Читать книгу Wie aus dem Ei gepellt ... - Martina Meier - Страница 17

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Das schwarze Ei

Die fröhliche Maja war seit ihrer Geburt blind. Darunter litt die Neunjährige kaum. Einzig beim Herumtoben im Freien brauchte sie Begleitung. Mal war es ihr älterer Bruder Mika oder ihre Mama, die sie zum nahen Spielplatz begleiteten. Sogar das Fahrradfahren beherrschte Maja. Unbändig stolz war sie gewesen, als Papa ihr das beigebracht hatte. Und wie sie das Rutschen und Klettern liebte!

Im Sommer, Herbst und Winter war Majas Welt in Ordnung. Traurig wurde Maja, wenn der Frühling nahte und mit ihm das Osterfest. Begeisterte sich doch dann alle Welt für die sprießende Natur. Erfreuten sich an blauen Traubenhyazinthen, Beeten mit roten Tulpen genauso wie an den gelben Narzissenfelder. Solche bunten Bilder blieben Maja fremd. Ebenso wenig konnte sie sich etwas Kariertes, Gestreiftes oder Einfarbiges vorstellen. Die Kleiderauswahl übernahm von klein auf ihrer Mutter. Majas Nase und ihre Ohren waren ihre Augen. Dennoch blieben Farben ihr ein unbekanntes Universum.

Von Jahr zu Jahr verwünschte sie den Frühling und das Osterfest mehr und mehr. Der Feststimmung an Ostern hätte sie sich am liebsten durch Flucht entzogen. So sehr sich ihre Eltern und Mika auch bemühten, ihr die Farben zu erklären, es blieb in ihrem Kopf dunkel. Wähnte sich Maja allein, hörten sie Maja oft genug sagen: „Mein größter Wunsch wäre es, ein einziges Mal ein Gelb, ein Grün, ein Blau, ein Rot, ein Pink zu sehen.“

Das stimmte in ihrer Familie alle traurig. Und nun stand Ostern wieder vor der Tür. Mika hatte eine Eule als Jungvogel aufgepäppelt, die sich in seinem Zimmer einquartiert hatte und nichts vom Wald wissen wollte. Diese Eule hörte auf den Namen Till und wich kaum von Mikas Seite.

An einem Nachmittag stand Majas Zimmertür ein spaltbreit offen. So wurde Mika Zeuge, wie sie sich bei ihrem Stoffhasen beklagte, niemals die bunte Welt kennenzulernen. Mika sah Tills Getrippel auf seinem Schreibtisch zu. Er schob ein Buch beiseite, stützte sein Gesicht in beide Hände und wirkte ratlos.

Ein Seufzer entwich seiner Brust. „Ach, Till. Was könnte ich tun, um Maja ein einziges Mal die Farben zu zeigen?“

„Suche den Ostervogel und bitte ihn um ein schwarzes Ei.“

Mika glaubte, Ohrensausen zu haben. Oder Halluzinationen. Das konnte unmöglich Till gewesen sein, der da gesprochen hatte. Träumte er? Noch bevor er Till fragen konnte, löste dieser das Rätsel: „Wenn der Wunsch, anderen zu helfen, aus tiefem Herzen kommt, können wir eure Sprache verstehen und sprechen.“

Mika meinte: „Mann, Till. Ich fass’ es nicht. Mein Till kann sprechen!“ Mika wollte auf der Stelle zu Maja, um ihr davon zu berichten. Die Nachricht käme einer Sensation gleich.

Doch Till warnte: „Du darfst zu niemandem ein Wort darüber verlieren. Zu niemandem.“ Dann erklärte Till, was es mit dem Ostervogel und dem schwarzen Ei auf sich hatte: „Schwarze Eier sind sehr selten und äußerst schwer zu finden. In ihnen befinden sich sämtliche Farben der Welt. Hält ein Blinder ein solches Ei in Händen, wird er durchströmt von den darin befindlichen Farben.“ Hier machte Till eine Pause, ehe er fortfuhr: „Also wird er die Farben sehen können. Und dieser Zauber entfaltet sich nur in der geheimnisvollen Osternacht.“

Mit offenem Mund hatte Mika Tills Ausführungen gelauscht. Hoffnung machte sich in ihm breit. „Und werden Blinde dadurch wieder sehend?“

„Nein, sie bleiben weiterhin blind. Es wird ihnen ein einziges Mal der Wunsch erfüllt, Farben zu sehen, ein Wunsch, den viele Blinde haben. Und dieses Erlebnis werden sie ein Leben lang nicht mehr vergessen genauso wenig wie die Farben.“

Mika überlegte. Morgen war schon Ostersonntag. Würde er es noch schaffen, das schwarze Ei zu suchen? Für einen Moment lang hegte er Zweifel, die er beiseite wischte und fragte: „Till, wo finde ich dieses schwarze Ei?“

Till erklärte: „Folge in der Osternacht dem Bim, Bim Bam, Bam, Bim, Bim der Osterglocken. Sie weisen dir den Weg.“

Mika kannte nur Kirchenglocken. „Was sind Osterglocken?“

„Es sind Blumen, die um die Osterzeit herum blühen.“ Er rief Mika ans Fenster: „Sieh dort unten die gelben und weißen Blumenbüsche. Solche wachsen ebenso in Parks und auf Wiesen. Ihr Geläut führt dich zum Ostervogel.“ Es war, als könnte Till Gedanken lesen. „Der Ostervogel vertraut nur Kindern das schwarze Ei an. Keinem Erwachsenen. Und nur Kinder sind in der Lage, das Läuten der Osterglocken zu hören.“

Somit hatte sich Mikas Wunsch, ein Elternteil könne ihn zum Ostervogel begleiten, zerschlagen. Nach einem „Mach dich auf den Weg“ war kein Ton mehr aus Till herauszubringen.

Am Himmel lugte ein halber Mond auf die Erde herab, als Mika aufbrach. Sich ohne Wissen seiner Eltern davonschlich. Er schlug den Weg zu den Wiesen und Felder ein. Vorbei am Waldrand, wo der Nachtvogel sein Revier durchstreifte. Mit gespitzten Ohren horchte Mika in die Nacht. Außer einem brummenden Flugzeug und Geraschel im Unterholz vernahm er nichts. Von einem Bim, Bim, Bam, Bam, Bim, Bim kein Ton. Mika lief weiter. Immer weiter. Längst hatte er die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo er sich befand. Nichts als Stille und Dunkelheit um ihn herum. Ihm war unheimlich und sein Mut schwand dahin.

Dann, er traute seinen Ohren kaum, als von fern ein zartes Geklingel ertönte, das stärker und stärker wurde. Aufgeregt lief Mika dem Läuten entgegen. Immer geradeaus. Dieses Geläut schwoll zu glockenheller Musik an, die so lieblich in seinen Ohren tönte. Und plötzlich war es taghell geworden. Mika war überwältigt. Soweit er blicken konnte, nichts als blühende Osterglocken, die ihre Blütenköpfe hin und her schwangen. Im Takt des Bim, Bim, Bam, Bam, Bim, Bim.

Dann erblickte er den Ostervogel, der Ähnlichkeit mit einem Pfau zu hatte. Gebannt sah Mika dem Ostervogel entgegen, wie er in majestätischer Manier und buntem Gefieder durch die Blumenreihen schritt, die sich vor ihm verneigten. „Willkommen Mika im Reich des Ostervogels. Du möchtest deiner Schwester einen Wunsch erfüllen?“

„J-j-j-ja“, stammelte Mika. „Ich … ich möchte für meine Schwester ein schwarzes Ei abholen.“

Der Ostervogel lächelte ihm wissend zu. „Komm mit.“

Gemeinsam durchschritten sie die Blumenfelder, bis sie vor einer tiefen Mulde haltmachten. Die Mulde war vollständig ausgekleidet mit den Federn des Ostervogels und darin lagen drei schwarze Eier so groß wie Pfaueneier. Der Ostervogel entnahm dem Nest vorsichtig ein Ei und überreichte es Mika. „Für deine Schwester.“

Mikas Hände zitterten, als er das schwarze Oval mit seinen Fingern umschloss, diesen unendlich kostbaren Schatz. Seine kleinen Hände bargen die Farben der Welt, die er Maja zu Ostern schenken würde.

Katharina Britzen, geboren 1954, lebt derzeit in Irrel, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne und zwei Enkelkinder. Veröffentlicht hat sie schon einige Beiträge in Heimatkalendern, Jahrbüchern und in verschiedenen Anthologien.

Wie aus dem Ei gepellt ...

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