Читать книгу Psychotherapie - wozu und wie? - Mary Michael - Страница 15
Bezogenheit
ОглавлениеDer Begriff der Begleitung weist auf ein anderes zentrales wichtiges Merkmal einer sinnvollen Psychotherapie hin: auf die Bedeutung, die sie dem menschlichen Kontakt und der Kommunikation zwischen Therapeuten und Klienten zuweist.
Wer bei psychischen Problemen Hilfe sucht, der kommt an einem bestimmten Punkt in einem bestimmten Lebensbereich alleine nicht weiter. Er braucht einen Spezialisten im Erkennen vorhandener und finden neuer Deutungen und im Erkunden von Verhaltensalternativen. Allerdings gilt: Neu- oder Umdeutungen sind nicht Ergebnis einer Behandlung, sondern das Ergebnis einer Beziehung. Einer Beziehung, die dann Früchte trägt, wenn der Klient vom Begleiter einerseits akzeptiert und respektiert, andererseits auf eine Weise irritiert wird, die sich positiv auswirkt. Psychotherapie muss den Klienten gewissermaßen aus dem Konzept bringen. Sie muss das Verhalten, die Überzeugungen, die Gefühle, die Deutungen der Betroffenen irritieren; und so etwas Verwirrendes kann mit guten Ergebnissen nur in einer tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehung geschehen.
Solche Irritation kann auf verschiedene Weise wirken. Schon die Zeit und die Aufmerksamkeit, also die reine menschliche Zuwendung, die ein Psychotherapeut für seinen Klienten aufbringt, kann eine Irritationen darstellen. Etwa bei Menschen, die sich als wertlos und minderwertig empfinden. Dann widerspricht allein Tatsache, dass da jemand zuhört und Kontakt hält, der Deutung ‘Ich bin wertlos’ und schafft auf Dauer eine wertschätzende Einstellung zu sich selbst. Irritation kann auch dadurch entstehen, dass der Begleiter seine Sichtweise neben die des Klienten stellt und so dessen Sichtweise verunsichert. Dann stehen zwei Deutungen im Raum und die scheinbare Wahrheit, unter der ein Klient leidet, beispielsweise die Überzeugung, dass es im Leben darauf ankäme, nicht anzuecken oder unter allen Umständen durchzuhalten, wird erschüttert. Wenn der Psychotherapeut zudem anbietet, ungewohnte Verhaltensweisen auf kreative Weise auszuprobieren und eine glaubhaft positive Reaktion darauf zeigt, deuten sich realisierbare Alternativen zum bisherigen Erleben und Verhalten an. Irritation kann auch dadurch entstehen, dass der Psychotherapeut Dinge sieht und wahrnimmt, die der Klienten bisher nicht wahrgenommen hat. Vier Augen sehen mehr als zwei, vier Ohren hören mehr als zwei, zwei Menschen begegnen sich mit unterschiedlichen Einstellungen und Haltungen, und die vom Therapeuten wahrgenommenen und eingebrachten Informationen sind oft in der Lage, das Bild auch für den Klienten zu verändern.
Irritation ist nötig, aber ob sie geschieht und ob sie positiv greift ist weniger eine Frage der Technik als eine Frage der Beziehung der beiden Menschen, die sich zur Psychotherapie verabredet haben. Der Beziehung zwischen dem Therapeuten auf der einen Seite, von dem Offenheit und Kreativität verlangt wird und dem Klienten auf der anderen Seite, der letztlich entscheidet, ob er die kommunikative Angebote seines Begleiters annimmt oder ablehnt und welchen Sinn er daraus gewinnt. In der gegenwärtigen Entwicklung gerät die Beziehung allerdings gegenüber der Technik in den Hintergrund, worauf ich später unter dem Stichwort ‘Leitlinienbehandlung’ noch eingehen werde.