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Kapitel 11

Chiara Sommer konnte es kaum erwarten, ihren Bruder am Berliner Flughafen abzuholen. Bis zu seiner Ankunft hatte sie noch knappe drei Stunden Zeit. Sie hatte Bernds Lieblingsspeise Pasta Asciutta mit Gemüsesoße vorbereitet. Im Kühlschrank stand eine Flasche Lambrusco. Seit gestern Abend hatte sie mindestens ein dutzend Mal versucht, Bernd telefonisch und per E-Mail zu erreichen. Vergebens. Das beklemmende Gefühl, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, wuchs mit jeder Minute. Sie spürte eine dunkle Vorahnung in sich aufsteigen. Bevor Chiara zum Flughafen fuhr, unternahm sie einen weiteren Versuch, ihn zu erreichen. Zu ihrer Überraschung meldete sich gleich beim ersten Klingelzeichen eine fremde Stimme mit bayerischem Dialekt.

„Hallo? Mit wem spreche ich?“

„Wer sind Sie?“

„Hier ist Kommissar Dirk Reinhardt vom LKA-München. Wer ist am Apparat?“

„Chiara Sommer.“

„Seine Schwester?“

„Ja.“

Reinhardt hielt erstaunt inne. „Das muss Gedankenübertragung sein. Ich wollte Sie gerade anrufen.“

„Weshalb?“

„Nun ja …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Chiara schlug das Herz bis zum Hals. Sie kannte diese Floskel aus ihren eigenen Ermittlungen, versuchte sich gegen das Kommende zu wappnen. „Ich habe leider eine schlimme Nachricht für Sie. Ihr Bruder hat wahrscheinlich Selbstmord begangen. Es tut mir leid.“ Chiara hob eine Hand an den Mund, als wolle sie einen Aufschrei unterdrücken. Ihre Unterlippe zitterte und ihre Augen wurden feucht. Nervös suchte sie nach einem Taschentuch, konnte aber keines finden. Reinhardt spürte ihre Verzweiflung. „Frau Sommer?“

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dauerte ziemlich lange. „Das muss ein Irrtum sein. Eine Verwechslung.“

Chiaras Stimme klang brüchig.

Sie hatte das Gefühl, der Boden würde unter ihren Füßen nachgeben.

„Ich wünschte, es wäre so. Aber die Umstände sehen leider anders aus. Fühlen Sie sich imstande, mir einige Fragen zu beantworten?“

Einige Sekunden verstrichen.

„Was wollen Sie wissen?“, fragte Chiara schließlich, verwirrt und zutiefst erschüttert.

„Hatte Ihr Bruder psychische Probleme?“

„Nein, wie kommen Sie darauf?“

Reinhardt gab keine Antwort. „War er emotional labil?“

„Emotional labil?“

„Ging er zu einem Therapeuten?“

„Nein, das heißt ja. Er hatte vor Jahren eine Angstphobie, aber soviel ich weiß, ist er davon geheilt.“

„Was können Sie mir über seine Beziehung zu Sabrina Corelli sagen?“

Chiara runzelte die Stirn. Selbstmord aus Liebeskummer? Niemals!, dachte sie. „Sabrina war seine Verlobte.“

„Sie hatte ihn verlassen, nicht wahr?“

„Moment mal, Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass er sich wegen dem Flittchen …?“

„Sieht aber so aus.“

Chiara spürte einen Kloß im Hals, das Sprechen fiel ihr schwer. „Wie hat er …?“

„Na ja, wir haben noch keine Leiche, aber einige handfeste Beweise, die vermuten lassen, dass er sich was angetan hat. Unter anderem hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen.“

Chiara atmete auf, denn die Hoffnung bestand, dass Bernd noch am Leben war. Langsam erholte sie sich vom Schrecken. Vermutlich ist er untergetaucht. Hat sich aus dem Staub gemacht, weil der Boden zu heiß war. Deshalb konnte ich ihn auch nicht erreichen. „Hören Sie, Kommissar Reinhardt! Ich würde gerne nach München kommen.“

Reinhardt schwieg kurz, dann sagte er: „Sie wollen sich doch nicht an den Ermittlungen beteiligen. Das wäre gegen die Vorschrift.“

„Nicht offiziell. Ich möchte mir vor Ort ein Bild machen. Das ist alles. Sie wissen, dass ich BKA-Kommissarin bin?“

„Natürlich“, erwiderte Reinhardt. „Ich habe Sie im ZDF, Aktenzeichen XY gesehen. Sie sind eine Berühmtheit, weil Sie den Serienkiller Dr. Frank Cacek zur Strecke gebracht haben. Wann können Sie da sein?“

Chiara fühlte sich geschmeichelt. „Früher Nachmittag, schätze ich.“

„Gut. Ich gebe Ihnen die Nummer vom LKA-München. Wenn Sie am Flughafen ankommen, rufen Sie mich an. Sie werden von uns abgeholt.“

Chiara bedankte sich, griff rasch nach einem Kugelschreiber und notierte die Nummer. Hinterher rief sie ihren Vorgesetzten an, der ihr, ohne nach dem Grund zu fragen, eine Woche Urlaub genehmigte. Anschließend buchte sie übers Internet den nächsten Flug nach München.

2020 Schöne Neue Weltordnung

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