Bescheid gewusst. Heute fehlten ihr massenweise Informationen. Oft kannte sie nur noch die Überschriften seiner Unternehmungen, die Inhalte aber nicht. Irgendwie stimmte sie das traurig, sie sah ihn melancholisch liebevoll an, während er weiter erzählte, voll Genuss auch den Letzten, seiner sieben Spinatknödel kauend.

Einen Platz in einer WG hatte er seit ein paar Wochen. Etwas außerhalb gelegen, zusammen mit zwei weiteren Tirolern. Mit dem Fahrrad in wenigen Minuten, Universität und City erreichbar. Hatte er ihr erklärt, auch dass die Altbauwohnung billig, zudem urgemütlich möbliert sei. Wegen dem Stipendium sei er ebenfalls hochaktiv am Ball, und dann wäre da noch:

>Apropos Oma…ich hab mit ihr kürzlich gesprochen…ob ich nicht zu ihr ziehen könnte. Sie hat ja vier Zimmer, davon stehen zwei leer. In Hall bin ich eh dann nur noch in den Semesterferien, selbst da werde ich mir Arbeit suchen, möchte mir etwas verdienen, möglicherweise sogar mit Praxis kombinieren. Ich denke, es ist auch in deinem Sinn, dann hast du endlich sturmfreie Bude. Kannst mein Zimmer zu einem Schlafzimmer umfunktionieren. Wie find’s du das? <

Sie war sprachlos, das war ein bißchen viel auf einmal. Sie wollte wissen, was ihre Mutter dazu meinte. Zu ihr hatte sie nämlich bis heute kein Wort zu diesem Thema gesagt. Oma wäre begeistert gewesen, über diese, seine Idee. Sobald als möglich würde er übersiedeln. Seine Möbel würde er einem Handballfreund für dessen Studentenbude schenken. Opas ehemaliges Arbeitszimmer(eigentlich Mariannes Mädchenzimmer..), wird leergeräumt und Oma spendiert eine funkelnagelneue Einrichtung! Alles schon ausgemachte Sache, nur sie hatte nichts davon erfahren. Wusste nicht, ob sie darüber jetzt sauer sein sollte, oder nicht. Schluckte ihre Meinung darüber hinunter und meinte, das wäre echt super. Ja, wirklich eine coole Idee. Welche Konsequenzen diese Veränderungen für ihr eigenes Leben bedeuten, realisierte sie in diesem Moment noch gar nicht wirklich.

Ihr Herr Sohn leerte seine Sporttasche selber, stopfte die schmutzige Wäsche in den Wäschekorb (Wunder eins…). Fragte, ob sie Lust hätte, heute Abend mit ihm zu paschen, sie hätten das doch früher so oft gespielt(Wunder zwei…). Klar, sie würde sich freuen, sagte Marianne ehrlich erstaunt.

Nun würde sie aber die Küche aufräumen und mit Oma auf den Friedhof fahren. Nein, die Küche würde ihr Sohn aufräumen(Wunder drei…). Sie könne schon losziehen, Oma wartet sicher schon auf sie, wie immer. Wann hatte er das den das letzte Mal angeboten? Auf das Würfelspiel am Abend freue sie sich, bekräftigte sie nochmals. Schön, einmal eine gemeinsame Zeit mit ihrem Sohn zu haben. Schnappte sich ihre Handtasche, Handy, Schlüsselbund, gab ihrem Großen einen dicken Schmatz auf die Wange. Sollte heißen, ich liebe dich und bin sagenhaft stolz auf dich!

Weit war sie nicht gefahren. Direkt vor der alten Stadtmauer, links auf einen Parkplatz eingebogen. Weit hinten suchte sie sich einen freien Platz, unter einer alten Kastanie, öffnete die Türe. Aussteigen wollte sie nicht, brauchte nur Luft zum überlegen. Die Digitalanzeige auf ihrem Handy zeigte 14 Uhr.

Zeit zum Aufräumen!

Es hat keinen Sinn länger zu warten, es würde sie ohnehin erdrücken. Egal wie es ausgeht, sie braucht Klarheit und zwar so schnell als möglich! Wollte nicht darüber nachdenken, was Eva ihr gestern alles berichtet hatte, als ihre beste Freundin, einfach sagen hatte müssen. Was Marianne wollte war Klarheit, die Wahrheit wissen, dann entscheiden!

Wählte entschlossen Horsts gespeicherte Kurznummer.

Es läutete ein paarmal bevor sich die Mailbox meldete.

>Hallo Horst, bitte ruf mich zurück, ich muss mit dir reden. <

Nicht mehr und nicht weniger, sprach sie auf sein Tonband. Wahrscheinlich war gerade Familiensonntagnachmittag angesagt, dachte sie, leicht verbittert. War gerade im Begriff loszufahren als das spezielle Horst Signal erklang.

Rasch stellte sie den Motor wieder ab, nahm das Gespräch an.

Er klang angespannt, durch Ihre förmliche Nachricht irritiert. Sie fiel auch gleich mit der Tür ins Haus. Morgen um 17 Uhr soll er bitte vor ihrem Büro auf sie warten. Am Telefon wollte sie ihm jetzt nicht sagen, um was es genau geht. Nur so viel, dass ihrer Beziehung auf dem Spiel steht. Er klang fassungslos, bat sie doch deutlicher zu werden. Marianne sagte nur noch, dass es kein Thema für ein Telefonat sei, ganz bestimmt nicht. Das ginge nur persönlich zu klären. Mit einem kurzen Adieu, drückte sie die Endetaste. Das SMS, das wenige Minuten später kam, las sie nicht, fuhr gerade Auto.

Der Nachmittag mit ihrer Mutter verlief anfangs frustrierend. Diese Friedhoftouren waren ihr verhasst. Mochte die modrige Atmosphäre der ewig langen Grabreihen nicht. Das Grab ihres Vaters würde sie ohne ihre Mutter nur zu Allerheiligen besuchen(müssen…?). Ihre Erinnerungen an ihn waren alles andere als erbaulich für sie. Anschließend saß sie mit ihrer Mutter auf deren, verglasten Balkon. Mutter hatte einen Gugelhupf gebacken, halb hell und halb dunkel. Sah gut aus und schmeckte auch so. Das ziemlich Beste an diesem Nachmittag.

Wenigstens gab es diesmal ein aktuelles, interessantes Gesprächsthema, musste sich nicht die ewige, alte Leier über lebende und teilweise längst verstorbene Nachbarn und Bekannten anhören.

Ihr Sohn als Omas neuer Mitbewohner!

Sie hatten sich gemeinsam das Zimmer angesehen. Es war um einiges größer, als sein jetziges, auch viel heller. Ein Eckzimmer mit zwei großen Fenstern. Die bereits bestellten Möbel präsentierte ihr ihre Mutter, nicht ganz ohne Stolz, in einem Prospekt. Der Parkettboden war in sehr gutem Zustand, konnte bleiben, frisch ausmalen, würde ein Freund des angehenden Studiosus. Ja, und wenn er zu wenig Platz haben sollte, in Omas Bügelzimmer, könne man auch noch einiges unterstellen. Erläuterte ihre Mutter, fast ein wenig aufgeregt, die bereits beschlossenen Veränderungen.

Oma meinte auch, ihr Enkel hätte seine Mutter über den bevorstehenden Umzug informiert. Darum hätte sie nichts gesagt, nie ein Geheimnis daraus machen wollen, ganz bestimmt nicht.

Marianne hielt an diesem Sonntag die Hundertachzig Pflichtminuten, die der Besuch zu dauern hatte, genau ein. Eine Kür auch noch anzuhängen, in die Verlängerung zu gehen oder noch eine Zugabe zu geigen, dazu fehlte ihr heute wirklich jeder Nerv.

Als sie aus dem Haus trat und die kurze Strecke bis zu ihrem geparkten Auto ging, hatte sie das angenehme Gefühl, endlich wieder frei zu sein. Mit dem Rücken an ihr Auto gelehnt holte sie ihr Smartphone aus der Tasche ihrer weinroten Lederjacke.

>Liebes, um Gottes Willen, was ist den geschehen? Ich mach mir irre Sorgen, ich liebe dich doch so sehr! Leider kann ich mich heute unmöglich mit dir treffen, bin bei meiner Mutter, der geht es nicht besonders gut, hat Fieber usw. Natürlich bin ich Morgen um fünf bei deinem Büro. Können wir nicht heute Abend telefonieren? Ich weiß mir keinen Rat, was es zwischen uns geben soll? Was könnte plötzlich zwischen uns stehen? Wir lieben uns doch! Ich liebe dich! Ich brauche dich! Ich will dich nicht verlieren, unter gar keinen Umständen! Horst. <

Nein, heute Abend können wir nicht telefonieren, der gemeinsame Spieleabend mit meinem Sohn ist mir tausend Mal wichtiger, als dir ein Mail zu schreiben, mein lieber Horst. Das hatte Marianne gerade halblaut gedacht. Einen runden Kieselstein, mit ihrer Schuhspitze elegant in den Abwassergulli gekickt…Treffer!

Sie spazierte einige, wenige Meter über den Rasen, setzte sich auf eine Parkbank.

Jetzt war Eva an der Reihe, das konnte länger dauern. Sitzen war dafür sicher die richtige Körperhaltung. Nicht ganz eine Stunde dauerte das Gespräch der Freundinnen. Es gab ja wirklich viele Neuigkeiten und Marianne wollte Eva über alles genau in Kenntnis setzen. Erst beim Telefonieren, wurde ihr klar, was es für sie bedeutet, ein eigenes Reich zu haben. Endlich alleine leben zu können. Die Dimension nahm langsam Formen an. Eva freute sich auf den Umbau wie ein kleines Kind auf Weihnachten, sprudelte bereits jetzt vor Ideen und Tatendrang.

>Mutsch, ich werd´ uns doch welche ins Rohr schieben, bevor sie das Ablaufdatum erreichen. Für dich eine Capricciosa, ich werd eine Diavolo vernichten, was hältst davon? <

Marianne schlüpfte aus ihren Schuhen, legte ab und staunte. Der Tisch war bereits gedeckt, nicht einmal die zwei Weingläser fehlten. Die letzte Flasche Etschtaler aus dem Abstellraum, hatte bereits keinen Korken mehr. Sie war ganz seiner Meinung. Ja, das wäre vor dem Würfeln eine gute Idee, verspürte zudem zwischenzeitlich ein leises Hungergefühl.

Beim Würfeln mit ihrem Sohn verlor Marianne beide Spiele, wenn auch nur knapp. Ihr Selbstvertrauen gewann dafür an diesem Tag, ein viel entscheidenderes Spiel…

Brief an Marianne

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