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Der Duft der Sterne

Es war einmal im Februar … Lotte hatte ein Geheimnis. Ein Geheimnis aus ihrer Kindheit. Obwohl sie inzwischen längst erwachsen war.

Das Geheimnis war der Duft der Sterne. Die nur für sie leuchteten und sichtbar wurden. Manche behaupteten, Sterne seien nicht mehr als Helium und Wasserstoff. Lotte wusste es besser. Sie besaß ihre eigene Milchstraße und nannte sie Lotupia. Keinem einzigen Menschen hatte sie dies je anvertraut.

Die Sterne machten sie auf ihre spezielle Art zu einer anderen. Einer anderen Lotte, als ihre Familie sie kannte. Dieses Wissen behütete sie wie einen kostbaren Goldschatz. Eines Tages würde sie ihrem Mann und ihren Kindern davon erzählen. Vielleicht behielt sie es aber auch für sich und schrieb stattdessen eine ihrer Geschichten. Lotte sah und roch die Sterne nicht nur. Die Sterne kamen sie besuchen …

Lotte musste nur warten und nicht ungeduldig werden. Wenn der Sternenstaub am Abend sanft an dem knorrigen Fenster anklopfte, wusste sie es. Dass sie da sein würden. Heute Nacht.

Manchmal war Emma Polaris die Erste, manchmal Felix, das Faultier, oder auch der alte Dackel Buck. Und all die anderen, die aus ihrem Leben gegangen waren, aber zusammen am Himmel auf sie warteten. Emma war mal wieder im Polarexpress auf abenteuerliche Unternehmungen aus und teilte Lotte lautstark ihren Unmut darüber mit, dass Felix und der alte Joe einfach solche Spaßbremsen waren. Emma war auch auf der Erde eine lebhafte und zauberhafte Freundin gewesen. Die beste. Bis es sie viel zu früh zu den Sternen zog. Vielleicht war Emma aber den Sternen schon immer näher gewesen als andere …

Emma baute ihr jedes Mal eine Sternenleiter und so gingen die beiden auf ihre unzähligen Abenteuerreisen. Hüpften von Stern zu Stern und sprangen von Planet zu Planet. Nichts war vor ihnen sicher und ihre Freundschaft schuf ein über den Horizont entstehendes Band.

Lotte kuschelte sich an ihre Freunde, ging zuerst mit der ungezähmten Emma auf Reise. Flüsterte danach mit Felix, dem süßen Stofftier, der mal wieder ein Auge verloren hatte, was sie ihm zum gefühlt tausendsten Mal liebevoll annähte. Mit Joe ging sie Stöckchen werfen und fragte ihn, ob er sich an den Jungen ihrer Kindheit erinnerte. Der, welcher eine hübsche Pudelhündin hatte. Der alte Buck wurde bei den Gedanken plötzlich jung und wedelte wie verrückt.

Nun waren fast alle ihre Lieben – ihre Sterne – da. Nach und nach gekommen. Lotte nahm sich Zeit. Für jeden, der auf Besuch kam und ihr die besonderen Augenblicke schenkte. Für jeden, der Sehnsucht nach ihr hatte. Mit manchen saß sie am Lagerfeuer und schwelgte in alten Zeiten. Mit anderen schuf sie neue Erinnerungen. Mit manchen lachte sie, mit manchen weinte sie und mit manchen tanzte sie.

Später erschien ihre Oma und mit dieser hängte sie die Wäsche auf und strich diese so glatt, wie es Oma ihr immer gezeigt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie kochten zusammen und Lotte las Oma aus dem Märchenbuch vor, was einst die Oma ihr vorgelesen hatte. Deren ausgeglichene Art spiegelte sich in Lottes Charakter wider. Oma wurde nach dem Zuhören immer müde und fing an zu frieren. Dann legte Lotte Oma ihre Lieblingsdecke um, umarmte sie fest und schickte wie wieder hinauf zu den Sternen.

Lotte schrieb manchmal. Nachts im Dunklen auf der grünen Wiese. Mit Taschenlampe und – mittlerweile – einer Lesebrille auf der Nase. Sie schrieb, was die Sterne ihr erzählten. Der Duft der Sterne umhüllte Lotte wie die Glasur eines Kuchens. Lotte fühlte sich frei mit ihnen. Konnte sich ausprobieren und austesten. Das war schon immer so.

Als letzter Stern tauchte stets ihr Vater auf. Zärtlich strich er ihr über den Kopf: „Du weißt doch, dass ich bis in dein Bett leuchte. Immer.“

„Ich weiß, Papa, doch ich fühle mich dir nirgends näher als hier, barfuß im Kleid, den Sternenhimmel über uns … An keinem anderen Ort bin ich mehr Lotte.“ Sie wiegten sich im sanften Sternenwind. Ihr Vater küsste sie zärtlich auf beide Wangen und drehte seinen Blick hoch zu den Sternen.

„Warte, Papa! Manchmal weiß ich gar nicht, wer ich wirklich bin …“

Ihr Vater legte seinen warmen Zeigefinger kurz auf Lottes Nasenspitze: „Du bist Lotte. Lotte aus Lotupia …“

Am liebsten stand sie danach in ihrem langen roten Kleid barfuß auf der Wiese. Ihr braunes Haar flatterte in sanften Wellen. Tiefseelig atmete sie den Duft der Sterne ein und streckte ihre Arme hoch hinaus, konnte sie spüren.

Einen ganz großen Stern und lauter kleine sonnige Monde schimmerten um ihn herum. Alles floss durch sie hindurch. Ihre Seelen. Liebe, Freundschaft, Trauer und Glück.

Lotte behauptete, wer sich nicht Zeit für die Sterne nahm, der nahm sich für nichts Zeit. Und vielleicht hat sie ja recht …

Denn Sterne sind wie Träume. Du kannst sie zwar nicht immer sehen, doch hören sie nie auf, in deinem Herzen zu funkeln …

Ramona Wesselow-Krystosek lebt mit ihrer Familie in Zürich. Die gebürtige Berlinerin findet im Schreiben den ausgleichenden Kontrast zur beruflichen Finanzbranche. Bisher lag der Fokus auf Kurzgeschichten. Sie bezeichnet sich als genre-offen und interessiert – an allen Dimensionen des Schreibens bis hin zur Lyrik. 2021 wird ihr Schreibfederkleid mit dem Kinderbuch „Alex’ Reise nach Saphora“ erstmals sichtbar.

Wünsch dich ins Märchen-Wunderland

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