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Psychische Flexibilität
ОглавлениеBereits dieser kleine Streifzug durch gesellschaftliche Unterbereiche deutet die hohe Flexibilität an, die heute gefordert ist. Dies ist in erster Linie und mit allen Konsequenzen eine psychische Flexibilität. Es gibt keine Gruppenidentität mehr, die man übernehmen und an der man sich festhalten kann.
Die individuellen Möglichkeiten scheinen unendlich. Beispielsweise kann man im Bereich der Liebesbeziehungen sehr verschieden auftreten. Etwa als ‚Ich der treue Ehepartner’ im traditionellen Sinn, oder als ‚Ich der offene Fremdgeher’, oder als ‚Ich der heimliche Fremdgeher’, oder als ‚Ich der Polyamore’, der zwei oder mehr Partner liebt, oder als ‚Ich der Single mit gelegentlichen Affären’ oder als jemand, der in Abständen den Partner wechselt, also als ‚Ich der Serielle’oder als sonst jemand. Ebenso im Erziehungsbereich. Dort kann man seinen Kindern gegenüber als ‚Strenger’ oder ‚Antiautoritärer’, als ‚Partner’ oder in einer der unzähligen Schattierungen dieser Möglichkeiten auftreten. Gleiches gilt für alle übrigen Lebensbereiche – die möglichen Identitäten sind in ihrer Zahl kaum begrenzt.
Zweifellos ist der heutige Mensch an diese Lebensumstände angepasst und in der Lage, seine Identität an die unterschiedlichen Lebensbereiche, in denen er sich bewegt und an die unterschiedlichen Lebenslagen, in die er gerät, anzupassen. Aber eines kann er nicht mehr: an einer bestimmten Identität, an einem bestimmten Ich, über einen längeren Zeitraum oder über verschiedene Bereiche hinweg festzuhalten. In dem Fall bekommt er nämlich unweigerlich Probleme.
Beispielsweise kann man im kirchlichen Bereich als „Ich der Wohltätige“ auftreten und eine kleine oder große Spende machen. Wechselt man aber in den Finanzbereich um eine Investition zu tätigen, kann man unmöglich „Ich der Wohltätige“ bleiben, sonst ist das Vermögen schnell weg. Im Finanzbereich ist man „Ich der Investor“, also ein egoistischer und kein wohltätiger Mensch. Als Investor wiederum geht man in der Liebe unter, dort ist man „Ich der Liebende“, also jemand der nicht mit Gewinn und Verlust spekuliert, sondern der schenkt und beschenkt wird. Sobald das Kalkül ins Liebesspiel gerät, verliert man zuerst das Gefühl, zu lieben und dann auch das Gefühl, geliebt zu werden. Die einzige Chance um in den jeweiligen Lebensbereichen zu bestehen besteht unter diesen Umständen darin, seine Identität an die dortigen Anforderungen anzupassen.
Die moderne Gesellschaft erfordert eine enorme psychische Flexibilität. Um sich in ihr zu bewegen muss man eine Art Identitäts-Chamäleon sein.
Aus den genannten Gründen verfügt jeder Einzelne über einen ganzen Schrank voller Identitäts-Mäntel, und je nach Lage der Dinge schlüpft er in diesen oder jenen Mantel, in diese oder jene Haut, zeigt einmal dieses und dann jenes Gesicht. Der Einzelne trägt unterschiedlichste ‚Personen’ oder ‚Charaktere’ in sich.
Besonders merkwürdig erscheint, dass diese ‚Ich’ nicht viel miteinander zu tun haben. Jedes Ich lebt gewissermaßen in einer eigenen Welt, einer Welt mit ganz eigenen Logiken und Verhaltensmöglichkeiten, und es ist wahrlich faszinierend, wie spielerisch es der Psyche im Normalfall gelingt, den jeweils notwendigen Identitätswechsel zu bewältigen.