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Freie Mittwochnachmittage – der dritte
ОглавлениеBis auf ihre weinrote Lederjacke, hatte sie heute nur Schwarzes an. Sie liebte diese Farbe, für darunter wie für darüber gleichermaßen. Schwarz harmonierte mit ihrer gesunden Hautfarbe, ebenso perfekt, wie mit ihren dunklen Haaren. Am Montag war sie bei ihrer Friseurin gewesen. Moni hatte sich gewundert, warum sie diesmal ihre Kunst so kritisch betrachtete, sogar den einen oder anderen Wunsch, bezüglich Schnitt und Farbe geäußert hatte. Das war für gewöhnlich gar nicht ihre Art. Nach dem Warum hatte Moni nicht gefragt. Gedacht hatte sie sich dabei natürlich schon etwas, gesagt aber keine Silbe…
Der Linienbus war an diesem Morgen, voll wie immer, die Luft stickig wie meistens und der Lärmpegel hatte auch Normalniveau. Das Beste an der Fahrt war noch der Sitzplatz am Fenster, wenn auch ohne Fußfreiraum. Sie hatte ihr Handy aus der Tasche gekramt, las SMS. Nur diese von Horst, eines nach dem anderen, fing beim ersten an und endete beim aktuellsten. Schaffte es gerade, sein letztes zweimal zu lesen, dann musste sie zügig aufstehen, sich an der Türe zum Aussteigen anstellen. Die wenigen Minuten, bis zu ihrem Büro legte sie an diesem Morgen fast im Laufschritt zurück. Beim Bäcker an der Ecke erstand sie noch rasch eine Nussschnecke mit extrem dickem Zuckerguss, einen kalorienarmen Fruchtmilchdrink, ihr Mittagessen.
Im Büro war es heute angenehm ruhig. Die vorbereiteten Arbeiten ließen ihr mehr als genug Gedankenfreiraum. Die wenigen eingehenden Anrufe betrafen sie nicht persönlich, konnten alle weiter geleitet werden. Genau genommen, führte sie den ganzen Vormittag nur ein einziges längeres Telefonat, mit einem ihrer Außendienstmitarbeiter. Um 13 Uhr würde Horst sie vor dem Haus abholen. Sie wurde zusehends nervöser, aber auf diese eigentümlich, stürmische Art unruhig zu werden, das kannte sie eigentlich von sich nicht. Ihr Hochgefühl, wechselweise mit Herzklopfen und Unruhe, war viel intensiver als am letzten Mittwoch. Ihr fiel selbst das ruhige Sitzen nicht leicht, bemerkte, wie sie auf ihrem Bürostuhl mit ihrem Hinterteil Kreise beschrieb. Darüber musste sie dann doch schmunzeln. Siebzehn oder vierzig, wo lag der Unterscheid?
Sie konnte keinen logisch erklärbaren finden. Als Erklärung schrieb sie ihre Nervosität dem heute wirklich abnormal starken Föhnsturm zu, der sogar an ihrem Bürofenster rüttelte und in allen möglichen Tonlagen ein Pfeifkonzert gab. Neben Staub und Blättern wirbelte er Zeitungsfetzen und Plastiktüten durch die Luft, bildete rotierende Kreise im Hinterhof, auf den sie, ganz in ihre Gedanken versunken immer wieder hinaussah. Wenn der Bildschirm ihr zu anstrengend für diesen Tag wurde.
Was wollten sie heute Nachmittag unternehmen?
Wohin konnten sie fahren, was würde am besten passen?
Wieder ins Schlosscafé, wie beim ersten Mal?
Sie würde es vorziehen. Plötzlich schoss es ihr wie ein greller Blitz, siedend heiß in den Kopf – sie hatte ja sturmfreie Bude! Sofort verwarf sie diesen Gedanken wieder, aber er war nicht mehr aus ihren Gehirnwindungen zu vertreiben. Ganz im Gegenteil, er wurde zum alleinigen Denkmuster, immer größer, immer bunter, immer dringlicher.
Er wurde zu einem Film. Einem Film in dem Horst und sie die einzigen beiden Rollen spielten.
Sie hätte es begrüßt, wenn er einen Vorschlag, eine Idee für den gemeinsamen Nachmittag anbieten würde. Sie hoffte es inständig, ja sie betete fast darum. Wie könnte sie es schaffen, ihre Gefühle für ihn, zu unterdrücken, nicht gleich offen zu zeigen? Das würde ihr bestimmt schwer fallen.
Sollte sie eventuell leise umschreibend, daraufhin weisen, dass er bei ihrem letzten Rendezvous möglicherweise, ein wenig zu weit gegangen war? Damit hätte sie weniger Panik. Vor dem was in genau 120 Minuten passieren würde, könnte, sollte, musste, oder doch besser nicht(…noch nicht).
Die Tatsache, dass zwei Stunden gleichzeitig extrem lang sein konnten, andersherum im Nu vergingen, verursachten bei ihr wechselnde, etappenweise, rasend schnell wechselnde Gefühlsausbrüche. Ihre Handflächen waren feucht geworden, dafür ihr Gaumen trocken.
Sie trank ihren Fruchtdrink fertig, die halbe Nussschnecke konnte sie nicht mehr essen, packte sie in ihre Handtasche. Zwölf Uhr fünfzig, zeigte die winzige Anzeige, rechts unten auf ihrem Bildschirm. Sie ging auf die Toilette, prüfte im Spiegel ihr Haare, attestierte zwei rötliche Aufregungsflecken auf ihren Wangen, zog farblos ihre Lippen nach.
Durch das Fenster im Gang sah sie auf die Straße hinaus. Horst wartete bereits auf der gegenüberliegenden Straßenseite, telefonierend in seinem Auto sitzend.
Sie fuhr ihr EDV Anlage herunter, nahm Jacke und Umhängetasche, atmete einmal tief durch und marschierte, plötzlich sehr entschlossen los(wenn es sich ergeben sollte…).
Horst strahlte sie an, sein warmer Blick ließ sie, wie weiche Butter, dahinschmelzen. Zärtlich nahm er sie in den Arm. Zog sie zu sich herüber, drückte sie fest an sich, hielt sie mit seinen Armen eng umschlungen. Ihr Begrüßungskuss fiel zärtlich, innig, wie eine gegenseitige, wortlose Bestätigung aus.
>Liebes, ist das schön, dich wieder zu spüren, komm lass uns fahren. Muss endlich mit dir allein sein. Hab mich so irrsinnig auf dich gefreut! Konnte es kaum erwarten, dass es endlich 13 Uhr wird, das ewige Warten ein Ende hat. <
>Hast du lange auf mich warten müssen? <
>Nein Liebes, ich bin nur schon länger hier gestanden, konnte ohnehin den ganzen Vormittag nichts anderes tun, als an dich denken. Hast du einen Wunsch für unsere gemeinsame Zeit, Liebes? Ich würde dich gerne nur gelöst und glücklich sehen, dich nicht wieder erschrecken, wie letzten Mittwoch. Nur weil ich mich, aus lauter Sehnsucht nach dir, nicht beherrschen konnte. <
Horst hatte das zwar leichthin gesagt. Den zweiten Teil des Satzes, wollte sie aber, ganz ehrlich, nicht einmal unbedingt hören. Dass sowas ähnliches kommen konnte, hatte sie einerseits zwar gehofft, andererseits noch viel mehr befürchtet. Marianne murmelte etwas, von nicht wirklich schlimm gewesen, eigentlich ja ganz normal und so…
Er wartete sichtlich auf einen Vorschlag, eine Zielvorgabe von ihr. Dergleichen kam aber nichts über ihre Lippen. Sie fuhren über die Dörfer Straße Richtung Osten, hatten die Stadt bald hinter sich. Hier oben tobte der Föhn noch um eine Spur stärker, als in der windgeplagten City. Mit spazieren gehen war es heute also nichts. Nicht nur höchst ungemütlich, sie würden ihre eigenen Worte nicht verstehen, total unromantisch, kam also nicht in Frage. Dass Horst von Anfang an, in die gegengesetzte Richtung zum Schlosscafé aus der Stadt gefahren war, signalisierte ihr, dass er dahin heute nicht wollte, sie hatte es ja nicht ins Spiel gebracht. Sie steuerten dieselbe Waldeinsamkeit wie letzten Mittwoch an.
Plötzlich überkam Marianne eine, alle ihre guten Vorsätze, sorgsam überlegten, gedanklich durchgespielten Vorsichtsmaßnahmen, über den Haufen werfende Eingebung. Die musste sie loswerden. Konnte sich nicht dagegen wehren, zu sehr drängte sie ihr Inneres dazu:
>Fahr zu mir hinunter, stell dich wieder vorne bei der Linde hin, da ist am ehesten ein freier Platz um diese Zeit. Wir können zum Inn hinaus spazieren, da bläst fast nie der Föhn. Später bei mir etwas trinken. Ich kann dir auch Kaffee anbieten, eine halbe Nussschnecke ist auch noch übrig. <
Fügte sie gekünstelt scherzhaft, hinzu.
WOW, damit hatte Marianne selbst nicht gerechnet. War über ihre plötzliche Courage total geschockt. Waren das ihre Worte gewesen, echt ihre? Nein, sie hatte nur laut gedacht. Nur ihre Gedanken, die sich verselbständigt, in deutlich hörbare Silben verwandelt, zu Worten gefügt hatten. Die ihren Empfänger erreichten, allzu klar und deutlich sogar.
Horst strahle sie an, bremste ab, wendete und fuhr talwärts.
Der Parkplatz direkt unter der Linde, war auch heute frei. Händchen haltend schlenderten sie den schmalen Fußweg zum Fluss hinüber, wanderten ein Stück am Ufer entlang. Horst hielt ihre Hand, half ihr beim Klettern über die Böschungssteine, auf eine Sandbank hinunter. Er hob flache Steine auf, schleuderte sie ins Wasser. Sie sah ihm dabei versonnen zu. Hier am Ufer war es tatsächlich windstill, die ersten Gräser trieben hier an der Sonnenseite bereits aus der Erde. Einer der seltenen schwarzen Kormorane suchte am gegenüberliegenden Ufer essbares zwischen den Steinen. Sie waren vollkommen alleine hier unten, direkt am Wasser. Keine Spaziergänger, keine Schnüffelhunde, keine schreienden Kinder mit ihren genervten Mamas. Nur das leise blubbern des Wassers, wenn es die Steine umspülte, war zu vernehmen…
Nach etwas über einer halben Stunde, meinte Horst halb verlegen, er wäre am Verdursten. Sie fragte nicht, nach was genau er am Verdursten wäre. Schweigend, ohne ein einziges Wort zu sprechen, gingen sie, eng umschlungen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Bogen kurz vor der Linde rechts ab, über einen Grünstreifen in Richtung Haustüre. Marianne schloss auf, holte den Lift aus dem dritten Stock herunter, drückte die vier. Die Tür schloss sich, Horst sie gleichzeitig fest in seine Arme.
Vor ihrer Wohnung zogen sie ihre Schuhe aus. Sie sperrte ihr kleines Reich auf, zum ersten Mal öffnete sie es für ihn. Tasche und Jacke legte sie auf dem Highboard ab, er hing sein Sakko in der Garderobe über einen Bügel. Sie ging voraus ins Wohnzimmer, zog die schweren, rötlichen, blickdichten Vorhänge vor Balkontüre und Blumenfenster zu. Auf ihre Frage, ob er etwas zu Mittag gegessen hatte oder Durst hatte, bat er sie um ein Glas Leitungswasser. Sie ließ das Wasser aus der Leitung laufen bis es kalt genug war, füllte ihm ein Glas damit an.
Horst trank es auf einen Zug leer.
Sie hatte sich auf ihrer Couch niedergelassen. Ihren linken Fuß angezogen, unter den rechten gelegt, streckte ihm ihre Hand entgegen. Er nahm sie in den Arm, streichelte über ihren Rücken, schmuste mit ihrem Nacken, drückte ihren Wuschelkopf an sich. Zwischen gestammelten Liebeserklärungen küssten sie sich. Von Minute zu Minute immer intensiver, immer drängender liebkoste er sie. Sie hatte ihre Arme um seinen Nacken gelegt, hielt ihre Hände ineinander verschränkt. Bald hatte Horst den letzten Mittwoch total vergessen, griff mit beiden Händen nach ihren Brüsten. Ein leiser Laut kam aus ihrem Mund, aber sie schob seine Hände nicht weg, wie beim letzten Mal. Griff sich an den Rücken, öffnete den Verschluss, im gleichen Zug ihre Jeans. Dann überließ sie sich ganz seinem Mund und seinen Händen. Horst war fast von Sinnen als er ihre Bracht in seinen Händen hielt. Diese festen, voll erblühten Rosen mit ihren, dunklen, großen Knospen, hätten jeder Zwanzigjährigen alle Ehre gemacht. Ihre samtig seidige Haut, ihr makelloser Körper, ihre wunderschönen Beine, Horst war nur noch gelebtes Verlangen, unbändiges Verlangen nach einer wirklich betörenden Frau, der schönsten Frau die er jemals besitzen sollte…
Marianne begann sich aufzulösen. Verwandelte sich in weiche, in allen Neonfarben leuchtende Bälle, die durch die Luft flogen, zirkulierten, engere und weitere Kreise bildeten, aufstiegen, wieder herabsanken, sich um sich selbst drehten, immer schneller, immer rasender, bis sie sich zu einem einzigen großen leuchtenden Ball vereinigten, einem explodierenden Feuerball. Dem unvergleichbar schönsten Erlebnis, das für sie kaum noch vorstellbar, vollkommen unbeschreiblich war, gemeinsam mit Horst, als untrennbare Einheit mit ihrem Horst…
Langsam bildete sich aus dem feurigen Ball wieder ihr zuckender Körper heraus, war in seine Arme gesunken, der sie umschlungen hielt und liebkoste. Ihren ganzen, zitternden, heißen Körper küsste. Die folgenden Höhepunkte verliefen ähnlich unbeschreiblich. Jeder einzelne für sich vollständig unglaublich, berauschend, unwirklich, vollkommen erfüllend, überirdisch farbenprächtig und traumhaft schön.
Das innere Beben dieser ersten, innigen Stunden blieb ihr erhalten. Es blieb sehr, sehr lange in ihr präsent. Jahre später noch in ihren Gedanken lebendig, jederzeit wieder herzuholen, sooft sie daran denken wollte, und sie wollte oft daran denken, sehr oft sogar…
Als Horst nach 20 Uhr unendlich schwer, letztendlich aber rasch ging, war sein Traum von Siena in Erfüllung gegangen. Die Wirklichkeit hatte seine schönsten Wunschgedanken um Welten übertroffen. Marianne hatte sich, nackt wie sie war, auf ihr Couchbett gelegt, eine Hand zwischen ihre fast krampfhaft zusammengepressten Beine gedrückt, die andere auf ihre heiße Stirn gelegt. Ihr einziger Gedanke – ich dusche mich nie wieder, ganz bestimmt nicht!
Ich will Horst an mir, auf mir und in mir spüren, für immer…
Jahr der Veränderungen