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Samuel und Caspar
Es war einmal ein kleiner Hirtenjunge, sein Name war Samuel. Er lebte in der Nähe von Bethlehem zusammen mit einigen anderen Hirten und den Schafen auf den Weiden. Samuel war sehr traurig, die anderen Hirten waren raue Gesellen und bis auf den alten Jakob nicht gut zu ihm. Außer dem alten Mann gab es niemanden, der sich um ihn kümmerte. Selbst seine Mutter nicht, für die war er eine Last und deshalb hatte sie ihn zu den Hirten gebracht.
Und so saß Samuel wieder einmal in einer kalten Nacht am Feuer, das er bewachen sollte, und grübelte. Da war doch in seinem Kopf und auch in seinem Herzen ein kleiner Funke Hoffnung. Er hatte etwas Großes erleben dürfen, den Besuch an der Krippe, gleich nach der Geburt des Jesuskindes, von dem man sagte, dass es der Retter der Welt sei.
Es waren noch andere Besucher im Stall von Bethlehem gewesen. Da waren drei Männer, man sagte, sie kämen aus dem Morgenland. Prächtige Gewänder trugen sie, nicht so dreckige stinkende Lumpen wie er und die anderen Hirten. Wertvolle Geschenke hatten sie dem Jesuskind mitgebracht, Weihrauch, Myrrhe und Gold. Es mussten schlaue reiche Leute sein. Einer von ihnen fiel Samuel besonders auf. Er hatte eine ganz dunkle Hautfarbe, so einen Menschen hatte Samuel noch nie gesehen. Die anderen Hirten hatten ihn auch bemerkt und machten sich lustig über ihn. Das fand Samuel nicht gut, er ging zu dem dunkelhäutigen Mann und wollte ihn trösten.
„Mach dir nichts daraus, sie wissen es nicht besser“, sagte er, „mich hänseln sie auch immer. Darf ich dich etwas fragen: Wo kommt ihr her, wer seid ihr und warum siehst du so anders aus?“
Der dunkle Mann lächelte und begann zu erzählen: „Ich bin Caspar, die beiden andern heißen Melchior und Balthasar. Wir kommen aus dem Morgenland und sind einem Stern gefolgt und der hat uns hierhergeführt zum Jesuskind. Weißt du, jeder Stern am Himmel hat eine Aufgabe. Oft nur eine ganz kleine, manchmal eine größere und dieser Stern hatte eine ganz große wichtige Aufgabe. Du siehst so traurig aus, was ist los, willst du es mir erzählen?“
Samuel war erstaunt, wie kam es, dass dieser fremdländische Mann bemerkte, dass es ihm nicht gut ging. Er fasste sich ein Herz, berichtete von seiner Mutter, die ihn nicht haben wollte, von Hirten, die ihn ausnutzen, auslachten und herumkommandierten. Und er erzählte sogar von seinem größten und geheimsten Wunschtraum, das Schreiben zu erlernen und ein gebildeter, wohlhabender Mann zu werden.
Caspar hatte gut zugehört und sprach: „Es gab vor einigen Jahren einen Jungen, ungefähr so alt wie du, nennen wir ihn Ben, dessen Geschichte möchte ich dir erzählen. Da, wo er lebte, war es gerade für Kinder sehr gefährlich. Böse Männer aus einem fernen Land, in dem es Kannibalen gab, waren gekommen, um kleine Jungen zu entführen. Bens Eltern wollten ihren Sohn schützen und gingen mit ihm an den großen Fluss, der nordwärts zum Meer fließt, zu einem Mann mit einem Boot. Dem gaben sie viel Geld und der Mann brachte Ben und noch einige andere Kinder in eine große Stadt am Meer. Da stand er, ohne Geld und ohne Essen. Was nun? Er irrte ein paar Tage durch die Stadt, klaute sich etwas zu essen und schlief in dunklen Ecken. Schließlich traf er einen Mann, eine finstere Gestalt. Der wollte Güter, die auf einem Boot im Hafen angekommen waren, durch die Wüste ostwärts an einen der größten Flüsse des Morgenlandes bringen. Dafür suchte er Kamele und Helfer und einen Jungen der nachts auf die Kamele aufpasste. Und dieser Junge sollte Ben sein. So zog er also mit der Karawane durch die Wüste und hatte wenigstens etwas zu essen. Die Männer waren nicht gut zu ihm, hänselten ihn, weil er so eine dunkle Haut hatte, ganz anders als alle andern aussah und er ihre Sprache nicht verstand. Wenn er nachts Wache hielt, kamen wilde Tiere oder Räuberbanden, welche die Karawane überfallen wollten. Ben musste höllisch aufpassen und rechtzeitig die anderen warnen. Zum Glück gelang ihm das immer. Wenn es ruhig war und er am Feuer saß, versuchte er, die fremde Sprache zu lernen. Als sie nach vielen Tagen in der Stadt am großen Fluss ankamen, stand dort ein Herr, der die Waren haben wollte. Ben half ihm, die Güter in sein Haus zu tragen, und machte sich gleichzeitig große Sorgen, weil er nicht wusste, wie es mit ihm weitergehen sollte. Das musste der Herr bemerkt haben, denn plötzlich bot er ihm einen Platz in seinem Hause an. Leichte Arbeiten und Botengänge sollte er verrichten, weil er so fleißig und so geschickt war. Von nun an ging es Ben gut und es kam noch besser. Eines Tages meinte der Herr, er hätte bemerkt, dass Ben ein intelligenter Junge sei und es wäre doch gut, wenn er schreiben und lesen lernte. Und er brachte ihn in ein Haus, das fast ein Palast war, dort gab es Gelehrte und Jungen, die etwas lernen wollten. Es waren Söhne von wohlhabenden einflussreichen Menschen und wieder bekam Ben zu spüren, dass er anders aussah und aus einem fremden Land kam, diesmal waren es Neid und Missgunst. Aber Ben ließ sich nicht beirren, er lernte schnell und viel. Die Sternenkunde interessierte ihn besonders. Es dauerte nicht lange, bis einer der wichtigsten Sterndeuter weit und breit war. Er wurde wohlhabend und hatte ein eigenes Haus und gab sein Wissen weiter, ohne etwas dafür zu verlangen. Jungen, die in Not waren, wurden seine Schüler. Ab und zu ging er mit anderen Sterndeutern einem Stern nach.“
Caspar holte tief Luft, bevor er weitersprach: „Ich muss nun gehen, Balthasar und Melchior wollen weiterziehen. Ich wünsche dir alles Gute und dass du aus deiner kläglichen Lage herauskommst. Denk mal über die Geschichte von Ben nach.“
Die Nacht war fast herum und Samuel hatte etwas beschlossen. Je länger er nachdachte, umso mehr wurde ihm klar, dass Caspar seine eigene Geschichte erzählt hatte und ihm Hoffnung machen wollte. Ben war nun bereit, sein kümmerliches Leben bei den Hirten aufzugeben und loszuziehen in eine hoffnungsvollere Zeit.
Der alte Jakob war aufgewacht und kam zu ihm. Samuel fragte: „Jakob, wo ist das Morgenland?“
„Im Osten“, antwortete Jakob, „da, wo gerade die Sonne aufgeht, deshalb heißt es Morgenland.“
„Dann gehe ich jetzt der Sonne entgegen“, sagte Samuel. „Schalom Jakob.“
Margret Küllmar, geb. 20.06. 1950, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Nordhessen, nach der Schule Ausbildung in der Hauswirtschaft, dann Lehrerin an einer Berufsschule, jetzt im Ruhestand, schreibt Kurzgeschichten und Gedichte. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und von drei eigenen Lyrikbänden.