Читать книгу 2020 Schöne Neue Weltordnung - Martin Zedlacher - Страница 16
ОглавлениеKapitel 3
In der BKA-Zentrale in Berlin gingen die Lichter an.
Chiara Sommer, Hauptkommissarin für Gewaltverbrechen, betrat den hell erleuchteten Gang. Dabei hallten die Schritte ihrer Stiefel durch die dritte Etage. Beim Gehen verströmte sie ein Parfum, das nach Rosen duftete. Der Mond schimmerte durch die Panoramascheibe und spiegelte sich auf dem blassblauen Fußboden. Die attraktive, vierunddreißigjährige Kommissarin trug einen langen schwarzen Wintermantel aus reiner Schurwolle. Über ihrer Schulter hing eine schwarze Ledertasche mit goldenem Verschluss. Selbstbewusst näherte sie sich einer Panzerglastür, die den Eindruck vermittelte, als würde sie jeden Raketenangriff überstehen. Sie schob ihre Erkennungskarte durch den Decoder und der Computer registrierte ihre Legitimation mit einem Piepton. Danach drückte sie die rechte Hand auf ein Display. Wenige Sekunden später wurde die Hand von einem Scanner abgetastet. Über der Konsole leuchtete ein grünes Lämpchen. Auf einem Bildschirm neben dem Display erschien ein Passfoto von Chiara Sommer mitsamt ihrer Personaldaten. Die gepanzerte Glastür öffnete sich mit einem zischenden Geräusch.
Chiara passierte die Lichtschranke und die Tür schloss sich automatisch. Vor ihr breitete sich ein langer Korridor aus, der in ein gedämpftes Licht gehüllt war. Mit geschmeidigen Schritten umrundete sie eine Biegung, blieb vor einer elektronischen Schiebetür stehen und tippte den Code ein. Danach glitt die Tür zur Seite.
Chiara trat in ihr dreißig Quadratmeter großes, geschmackvoll eingerichtetes Büro: hellblauer Veloursteppich, langer und breiter Schreibtisch aus Kirschholz, auf dem ein Computer, Telefon, Schubladenbox und eine Messinglampe standen; ein komfortabler Ledersessel, eine Ledercouch, ein Bücherregal mit Werken über die Psychologie von Serienkillern. Zwei großblättrige Farngewächse schmückten die Fensterwand. Auf einem antiken Tischchen sprudelte ein terrassenförmiger Feng Shui-Zimmerbrunnen, auf dem eine marmorne Kugel rotierte. Das plätschernde Wasser wirkte beruhigend und erfrischend zugleich. An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen Diplome, Familienfotos und einige Zeitungsausschnitte von ihrer spektakulärsten Verhaftung. Die BKA-Kommissarin war früher als üblich zur Arbeit gekommen. Das Telefongespräch mit ihrem Bruder hatte sie innerlich aufgewühlt. Letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen.
In was war Bernd wohl reingeraten?, fragte sie sich, während sie den Mantel auszog. Ein cremefarbiger Rollkragenpullover und eine elegant geschnittene schwarze Flanellhose mit goldenem Gürtel kamen zum Vorschein. Kopfschüttelnd nahm sie eine Thermoskanne aus der Tasche und schenkte sich Kaffee ein. Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube stellte sie sich ans Fenster und wärmte die Hände an der Tasse. Als sie den selbstgebrauten, leicht nach Zimt schmeckenden Kaffee aus Kolumbien genoss, bemerkte sie an der Fensterscheibe ihr Spiegelbild: ovales Gesicht, burgunderrote Lippen, kurzes blondes Haar, blaue Augen, slawisch anmutende Backenknochen. Ihr perfekt geschminktes Gesicht sah wundervoll aus, besonders wenn sie lachte. Du bist schön, dachte sie selbstgefällig und fühlte sich bei diesem Gedanken gleich um zehn Jahre jünger.
In was war Bernd wohl reingeraten?
Bei dem Gedanken bekam sie eine Gänsehaut. Bernd hatte ihr am Telefon von einem geplanten Terroranschlag erzählt, an dem angeblich Politiker aus der Bundesregierung beteiligt seien. Zudem habe er ein brisantes Dokument erhalten, das genaue Anweisungen für einen Lockdown enthielt.
Einen Lockdown, dem völligen Herunterfahren des wirtschaftlichen und sozialen Lebens hatte es bisher nicht gegeben. Das ist doch absurd! Außerdem: Was hat ein Terroranschlag mit der Corona-Pandemie zu tun?
Das Dokument soll konkrete Hinweise auf die Drahtzieher des Anschlags liefern. Chiara wollte ihm kein Wort glauben, worauf er ein Treffen am Wochenende vorgeschlagen hatte. „Schau dir das Dokument an. Bilde dir selbst ein Urteil“, hatte er gesagt, bevor er den Hörer auflegte. Bernd hatte es offenbar ernst gemeint. Sie fühlte sich nach dem Gespräch plötzlich sehr unbehaglich.
Warum geht er damit nicht gleich zu seinem Führungsoffizier beim BND?, dachte sie und nippte am heißen Kaffee. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war trotz gelegentlicher Meinungsdifferenzen von geschwisterlicher Fürsorge geprägt. Beide waren Workaholics und Singles. Karriere war ihnen wichtiger als Partnerschaft, Ehe oder Familie. Die Vorliebe fürs Alleinsein geriet nur einmal ins Wanken, als ihr ein Börsenspekulant aus Frankfurt über den Weg gelaufen war. Die Affäre war aber nur von kurzer Dauer gewesen. Nach der Trennung hatte sie sich wieder in die Arbeit gestürzt. Schon als Kind spielte Chiara am liebsten Räuber und Gendarm. „Wenn ich einmal groß bin, werde ich Kommissarin“, hatte sie zu ihrem Vater gesagt, der die Aussage seiner Tochter für naive Schwärmerei hielt. „Natürlich, mein Liebes. Aber jetzt erledige erst einmal deine Hausaufgaben.“ Nach der Matura am Humboldt-Gymnasium in Berlin verwirklichte Chiara ihren Traum und absolvierte ein Fachhochschulstudium und schloss mit dem Bachelor ab. In einer Spezialausbildung durchwanderte sie die Abteilungen zur Aufklärung von Gewaltverbrechen, Staatsschutz, Schießausbildung, asiatische Kampftechniken, Grundlagen der Psychologie und Strafrecht. Den Abschluss zur Kriminalkommissarin schaffte sie mit Bravour.
Nach einem weiteren Schluck Kaffee wandte sich Chiara den Akten zu: Entführungen, Raubmorde, Serienmorde, Vergewaltigungen mit Todesfolge. Es handelte sich vorwiegend um Fälle, die bereits einige Zeit zurücklagen und nicht aufgeklärt werden konnten. Ihre Aufgabe beim BKA bestand darin, Täterprofile zu erstellen und sich mit den ermittelnden Beamten sowie Angehörigen der Opfer in Verbindung zu setzen. Manchmal entwickelte sich daraus eine heiße Spur, die dann weiterverfolgt wurde. Doch es war zumeist eine Sisyphusarbeit.
Chiara Sommer war in mancher Hinsicht anders als die Kolleginnen beim BKA-Berlin. Zum einen hatte sie den Sonderstatus, Profilerin und Ermittlerin in einer Person zu sein. Zum anderen war sie das, was man eine starke Persönlichkeit nannte. Vor Selbstbewusstsein strotzend war sie manchmal in ihrem Übereifer kaum zu bremsen. Die Erfolgsbilanz bei der Aufklärung von Morddelikten war bemerkenswert, wenn auch etliche Fälle, die auf dem Schreibtisch landeten, ungelöst blieben. Bernd verglich sie mit einer Amazone, jenen kriegerischen Asiatinnen, die im griechischen Mythos an der Seite der Trojaner kämpften. Sie konnte sich nur schwer unterordnen, was ihre Vorgesetzten als Eigensinn oder Disziplinlosigkeit werteten. Nicht selten ging sie mit dem Kopf durch die Wand. Aber sie konnte aus wenigen Verhaltenskriterien ein treffendes Persönlichkeitsprofil eines Gesuchten erstellen. Mit diesem Talent war es ihr gelungen, den Serienkiller Dr. Frank Cacek, der die Bevölkerung jahrelang in Atem gehalten hatte, im Alleingang festzunehmen. Sie lockte Cacek – dem zumindest neun Morde nachgewiesen werden konnten – in einen Hinterhalt, indem sie sich als Prostituierte ausgegeben hatte. Cacek durchschaute ihre Absicht und schlitzte ihr mit einem Skalpell beinahe die Kehle auf. Nach einer dramatischen Kampfhandlung gelang es ihr, den Killer mit gezielten Schüssen zu eliminieren.
Durch diese aufsehenerregende Liquidation wurde Chiara Sommer zu einer Berühmtheit. Sie stand wochenlang im Blickpunkt der Öffentlichkeit, erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter auch eine vom Innenminister. Auftritte im Fernsehen, Interviews im Radio und zahlreiche Zeitungsartikel im In- und Ausland machten sie weltweit populär. Seit diesem Ereignis erhielt sie regelmäßig Anrufe oder E-Mails von Kollegen, die bei den Recherchen auf der Stelle traten und von ihr fachlichen Rat einholten. Gerüchten zufolge sollte sie nächstes Jahr den Posten einer Polizei-Direktorin übernehmen.
Zurzeit befasste sich Chiara mit einem brutalen Mord. Der Leichnam war in einem Waldstück von Spaziergängern entdeckt worden. Der Mann wurde von den örtlichen Behörden als Günther Lehmann, 48 Jahre, Bundestagsabgeordneter aus Leverkusen, identifiziert. Die Rekonstruktion des Tathergangs ergab, dass Lehmann auf dem Nachhauseweg überfallen, dann geflüchtet und später in ein Fahrzeug gezerrt worden war. Dem Opfer war es gelungen, in den Wald zu fliehen. Die Spurensicherung hatte Stofffetzen von Lehmanns Hemd an Sträuchern sichergestellt. Ungefähr einen Kilometer in östlicher Richtung fand die forensische Abteilung bei einer Telefonzelle Blut- und Hautpartikel des Opfers. Die Reifenabdrücke in der Nähe des Tatorts konnten aufgrund der nachfolgenden Regenfälle nicht ausgewertet werden. Günther Lehmann war brutal gefoltert worden. Indizien dafür waren gebrochene Rippen, Hämatome im Gesicht, Abschürfungen an Hand- und Fußgelenken sowie eine Schädelfraktur. Der DNA-Test brachte keine brauchbaren Hinweise, weil die Leiche zu lange im Wald gelegen hatte. Eine Blutanalyse ergab Rückstände einer schmerzstillenden Droge. Der Gerichtsmediziner gab als Todesursache an, dass Lehmann an den Folgen der Gewaltanwendung gestorben sei. Mit akribischer Genauigkeit studierte Chiara die Unterlagen, verglich Gemeinsamkeiten aus ähnlichen Fällen im Fahndungscomputer des BKA, überlegte, wen sie zuerst kontaktieren sollte. Die beigefügten Fotos vom Fundort der Leiche ließen sie erschaudern. Vor allem die halb geöffneten Augen des Mannes. Sie kannte diesen Ausdruck von anderen Mordopfern. Lehmann musste Höllenqualen ausgestanden haben, bevor er getötet worden war.
Ich werde euch festnageln. Darauf könnt ihr euch verlassen, schwor sie und begann ein Täterprofil in den Computer zu tippen.