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Gruppenidentität - wer man früher war
ОглавлениеIn den Jahrhunderten vor dem 19. Jahrhundert unterschied sich die Lebenswelt des Einzelnen völlig von der heutigen. Die Menschen lebten in einer ständisch strukturierten Gesellschaft. Deren übersichtliche Struktur vermittelte eine verlässliche Orientierung. Wie man sich in dem jeweiligen Stand zu verhalten hatte, was man denken, sagen und fühlen sollte, was man tun oder lassen durfte, wozu man verpflichtet war und was einem blühte, wenn man sich nicht an die Regeln hielt, all das war unzweifelhaft und jedem bekannt. Der Einzelne verfügte daher über ein einziges, relativ klar definiertes Ich, er wusste, wer er war. Er war entweder Leibeigener, Bauern, Handwerker, Bürger oder Feudaler – andere ‚Seinsmöglichkeiten’ standen nicht zur Verfügung.
Wer zu jener Zeit beispielsweise Bauer oder Bürger war, der war das immer und überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit, mit Haut und Haaren, durch und durch. Er war das auf dem Dorfplatz, im Gerichtssaal, im Krieg oder Frieden, auf Reisen oder in der Stadt, im Bett oder am Tisch. Die Gesellschaft hatte ihm einen dem Stand, in den er hinein geboren wurde, entsprechenden Mantel umgehängt und ihm erklärt: „Das bist Du!“ Der Einzelne war mit einer festen, verlässlichen und bestimmten Identität ausgestattet. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine individuelle, sondern um eine Gruppenidentität. Man war „Ich, der Bauer“ oder „Ich, der Bürger“ und nicht „Ich, der Georg“ oder „Ich, die Lisa“.
Ein Bauer bestellte nicht bloß die Erde mit seinen Händen, er war nicht nur äußerlich Bauer, sondern er war es auch innerlich. Er fühlte wie ein Bauer und blieb daher von romantischen Schwärmereien verschont. Er dachte wie ein Bauer und reiste nicht durch die Welt, sondern blieb seiner Scholle verhaftet. Er hielt das für wichtig, was für einen Bauer wichtig war. Daher schrieb er keine Gedichte und spekulierte nicht mit Geld, vielmehr versuchte eine gute Partie zu heiraten und so weiter und so fort. Es war für ihn relativ einfach, seine Identität - sein bäuerliches Ich oder seine Vorstellung davon, wer er ist - zu bewahren, weil er sich nur im bäuerlichen Bereich und sonst nirgends aufhalten durfte. Auch dem Leibeigenen gegenüber war er Bauer, als Höhergestellter und ebenso dem Feudalherren gegenüber, als Untergebener. Er war ‚Ich der Bauer’ durch und durch, eine andere Identität als diese Gruppenidentität stand ihm nicht zur Verfügung.
Die übersichtliche aufgebaute ständische Gesellschaft bot kaum Spielraum für Individualität, daher waren die psychischen Probleme, die beim Einzelnen auftauchten, auch nicht im heutigen Sinne individuell. Natürlich hatten auch die Menschen jener Zeit psychische Probleme. Aber wenn, dann hatten sie diese als Leibeigener, als Bauer, als Handwerker, als Bürger oder als Feudaler. Besonders komplex waren diese Probleme nicht und sie unterschieden sich kaum von Bauer X zu Bauer Y oder von Bürger X zu Bürger Y. Deshalb genügte es, im psychischen Problemfall zu den bewährten Spezialisten für das wenige Vage1 zu gehen. Diese Spezialisten waren die Priester und Heiler, die Mystiker und die Poeten. Sie verfügten über erprobte Mittel, um eine unter damaligen Umständen verlorene Orientierung oder angegriffene Identität, um ein ins Wanken geratenes Ich, wieder auf die richtige Spur zu bringen. Sei es Gottes Wort oder ein magischer Spruch oder sie warfen Knochen oder erzählten Geschichten und schrieben Lieder und Gedichte. Half das nicht, um jemanden zurück auf seinen ihm zugewiesenen Platz zu bringen, hielt die Rechtsprechung andere, brachiale Mittel bereit, um Ausbrecher zurück in ihre Identität zu zwängen.