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Ich versus Nicht-Ich
ОглавлениеNun lässt sich ein psychisches Problem beschreiben als die Spannung zwischen zwei Identitäten, wobei man mit einer Identität identifiziert ist und von der anderen Identität, die man für sich ablehnt oder ignoriert, gestört wird.
Ganz schlicht ausgedrückt heißt das: Ein psychisches Problem ist der Konflikt zwischen Ich und Nicht-Ich.
Solch eine Konfusion oder solch ein Konflikt zwischen Ich und Nicht-Ich wird so erlebt, dass sich in der Psyche etwas abspielt, das aus Sicht der vorherrschenden Identität dort nicht hingehört. Es findet etwas Störendes statt, etwas Unangenehmes oder gar Unerträgliches. Andere Bezeichnungen für dieses spannungsreiche Erleben lauten 'psychische Störung' oder umgangssprachlich 'ein Problem'.
Im Falle der Frau findet in ihrer Psyche ein anhaltender Schmerz statt, den sie nicht länger dort haben will. Sie hat nämlich eine bestimmte Vorstellung von sich. Sie sieht sich als selbstbewusste, starke Frau, die auch harte Schicksalsschläge in angemessener Zeit verarbeiten kann. Was ein angemessener Zeitraum ist, legt sie selbst aus ihrer bisherigen Erfahrung fest. Es handelt sich dabei bestenfalls um Monate. Nun allerdings erlebt sie Zustände und Gefühle, die sie selbst nach einem Jahr nicht im Griff hat. Als der Begleiter sie darauf hinweist, dass Menschen, die eine geliebte Person verlieren, oft mehrere Jahre lang trauern sagt sie „Aber das passt überhaupt nicht zu mir.“ Diese Bemerkung zeigt, wie sehr sie mit der Vorstellung, eine starke Frau zu sein, identifiziert ist. Würde man der Frau nun sagen „Sie sind offensichtlich schwächer als Sie glaubten“ oder „Sie sind offensichtlich emotionaler als Sie glaubten“, dann würde sie sagen „Nein, ich bin stark, ich war es mein Leben lang und ich will es wieder sein. Ich muss nur diese Wehleidigkeit überwinden. Diese endlose Trauer und der dauernde Schmerz stören mich gewaltig, sie hindern mich an meinen (gewohnten) Leben.“
Der Eindruck, dass einem etwas passiert, das nicht zu einem gehört, dass in der Psyche merkwürdige Dinge auftauchen, Dinge, die dort laut Selbstbeschreibung nicht hingehören, ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, ein Problem zu haben. Es mag sich bei den störenden Wahrnehmungen beispielsweise eine Schwäche handeln, wo man doch meint, stark zu sein. Oder um Zweifel, wo man doch meint stets zu wissen, was zu tun ist. Oder um eine Angst, wo man sich doch gelassen kennt. Oder um eine Niedergeschlagenheit, wo man doch sicher war, ein unerschütterlicher Optimist zu sein. Oder um eine schwere Krankheit, wo man doch glaubte, ein sorgenfreies Leben vor sich zu haben. Oder um Hass und Aggression, wo man sich doch für friedlich hielt. Oder um etwas anderes Störendes.
Was immer in der Psyche an merkwürdigen Wahrnehmungen auftaucht, wenn dadurch ein Problem entsteht handelt es sich um etwas, das auf scheinbar unerklärlicher Weise dort hinein geraten ist und zu dem man nicht ‚Ich’ sagen kann. Man kann sich nicht dahinter stellen, man will es loswerden und den störungsfreien Zustand wieder herstellen.