Читать книгу Psychotherapie - wozu und wie? - Mary Michael - Страница 23
ОглавлениеEine Psychotherapie des Graubereiches
Der Graubereich psychischer Störungen - das ist der Bereich, der einer Psychotherapie vorbehalten sein sollte, die sich den vagen Dingen zuwendet, die Offenheit, Bezogenheit und Flexibilität ins Zentrum ihrer Vorgehensweise setzt - muss dringen erhalten bleiben.1
Wenn es zutrifft, dass man sich über die Dimensionen der Psyche keinen Überblick verschaffen kann und wenn die Psyche dazu gezwungen und in der Lage ist, sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zurecht zu finden, wenn es keine einheitliche Persönlichkeit gibt, die es zu verwirklichen gilt, dann stellt sich die Frage, wie eine Psychotherapie aussehen kann, die den fragmentierten Psychen der Individuen Rechnung trägt? Nach allem was bisher gesagt wurde müsste dies eine Psychotherapie sein:
die darauf verzichtet, die Psyche als Ganzes überblicken zu wollen,
die weder mit Persönlichkeits- noch mit Charaktermodellen arbeitet,
die sich weder auf Klassifizierungen noch auf Diagnosen stützt,
die keine Behandlungsschemata anwendet,
die sich keinen festen Begriff von Normalität oder psychischer Gesundheit macht,
die darauf verzichtet, psychische Reifungsschritte, so genannt normale Entwicklungsphasen oder vorbildhafte Beziehungsformen zu definieren,
und die traditionelle psychotherapeutische Begriffe wie Spaltung, Verdrängung und Behandlung, zumindest in ihrer bisherigen Bedeutung, beiseite legt oder neu definiert.
Radikal am Problem orientiert
Woran kann sich eine solche Psychotherapie orientieren, wenn sie bedeutende Teile des bisherigen strukturgebenden theoretischen Rüstzeugs beiseite legt? Was bleibt ihr, wenn sie auf die Pathologisierung des Graubereiches verzichtet und sich dort auf vage Weise den vagen Problemen zuwendet?
Was der Psychotherapie zur Handhabung des Graubereichs dann bleibt, ist einzig und allein das Problem, das einen Klienten in die Praxis führt; und nur mit diesem Problem und dessen konkreter Bewältigung kann sie sich befassen.
Das ist mehr als genug, wie ich im Folgenden darlegen möchte. Eine am Problem orientierte Psychotherapie würde – übertragen gesprochen - nicht fragen, wo jemand herkommt und sich nicht sonderlich dafür interessieren, wo jemand zukünftig ankommt. Sie würde sich statt dessen der Frage zuwenden, wo und wie jemand gegenwärtig festhängt und wie und womit ihm beim Weiterkommen geholfen ist. Ein Psychotherapeut wäre dann kein Führer, kein Wegweiser, kein Wissender – sondern jemand der hilft, den Karren aus dem Graben zu ziehen und wieder auf die Straße zu bringen, ohne wissen zu müssen und wissen zu wollen, wohin die Reise den Klienten schließlich führt.
Ein solcher Psychotherapeut würde sozusagen als Pannenhelfer und nicht als Persönlichkeitsgestalter oder Lebenslehrer auftreten.
Die Formulierung einer 'radikal am Problem orientierten Psychotherapie' ist mit ziemlicher Sicherheit missverständlich. Schon der Begriff 'Problem' erfreut sich in Zeiten grassierenden Machbarkeitglaubens keiner besonderen Wertschätzung. Statt von Problemen spricht man heute beschönigend von Lösungen und Herausforderungen oder versucht, Niederlagen in Erfolge zu verwandeln. Derartige Verdrehungen ändern natürlich nichts daran, dass nur dann nach einer Lösung gesucht wird, wenn ein Problem vorliegt und ebenso gilt, dass es für ein Individuum nur dann weitergeht, wenn es sein Problem bewältigt. Bewältigung bedeutet auch, das Problem zu verstehen.
“Die Aufgabe professioneller Helfer muss also sein, Klienten darauf aufmerksam zu machen, wie ihr Problem funktioniert ... Ein Problem, das man nicht versteht, kann man nicht lösen; und ein Problem, das man falsch versteht, kann man nicht effektiv lösen!”2
Das obige Zitat stammt von Prof. Rainer Sachse. Es weist auf die grundlegende Aufgabe eines Therapeuten hin, die darin besteht, etwas zu beobachten, das der Klient nicht beobachtet, nämlich wie sein Problem beschaffen ist. In die gleiche Richtung weist die folgende Bemerkung von Prof. Peter Fuchs.
“Der Umgang mit vagen bzw. uncodierten Problemen zwingt ja, wenn man so will, dazu, zu beobachten, mit welchen Unterscheidungen sich die Klienten ihre Welt so erzeugen, dass ein bestimmtes Problem für sie nicht lösbar ist.”3
Entgegen landläufiger Ansicht und trotz oberflächlicher Ablehnung sind Probleme keine lästigen Nebenprodukte eines falsch gelebten Lebens, die man schnellstmöglich los werden sollte. In Problemen steckt vielmehr der Schlüssel zum Weiterkommen. Sie stellen oft existentiell schwierige Situationen her, durch deren Bewältigung das individuelle und auch das gesellschaftliche Leben erst seine passende Fortführung findet. Probleme sind geradezu Voraussetzung für das Überleben.
Probleme und deren Bewältigung sind faszinierende Themen, um die sich jedes therapeutische Bemühen dreht. Faszinierend sind Probleme vor allem deshalb, weil in einem psychischen Problem seine eigene Lösung enthalten ist. Die verblüffende Eigenschaft eines Problems, auf seine eigene Lösung zu verweisen, macht es für Therapeuten unerlässlich und spannend, sich Problemen zuzuwenden und die darin liegenden Ansätze zu ihrer Bewältigung aufzuspüren.4
Wenn die Lösung im Problem liegt, dann könnte man meinen, es bräuchte keinen Therapeuten, um auf sie zu stoßen. Das trifft allerdings nicht zu. Der Therapeut wird als Beobachter gebraucht, der das in seine Betrachtung mit einbezieht, was der Betroffene an sich nicht oder nicht sinnhaft beobachtet.
“Worum geht es bei Psychotherapie: Es geht um psychische Betroffenheitslagen, die Leidensdruck auslösen, der nicht mit den Bordmitteln des psychischen Systems aufgelöst werden kann, weil es nicht in der Lage ist, den ‚Quellpunkt’ seines Leidens zu beobachten.”5
Die Lösung ist zwar im Problem enthalten, aber sie liegt nicht offen herum, sie ist unbeobachtet und unbeachtet, sonst wäre das Problem auch ohne Hilfe eines Begleiters zu lösen. In Zusammenarbeit von Therapeut und Klient kann der 'Quellpunkt' des Leidens erkannt, das Problem erforscht und verstanden werden; wozu auch gehört, die in ihm enthaltene Lösung aufzugreifen.
Ich hoffe, mit diesen Andeutungen Lust auf ein tieferes Verständnis von Problemen geweckt zu haben, denn in den folgenden Abschnitten möchte ich eine am Problem orientierte Vorgehensweise verdeutlichen. Dabei wird deutlich werden, dass im Grunde die meisten Psychotherapien problem- beziehungsweise konfliktorientiert vorgehen, selbst wenn sie dies in komplizierter Fachsprache verbergen.
Bei eine problemorientierten Vorgehensweise geht es speziell um:
Das Wesen von Problemen,
die Aufgabe individueller Identität,
das Bild, das man sich von der komplexen Psyche machen kann,
die Frage, wie Probleme ihre Lösungen enthalten,
die Frage, wieso sich Probleme nicht durch Was-Fragen, sondern durch Wer-Fragen lösen lassen, und
die Frage, welche Lösungen nicht-therapeutischer Art sich ergeben, wenn man problem- und lösungsorientiert vorgeht.
1 In diesem Abschnitt nehme ich an der einen oder anderen Stelle Bezug auf Darstellungen, die erst später auftauchen, ich greife für manchen Leser womöglich etwas vor, etwa auf Darstellungen aus dem Abschnitt ‘Im staatlichen Auftrag’. Dort beschreibe ich die Nachteile der staatlich regulierten Psychotherapie und deren Versuche, alle psychischen Störungen dem Bereich ernsthafter psychischer Erkrankungen zuzuordnen. Ich bezeichne diesen Vorgang als die ‘Eroberung des Graubereiches durch Pathologisierung’.
2 Rainer Sachse, Persönlichkeitsstörungen verstehen, Psychiatrie-Verlag Bonn 2010, Seite 22
3 Peter Fuchs, Die Verwaltung der vagen Dinge, 2011 Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg, Seite 71
4 Siehe hierzu die von mir entwickelte Methode Erlebte Beratung und die Fortbildung für Therapeuten.
5 Peter Fuchs, Die Verwaltung der vagen Dinge, 2011 Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg, Seite 99