Читать книгу Zuagroast - Martina Parker - Страница 12

Kapitel 5
Finz

Оглавление

Oxytocin gilt als das Hormon, das uns vertrauen lässt. Das Kuschelhormon findet sich nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Pferden, Ziegen und – Goldfischen. Somit ist die Ähnlichkeit zwischen Mensch und entwicklungsgeschichtlich weit entfernten Tieren vermutlich größer, als bislang angenommen.

Jeder Mensch hat eine besondere Begabung. Eine Stärke, Fähigkeit oder Leidenschaft, die seinen X-Faktor bestimmt. Etwas, das ihn einzigartig macht.

Veras X-Faktor war es, Menschen mit ihren Texten zu berühren, Johannas X-Faktor war ihr grüner Daumen, Evas X-Faktor war, dass sie durch ihre Sensibilität viel mehr wahrnahm als andere Menschen. Der X-Faktor von Serafin, den alle nur Finz nannten, war Sex.

Es war ihm lange nicht bewusst gewesen, dass er ausnehmend gut im Bett war. Wie hätte er sich auch messen und vergleichen sollen? Er merkte es einzig an den Reaktionen der Frauen, mit denen er schlief, die ihm eher früher als später allesamt verfielen. Sogar und gerade die, die ihn zuvor überheblich behandelt und unterschätzt hatten.

Tatsächlich war an Finz auf den ersten Blick nichts Besonderes. Ein Phantombildzeichner hätte wohl lange vergeblich nach seinen speziellen Merkmalen gefahndet. Finz war mittelgroß, mittelschwer, hatte mittelbraunes Haar. Er war weder besonders schön noch besonders hässlich. Er war fast schon auffällig unauffällig. Aber wenn es um Erotik ging, machte ihm niemand etwas vor. Er konnte Frauen lesen wie ein Buch. Er spürte ihre Wünsche, noch bevor die Frauen sich dieser bewusst waren. Wenn er mit ihnen intim war, ließ er sich von ihrem Atem leiten. Dieser verriet ihm immer, was den Frauen gefiel. Er fachte ihre Lust an, und statt sie zu erlösen, ließ er sie für eine gefühlte Ewigkeit in brennender Agonie schweben. Er weckte unbändiges Verlangen und ließ sich jede Menge Zeit, um dieses zu stillen. Und wenn er es dann endlich tat, führte er die Frauen zu orgiastischen Gipfeln und erotischen Abgründen, die jenseits ihrer bisherigen Vorstellungskraft lagen.

Alle Frauen reagierten auf den Sex mit Finz auf die gleiche Weise: Sie verwechselten Lust mit Liebe. Sie wollten es noch mal erleben, und noch mal und noch mal. Ihre Geilheit überschritt durch Finz’ X-Faktor alle Grenzen. Die Frauen taten schon nach kürzester Zeit Dinge mit ihm, die sie sich niemals hätten träumen lassen. Das schockierte sie. Und deshalb suchten sie nach einer Lösung, um das, was sie taten, vor sich selbst moralisch zu rechtfertigen. Der Ausweg hieß Liebe. Jede einzelne Frau, die Finz vögelte, verliebte sich in ihn. Und jedes Mal geschah es mit einer Heftigkeit, die Finz Angst machte und ihm die Luft zum Atmen raubte.

In der Schulzeit hatten ihn die Mädchen, mit denen er geschlafen hatte, an der Bushaltestelle abgepasst, ihn mit Zettelchen und Anrufen bombardiert. Jetzt war Finz 31, und seine Wirkung auf Sexpartnerinnen hatte sich nicht verändert, nur die Methoden ihres postkoitalen Aufmerksamkeitsterrors – dank WhatsApp, Facebook, Messenger und Instagram.

Wäre Finz’ X-Faktor nicht Sex gewesen, hätte er vermutlich irgendwann eine ganz normale Beziehung gehabt, die sich langsam und natürlich entwickelt hätte. Er hätte die Zeit und den Raum gehabt, selbst tiefere Gefühle aufzubauen. Durch die heftigen Reaktionen der Frauen fühlte er sich aber innerhalb kürzester Zeit emotional so bedrängt, dass er nur einen Gedanken hatte: Flucht.

Das alles hatte in der Vergangenheit zu unschönen Szenen geführt: Vorwürfe, Tränen, Beschimpfungen. Frauen, die behaupteten, er würde sie nur ausnutzen.

Eine Aussage, die Finz paradox erschien. Sie wollten ihn ja immer und immer wieder.

Eine Zeit lang hatte er sich ganz von Frauen ferngehalten. Aber ein Talent, das ein X-Faktor ist, lässt sich nicht langfristig unterdrücken. Durch Zufall fand er die Lösung für sein Problem. Und diese Lösung hatte ihren Ursprung in Finz’ Kindheit.

Finz’ Vater war ein Künstler gewesen, bekannt für seine ausdrucksstarken Porträts im Stil des Russen Yaroslav Kurbanov. Als Elfjähriger hatte Finz stundenlang vor den halbfertigen Kunstwerken gestanden. Eines hatte es ihm besonders angetan: Es zeigte eine Frau mit großen flehenden Augen, die verschwörerisch einen Finger auf ihre Lippen legte. So, als würde sie den Betrachter bitten, ihr Geheimnis niemandem zu verraten. Die Frau auf dem Bild faszinierte Finz. Er kam täglich heimlich ins Atelier, um sie zu betrachten. Er suchte nach einer Möglichkeit, mit ihr in Verbindung zu treten. Irgendwann wusste er, wie. Er griff zum Pinsel und malte an einer unauffälligen Stelle einen winzigen Punkt in das Bild. Als der Vater am nächsten Morgen ins Atelier ging, hatte Finz Todesangst. Würde der Vater etwas bemerken? Finz wusste, dann würde ihm ein riesen Donnerwetter drohen, vielleicht sogar Schläge. Aber der Vater bemerkte nichts. Und als die »Frau mit Geheimnis« vollendet war, war Finz’ geheimer Punkt für immer ihr und sein Geheimnis.

Finz wiederholte seine Tat fortan bei jedem Porträt seines Vaters, das ihm gefiel. Es bescherte ihm eine heimliche Freude, unbemerkt Teil der Bilder zu werden. Jetzt, rund 20 Jahre später, tat er eigentlich genau dasselbe. Er war der geheime Farbtupfer im Leben von Frauen, die nicht ihm gehörten.

Er datete ausschließlich verheiratete Frauen. Finz schätzte diese geheimen Liaisonen, weil sie ihm genug Freiraum ließen. Verheiratete Frauen wollten und konnten ihn nicht jeden Tag sehen. Jedes Telefonat, jede Textnachricht war für sie ein potenzielles Risiko, ihren Mann, ihre Kinder, ihre Existenz zu verlieren. Der Kontakt musste deshalb auf ein für beide Seiten zuträgliches Maß beschränkt werden. Und das Beste: Verheiratete Frauen wollten weder bei ihm einziehen noch wollten sie ihn groß verändern oder ihm vorschreiben, wie er sein Leben zu leben hatte. Das gefiel ihm. Denn er mochte sein Leben, so wie es war.

Finz hatte sich lange Zeit gelassen, erwachsen zu werden. Dann hatte er durch Zufall einen Job gefunden, der ihn nicht zu sehr forderte, aber abwechslungsreich genug war, um ihn nicht zu langweilen. Bei einer seiner Reisen in den Amazonas Regenwald war er im wahrsten Sinne des Wortes darüber gestolpert. Er flog bei einer Dschungelwanderung über eine Bodenunebenheit und landete in schwarzem Dreck. Sein Guide erzählte ihm, das sei Terra Preta – die geheime Schwarze Erde.

Im Regenwald entlang des Amazonas ist ein ganz bestimmtes Gebiet meterdick mit dieser schwarzen nährstoffreichen Erde bedeckt. Man konnte sich ewig nicht erklären, wie die dort überhaupt hingekommen war, denn geologisch hätte das Gebiet Wüste sein sollen. Wissenschaftler fanden dann nach langem Suchen eine Erklärung: Die Inkas hatten diese Indianererde aus Holz- und Pflanzenkohle, Tonscherben, Knochen, Fischgräten und tierischen und menschlichen Fäkalien über Jahrhunderte geschaffen, um den nährstoffarmen Boden am Amazonas fruchtbar zu machen. Das »Warum« war nun geklärt. Mit dem Aussterben der Ureinwohner war aber das genaue Wissen über das »Wie« verloren gegangen.

Kohle, Küchenabfälle und jede Menge Scheiße. Finz dachte darüber nach, wie er das zu Geld machen konnte. Er musste diese Erde nachbauen. Terra Preta aus Brasilien auszuführen, ist bei Gefängnisstrafe verboten, aber Finz hatte sich schon immer gerne über Gesetze hinweggesetzt. Als sein Guide nicht herschaute, füllte er die Taschen seiner Cargohosen unbemerkt mit dem Schwarzen Gold.

Zurück in Österreich recherchierte er das Potenzial der Inkaerde als natürlicher Dünger, und das, was er herausfand, war vielversprechend. »In Terra Preta gepflanzte Tomaten bringen viermal mehr Ertrag«, las er. »Ist der Kohlenstoff einmal im Boden, bleibt er mehr als 1.000 Jahre verfügbar. Ein Perpetuum Mobile der Fruchtbarkeit.«

War das nicht genau die Sache, die man all diesen Zuagroasten, die für jeden Bioscheiß ein Vermögen ausgaben, teuer verkaufen konnte?

Finz versuchte, aus verkokelter Grillkohle, Biomüll und seiner eigenen Pisse Terra Preta herzustellen. Ein Experiment, das nicht sofort von Erfolg gekrönt war. Er brauchte einen Profi als Partner und fand diesen. Der Bruder eines alten Schulfreundes, der im Südburgenland eine Biomasseanlage betrieb und Klärschlamm und Grünschnitt der umliegenden Gemeinden kompostierte. Der Betreiber der Kompostanlage war es längst leid, immer nur den Dreck anderer zu entsorgen. Finz konnte ihn für die Idee, gemeinsam lokale Inkaerde herzustellen, im Nu begeistern. Drei Jahre lang tüftelten die beiden an dem ultimativen Rezept für ihr Schwarzes Gold. Dann war die Inkaerde marktreif.

Ein tolles Produkt, eine Geschichte, die man super vermarkten konnte. Die Lokalpresse war begeistert. Die Zuagroasten waren es auch. Sie zahlten, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Euro pro Liter Schwarzerde.

Finz kam mit dem Liefern gar nicht mehr nach. Er schaffte sich einen alten Pick-up mit großer Ladefläche an, um der ständigen Nachfrage nachkommen zu können. Um Geld musste er sich nun keine Sorgen mehr machen. Um sein Sexleben auch nicht. Denn das Gros seiner Kundinnen waren verheiratete Frauen.

Zuagroast

Подняться наверх