Читать книгу Brief an Marianne - Martin Winterle - Страница 9
Horst
ОглавлениеDer, ich dusche-mich-nie-wieder-Vorsatz, hielt genau von Mittwoch 20 Uhr bis Donnerstag 6 Uhr 30. Dann siegte Mariannes Logik über ihre Gefühle. Stellte sich lange unter angenehm warmes, sanft rieselndes Wasser. Schloss ihre Augen und erlebte den gestrigen Nachmittag gleich wieder live. Mit Nachdruck stieg sie aus der Dusche, trocknete sich ab, zog frische Unterwäsche an. Für heute hatte sie weiß gewählt, nicht ihre schwarze Lieblingsfarbe. Schlüpfte in eine braune Cordhose, streifte ein lachsfarbiges Poloshirt über und marschierte in die Küche. Es gab zum Kaffee Toastbrot, Butter und Himbeermarmelade. Kurz trat sie auf den Balkon hinaus. Der Morgen war kühl, diesig, fast nebelig, aber es regnete nicht.
Wartete sehnsüchtig auf ein SMS oder einen Anruf von Horst, seit gestern ihrem Horst. Während sie den letzten Bissen Toast mit Kaffee hinunterspülte, rief er endlich an.
>Marianne Liebes, wie hast du geschlafen? Ich gar nicht, meine Gedanken waren die ganze Zeit bei dir, nur bei dir allein. An was anderes, als an unseren gestrigen Nachmittag zu denken, war mir nicht möglich, echt nicht. Du bist so himmlisch, die hingebungsvollste und einfühlsamste Frau der Welt. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so verliebt, wirklich total verliebt, wie jetzt in dich. <
Marianne war über seine beschwörenden Liebesbeteuerungen restlos glücklich, sagte ihm das auch. Mehrmals hintereinander, immer mit anderen Wortkombinationen. Es brach vollkommen von selbst aus ihr heraus. Ihr Herz hatte sich ihm geöffnet und sprudelte wie ein Brunnen. Auch ihre gestrigen Höhepunktgefühle verschwieg sie nicht. Spätestens in der Mittagspause würde sie sich melden, ihm wenigstens ein SMS senden, versprach sie eilig, musste dringend zum Bus laufen. Das Telefongespräch zu beenden, hatte wegen Horsts Liebesschwüre, einige schöne Minuten länger gedauert, sie in Zugzwang gebracht. Einhändig stellte sie das Frühstücksgeschirr in die Spüle, packte ihre Handtasche, schlüpfte in die Schuhe, klemmte ihre Jacke unter den Arm und rannte los. Ausnahmsweise war der Bus heute nur mäßig besetzt. Es musste wohl schulfrei sein, er war halb leer. Sie besetzte einen Einzelsitz am Fenster. Sofort waren ihre Gedanken bei ihm. In Gedanken sah sie ihn vor sich, versuchte ein Bild von ihm aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
Er war also 45, somit fünf Jahre älter als sie. Etwas untersetzt, stämmig aber nicht dick, bis auf einen leichten Bauchansatz vielleicht. Hatte echte Fußballerwaden, kräftige Arme und Hände. Darauf stand sie, gab sie zu. Ihr Typ konnte Haare nicht nur auf der Brust haben. Das machte sie an. Hatte ihr bei Männern immer schon gut gefallen. Seine graublonden Haare trug er kurz, dazu einen gleichfarbigen, dichten Oberlippenbart. Schöne, dunkle Augen, deren genaue Farbnuance sie, so sehr sie sich anstrengte, nicht wirklich genau beschreiben konnte. Am ehesten kam noch dunkelgraubraun hin. Was sie an seiner Optik störend fand, sein zu kurz geratene Hals, einem Stiernacken nicht ganz unähnlich.
Horst konnte sehr überzeugend reden, ziemlich alle Register ziehen, von einschmeichelnd(ihr gegenüber…), bis brutal(wenn ihm etwas nicht ins berufliche Konzept passte…). War ein geduldiger Zuhörer der spontan direkte Fragen stellte. Interessiert hinterfragte, vollkommen auf sie einging. Konnte aber auch sehr herrisch und aufbrausend reagieren. Nicht sie betreffend, aber es war ihr in seinen Erzählungen aufgefallen.
Er war geschieden, seine Ex hieß Ruth, hatte einen Sohn mit ihr, soviel von sich aus erzählt. Nach seiner aktuellen Lebenssituation zu fragen, hatte sie sich, bis heute nicht getraut. Kam ihr gerade in den Sinn. Sie verdrängte diese Frage, wohl aus Angst vor der Antwort…
Heute Abend war um 19 Uhr das erste Treffen der Italienisch Kursteilnehmer im WIFI.
Sie kam nicht vor 23 Uhr nach Hause. Der Linienbus würde erst zwanzig Minuten nach Kursende, dafür aber fast vor dem Schulungsgebäude, abfahren. Zwischen Büroschluss, heute wollte sie bis 18 Uhr in der Firma bleiben, und Kursbeginn würde sie dann eine Stunde freie Zeit haben. Vielleicht hatte Horst in der Nähe einen Termin und sie könnten sich kurz sehen. Sie schrieb diese Frage mittags in ihr SMS an ihn, gleich zu Beginn, als erstes. Leider wäre er heute im Oberland bei Kunden, schrieb er zurück, was ihm sehr leid tue. Er vermisse sie total, würde sich über ein Mail von ihr freuen, auch wenn es erst spät abends wäre…
Eva hatte heute zeitgleich Mittagspause mit ihr. Dank gemeinsamen Handy-Spartarif kostete das ausführliche Quatschen so gut wie nichts. Marianne wollte sich thematisch auf den heute beginnenden Italienischkurs und auf was-unternehmen-wir-beide-am-Wochenende einschießen. Eva interessierte nur, wie es gestern mit Mariannes neuer Eroberung, diesem Horst war.
Marianne war zu diesem Thema bisher ja mehr als verschlossen, ihr gegenüber gewesen. Eva hatte an ihrer vibrierenden Stimme sofort erkannt, dass es da eine zu hebende, sicher hoch interessante Leiche im Keller gab. Leichen heben, Eva`s Lieblingsbeschäftigung. Dafür ließ sie sogar ihre Tasse Tee, Marke Eigenkomposition kalt werden und ein Schmacht-SMS von Mehmet, ihrem Fitnesstrainer unbeantwortet.
Also doch Funkenflug, nein bereits Flächenbrand, aber hallo - noch besser, noch viel interessanter – es gab Großalarm!
Eva hatte gewaltig die Neugierde gepackt. Bohrte und drängelte Marianne, mit um zwei Oktaven höherer Stimmlage. Um fünf soll sich Marianne aus dem Büro schleichen, sie würde mit dem Auto vor der Türe stehen. Fast zwei Stunden Zeit zum ausgiebigen Ausschlachten des gestrigen Nachmittages zur Verfügung haben. Da müssten selbst die Beistriche, in der erwarteten, haargenauen Schilderung, Platz finden. Seufzend gab sich Marianne geschlagen, wusste dass sie nicht auskam…
Eva nippte an ihrem Grapefruit-Orangenmix, ließ den Eiswürfel wieder ins Glas zurück flutschen. Zog ihre elendslangen Beine unter dem kleinen, runden Tisch hervor, wischte eine winzige Undefinierbarkeit von ihrem extravagant hohen, hellgrünen Pumps. Marianne hatte gerade die optische Beschreibung ihrer neuen Liebe beendet. Unterbrochen durch jede Menge Zwischenfragen, hatten ihre Schilderungen über eine halbe Stunde gedauert.
>Da hat dir sein Seismograph aber ganz gehörig etwas geboten. Typen mit Stiernacken haben ja sonst mit diesem Tier auch noch was gemeinsam. Das erinnert mich an diesen Hans, den Zillertaler, den ich dann kaum wieder losgeworden bin. Nur weil ich mir auch einmal einen Zuchtstier angelacht habe. Kannst du dich erinnern? <
Marianne konnte(vage…).
> Komm, spann mich nicht auf die Folter, wie lief´s denn ab, erzähl schon. Und spar nicht wieder mit den Details. Du weißt, ich hasse es, dir immer die Würmer einzeln aus der Nase zu ziehen. <
Marianne brauchte etwas Anlaufzeit, auch der Intimfreundin gegenüber. Eva hackte dort nach, fragte da hinterher, hatte nach einer weiteren halben Stunde eine filmreife Wiedergabe. Angefangen von Mariannes Abholung vor ihrem Büro, bis zum Fallen des Vorhanges um 20 Uhr. Natürlich freute sie sich mit Marianne, freute sich ehrlich für sie und mit ihr. Gönnte ihr jede glückliche Sekunde aus ehrlichem Herzen, nur…
Eva nahm Marianne, über den Tisch hinweg in den Arm und drückte sie emotional wie selten.
>Mädel super, echt. Du hast viel zulange weder Sex noch Zuneigung gehabt. Gönn´s dir ehrlich…was mich an der Geschichte irritiert…du…bist nicht ich…bei mir wäre so eine Story normal…aber. Sag, was weißt du den von den Lebensumständen dieses Horsts? Ist der wieder verheiratet? Hat er noch weitere Kinder? Zeig mir mal die Visitenkarte. <
Bat sie Marianne.
Marianne kramte sie aus ihrer Geldbörse. Eva studierte sie genau, kopierte sie in ihr Gedächtnis.
>Hast du ihn schon einmal gegoogelt? <
Interessierter Augenaufschlag von gegenüber.
>Nein, wozu sollte das gut sein, ich kann ihn ja fragen, wenn ich was wissen will? >
Antwortete Marianne, leicht verlegen.
>Ach nur so, aus Interesse halt. Mich interessiert immer was der Google zu berichten hat. <
Eva hatte seinen Namen längst in ihrer Hinterkopfdatei gespeichert, das wusste Marianne. Eva besaß ein phänomenales Namens - und Zahlengedächtnis, konnte jedes Detail behalten. Marianne merkte sich Gesichter und Begebenheiten leichter als Zahlen und Nahmen.
Für Samstag verabredeten die Freundinnen eine gemeinsame Putzparty in Eva´s verstreuten Räumlichkeiten mit anschließenden Pasta asciutta kochen. Eva hatte eine neue Sorte von Bionudeln aus dem Internet bestellt, diese mussten unbedingt getestet werden, waren ja teuer genug gewesen…
Der Italienischkurs, für längere Zeit nun Mariannes Montag- und Donnerstagabendprogramm, war ausgebucht. Eva hatte sie pünktlich, fünf Minuten vor sieben, vor der Eingangstüre abgesetzt. Die fünfundzwanzig Teilnehmer, bis auf drei männliche Wesen, ausnahmslos Damen. Marianne sah sich um. Es war kein, ihr bekanntes Gesicht unter den „Mitschülern“. Mit ihren Vierzig Jahren war sie, abgesehen von einer deutlich älteren, etwas zu geschönten Lady, genau genommen, die zweite Seniorin.
Darüber staunte sie ein wenig. Es spornte sie aber gleichzeitig an, so viel als möglich, aus den zwei mal drei Stunden in der Woche zu profitieren. Der Kurs war nicht gerade billig, wurde aber von ihrer Firma bezahlt. Das hatte ihr der Seniorchef zugesagt, es sei ja Weiterbildung im Sinne der Firma. Sie fand das echt großzügig, sah es als Anerkennung und Vorschusslorbeer für ihre künftige Position als Einkäuferin. Das hob sie ein wenig ab, von den meist nur halb so alten Mitstudierenden. Die vortragende Kursleiterin, eine überaus sympathische, gebürtige Italienerin aus dem Piemont, erklärte den Programmablauf, verteilte eine Lernmappe mit gut zwei Kilo, beschriebenen Papier in einem attraktiven blauen Ringbinder. Dazu eine Box mit drei Sprach-CDs, ein Deutsch-Italienisch Wörterbuch – und zwei Reklamekugelschreiber des WIFI. Es konnte losgehen! Der Zeitplan sah vor, nach 80 Minuten lernen, 20 Minuten Pause, dann noch einmal dieselbe Zeit zu pauken.
Ihr war es recht, den rauchenden Mitstreitern, konnten die letzten, der ersten 80 Minuten, nicht schnell genug vergehen. Deren Konzentration rutschte minütlich in den Keller.
Die kalte Nachtluft erfrischte Marianne, als sie kurz nach 22 Uhr das Gebäude verließ, die neue Mappe unterm Arm.
Der Stadtteil wirkte um diese Zeit wie ausgestorben. Eine alte Wohngegend mit überwiegend drei- bis vierstöckigen, unattraktiven Nachkriegsbauten.
Was ihr an Geschäften aufgefallen war, eine Änderungsschneiderei, eine Tabaktrafik, ein, modisch sicher fragwürdiger, Friseursaloon, das war´s.
Außer ihr standen sich nur zwei junge Kursteilnehmerinnen rauchend, ebenfalls wartend die Beine in den Bauch. Sonst war, abgesehen von einem alten Mann, der seinen lustlosen Dackel Gassi führte, keine Menschenseele zu sehen. Sie schaltete ihr Handy wieder auf laut und kontrollierte eventuelle Anrufe. Nichts.
>Hallo Horst, du ich bin schon bei der Bushaltestelle, der Kurs ist ok. Ich schreib dir ein Mail, wenn ich daheim bin. Ich liebe dich, Bussi - deine Maus. <
Sendete das SMS, steckte ihr Handy ein, suchte den Fahrschein heraus. Der Bus hielt gerade, direkt vor ihrer Nase…