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Psychische Probleme sind (heute) völlig normal
ОглавлениеPsychische Probleme markieren Verwirrungen im Karussell ständiger Identitätswechsel, sie stellen keinesfalls per se Erkrankungen dar. Vielmehr gehören sie zum Leben in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Sie gehören zu einer Welt, in der ein Einzelner wiederholt mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, sich neu zu orientieren, ja sogar, sich neu zu bestimmen und zu erklären, wer er ‚momentan’ oder ‚unter diesen Umständen’ ist und wer er zukünftig zu sein gedenkt. Psychische Probleme gehören zu einer Welt, die kaum mehr richtig und falsch vorgibt, die unterschiedlichste Lebensformen akzeptiert, die nicht eine, sondern zahlreiche Beziehungsformen toleriert, die den Einzelnen nicht mit verlässlichen Vorgaben versorgt und statt dessen unzählige Lösungen zulässt. Dies sind individuelle Lösungen, die teils unter großen psychischen Spannungen gefunden werden wollen und die nicht für immer gelten, weil sich die inneren und die äußeren Umstände beständig im Umbruch befinden.
Psychische Probleme gehören zum Alltag, sie stellen Aufforderungen zu einem Identitätswechsel dar.
Psychische Spannungen werden durch heute alltägliche Veränderungen der Lebensumstände ausgelöst. Eine Frau verliert ihre Arbeit, ein Mann bekommt Krebs oder sonst eine schwere Krankheit, ein Kind erleidet einen folgenreichen Unfall, ein Gekündigter entwickelt Lebens- oder Zukunftsängste, ein Ehepartner wird verlassen, ein Angehöriger stirbt und der Rest der Familie verliert den Boden unter den Füßen, ein erfolgreicher Spekulant erleidet geschäftlich oder beruflich Schiffbruch. Auch innere Umstände können sich verändern. Ein Karrierist kommt selbst in die Quere, beispielsweise leidet er unter seinem Ehrgeiz oder seinem Phlegma, jemand anderes isoliert sich sozial, ein Angepasster verausgabt sich völlig, um Anerkennung zu erreichen, zwei Partner streiten sich derart, dass sie ihre Beziehung oder die Familie gefährden, der Familienvater hat Schulden gemacht und vergräbt sich oder wird aggressiv, eine Frau gerät ständig mit Kolleginnen aneinander oder wird gemobbt, ein Liebessuchender findet keinen Partner oder etwas anderes geschieht. Ein Glückssucher entwickelt eine Besessenheit, sei es vom Sport oder von Gegenständen, oder ein Überanstrengter verliert den Sinn seines Tuns oder … die Möglichkeiten, sich in seinen Identitäten zu verheddern scheinen in den heutigen individualisierten Verhältnissen unendlich vielfältig zu sein.
Hinzu kommt, dass der Einzelne sich selbst überlassen ist und mit vielen psychischen Probleme allein dasteht. Nicht etwa deshalb, weil ihm niemand aus seinem Umfeld helfen wollte, sondern vor allem deshalb, weil die Lösung eines Problems ebenso individuell zugeschnitten sein muss, wie es die Lebensumständen sind, aus denen das Problem entsteht. Hilfe ist daher nicht von jedermann zu erwarten und auch der Partner oder die besten Freunde können oft nur gut zwar gemeinte, aber meist nutzlose Ratschläge geben.
Allein die Psychotherapie hat sich auf die vielfältigen psychischen Probleme spezialisiert, auf Probleme mit der Identität des Menschen, auf den Umgang mit den vagen Dingen und auf die Suche nach verlorenem Sinn.
1 Der Begriff „Verwalter der vagen Dinge“ stammt vom Philosophen Paul Valéry, der damit Magier, Priester und Dichter bezeichnete.