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Vom sozialen Sinn des Burn-out
ОглавлениеDa ist beispielsweise das so genannte Burn-out, ein zunehmend massenhaft auftretendes Symptom, das Betroffene daran hindert, bezüglich ihres ‘Work- and Lifemanagement’ erwartungsgerecht zu funktionieren. Die Medien berichten ausführlich über diese zunehmende psychische Erschöpfungsform, und die staatlich regulierte Psychotherapie beeilt sich, die Betroffenen als ‘depressiv’ zu markieren. Am Symptom und seiner Verbreitung ändert das Etikett aber nichts. Schauen wir uns dieses Phänomen etwas genauer an, einschließlich seiner körperlichen Komponenten.
Vom Burn-out-Syndrom Betroffene stehen ausnahmslos unter starkem innerem und äußerem Druck. Innerer Stress bedeutet, dass der Betreffende sich selbst unter hohe Leistungsanforderungen stellt. Er will unbedingt alles gut machen, er arbeitet viel zu viele Stunden, er will beruflich aufsteigen und viel Geld verdienen oder bekannt werden. Er will sich und anderen beweisen, dass er es unter allen Umständen schaffen kann. Daher sind es oft nicht, wie man glauben sollte, die so genannt psychisch Schwachen, die eines Tages unter Burn-out leiden. Diese scheiden rechtzeitiger aus dem Rennen aus. Es sind die so genannt Starken, die eines Tages zusammen brechen, weil sie alles geben und es doch nie genug ist. Zum inneren kommt äußerer Stress hinzu. Betroffene werden vom Arbeitgeber, den Kollegen, der Arbeitsstruktur, dem Bonussystem etc. unter nicht endende Leistungsanforderungen gesetzt. Es lässt sich noch ein Arbeitsplatz mehr einsparen, ein noch höherer Gewinn anpeilen, es werden ständig mehr Aufgaben zugeteilt und mehr Überstunden verlangt.
Der menschliche Organismus reagiert auf Stresssituationen normalerweise sehr sinnvoll. Er beschleunigt den Herzschlag, die Blutgefäße ziehen sich zusammen, das vegetative Nervensystem spannt sich an, das Stresshormon Cortisol wird ausgeschüttet und das Immunsystem wird in seiner Leistung heruntergefahren. Der Organismus bereitet sich optimal auf einen Notfall vor. Leider gibt es beim Burn-out keinen echten, kurfristigen Notfall, sondern eine permanente Ausnahmesituation. Der Organismus steht unter Dauerstress. Dieser Dauerstress führt nach einigen Jahren sogar zu neuroplastischen Veränderungen im Gehirn. Dort nimmt die Leitfähigkeit neuronaler Netzwerke ab, Synapsen bilden sich zurück, das Gehirn arbeitet schlechter. Ab da fällt es schwer, sich zu entspannen und Erholung im Schlaf zu finden, weil der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung immer schlechter funktioniert. Der Organismus gerät an seine Grenzen, nach einigen oder mehreren Jahren folgt der Zusammenbruch. Der Betroffene begibt sich in Behandlung.
Psychiatrie und staatlich regulierte Psychotherapie suchen nun nach den ‘Ursachen’ des Burn-out. Die Psychiatrie spricht von ‘neurobiologischen’ Ursachen, ganz so, als wären Drüsen außer Kontrolle geraten und würden grundlos zuviel Cortisol produzieren. Die Psychotherapie wiederum sucht nach ‘persönlichkeitsbedingten’ Ursachen, ganz so, als hätten die Betroffenen nicht gelernt, richtig mit Stress umzugehen. Beide Ansätze verorten Ursachen beim Einzelnen, und dort setzen auch die Behandlungsstrategien an. Allerdings zeigt schon die Entstehung des Burn-out, dass der Einzelne keineswegs falsch reagiert. Es wird ja niemand annehmen, dass Menschen plötzlich verlernt haben, mit Stress richtig umzugehen oder dass ihre Hormondrüsen plötzlich massenhaft aus dem Ruder laufen.
Ein Vergleich mit der Medizin zeigt das Absurde der psychologischen Ursachenzuweisung. Wenn von 100 Arbeitern in einer Asbestfabrik 30 Lungenkrebs bekommen, wird kein vernünftiger Arzt die Ursache dafür beim Individuum verorten. Es werden auch keine ‘Resilienzforschungen’ betrieben um herauszufinden, warum 70 Arbeiter nicht krank wurden und was die kranken 30 von ihnen lernen könnten. Wenn aber von 100 Angestellten 30 an Burn-out erkranken, dann wird unterstellt, ihre individuelle psychische Verfassung stelle die Ursache dar und daher müsse an ihrer Stressfestigkeit gearbeitet werden.
Die Angestellte einer Krankenkasse berichtet.
“Wir haben da eine Abteilung, die wird im ganzen Haus gefürchtet. Niemand will da arbeiten, weil der Arbeitsanfall riesig ist und die Gruppe völlig unterbesetzt. Man schiebt dorthin Leute ab, die man loswerden will. Von den 30 Leuten, die dort arbeiten, kommt nur einer damit klar, der ist unkaputtbar. Die anderen geben innerhalb von Monaten auf und suchen sich eine andere Arbeitsstelle.”
Wenn man schon nach einer Ursache für weltweit grassierenden Burn-out sucht, dann ist diese am ehesten in der Gesellschaft zu finden und nicht in den Hirnen oder Psychen der Einzelnen. Arbeit ohne spürbaren Sinn, Stress ohne Ende, Ziele anstreben ohne jemals dort ankommen und für eine Weile ausruhen zu können - die heutige Lebensweise macht die Menschen krank. Nach Aussagen der WHO werden stressbedingte Erkrankungen in 10 Jahren weltweit die am meisten verbreiteten Krankheiten sein, schon jetzt wird der volkswirtschaftliche Schaden in Europa auf 100 Milliarden Euro jährlich geschätzt.
Nun zurück zur eingangs angekündigten Frage. Welches soziale Problem könnte auf diese Weise gelöst werden? Das Problem zunehmender Überforderung durch steigende Arbeitsbelastung und wachsende Flexibilitätsansprüche!
So gesehen sind so genannt Burn-out-Kranke die eigentlich Gesunden. Sie verteidigen den Wert von Entspanntheit, von Gelassenheit und von menschlichen Beziehungen gegen das Diktat der Ökonomie. Sie lehnen sich gegen eine kapitalistische Wirtschaftsweise auf, in der Menschen zu Humankapital werden. Ausgebrannte trotzen der gesellschaftlich propagierten, erzwungenen und sinnentleerten Hetze nach mehr - mehr Geld, mehr Macht, mehr Status. Einer Hetze von der keiner weiß, zu welchem Ziel sie eigentlich führen soll. Zu mehr Glück und Zufriedenheit führt sie jedenfalls nicht, das hat sich längst gezeigt.
Das Burn-out-Problem ist nicht allein ein individuell-psychisches, sondern vor allem ein gesellschaftlich-existentielles. Wer nach Jahren therapeutischer Begleitung wieder im Normalzustand landet drückt genau dies aus. Vom Burn-out geheilt sagen, sie hätten den Sinn im Leben verloren, wären im Hamsterrad gelaufen und erst der Zusammenbruch habe sie zur Besinnung gebracht. Massenhafte Erschöpfung stellen gesunde Reaktionen des körperlich/psychischen Systems und keinesfalls Krankheiten dar, für die eine ICD-10 Ziffer zu vergeben ist.
Die systemische Frage „Welches soziale Problem kann man erkennen, das durch die Entwicklung gelöst wird?“ ist insofern aufschlussreich, weil es der Soziologie bei auffälligen Phänomenen nicht um individuelle Problematiken geht, sondern um die Folgen gesellschaftlicher Zusammenhänge, also um die Reaktionen vieler Menschen auf konkrete soziale Umstände. Die Entwicklung massenhafter psychischer Symptome bekommt so einen Sinn und eine positive Wertung.
Wendet man die systemische Frage beispielsweise auf revolutionäre Entwicklungen an, dann stellt sich die Sache recht einfach dar. Revolten und Aufstände wollen das Problem der Unterdrückung lösen. Streiks wollen das Problem zu geringer Bezahlung oder schlechter Arbeitsbedingungen lösen. Wie aber lösen Individuen ihre Lebensprobleme in einer Welt, in der es keine Arbeiterklasse und kaum noch Gewerkschaften gibt, einer Zeit, in der Arbeitsverhältnisse auf Zeit geschlossen werden, in der Verantwortung weder Königen noch Diktatoren noch Banken noch sonst wem angelastet werden kann, in der man letzten Endes selbst schuld ist, weil man ja gewählt hat?
In der individualisierten Welt können massiv auftretende psychische Symptome die Funktion sozialer Auflehnung übernehmen.
Dem Vereinzelten, der niemanden in der äußeren Welt findet, gegen den er sich auflehnen kann, auch weil er die Anforderungen dieser Welt zu seinen eigenen gemacht hat, bleibt nur die psychische Auflehnung, die Auflehnung gegen sich selbst. Wenn dies massenhaft geschieht, wird die psychische Revolte zu einer sozialen Revolte.
Auf den sozialen Sinn psychischer Probleme kann die staatlich regulierte Psychotherapie mit ihren Ziffern und Diagnosen nicht eingehen, sie muss ihn im Grunde leugnen, weil sie sonst Probleme mit der Klassifizierung bekäme. Wer ist 'gerechtfertigt' depressiv und wer 'ungerechtfertigt'?
Die staatlich regulierte Psychotherapie nimmt daher den scheinbar unvollkommenen Einzelnen im therapeutisch verkürzten Blick, sie hat ihn gewissermaßen aus gesellschaftlichen Bezügen enthoben. Selbst so uralte und in jeder Gesellschaft zu beobachtende Erscheinungen wie der Drang nach außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, sei es durch Süchte oder Komasaufen oder erotische Exzesse oder anderes außergewöhnliches Verhalten, erscheint aus psychotherapeutischer Sicht problematisch und erhält Krankheitswert.
Würde man Revolutionäre (beispielsweise des arabischen Frühlings oder der friedlichen Revolution der DDR) einer psychotherapeutischen Untersuchung zuführen, würden übereinstimmende psychische Auffälligkeiten festgestellt. Etwa, dass es bei den Revolutionären der ersten Reihe besondere familiäre Konstellationen gibt, einen Vater, der sich autoritär aufführte oder eine hilflose Mutter, ein Kind, das schon damals von Macht und Umsturz träumte. Das Bedürfnis nach Auflehnung würde als seelische Rebellion gegen Autoritäten oder Eltern diagnostiziert, verursacht durch frühkindliche Umstände. Die Revolutionäre würden mit einer Ziffer versehen und therapeutisch behandelt.