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Kapitel 8
ОглавлениеHoch im Gebirge, weit über der Baumgrenze, wo nur Flechten sich an den Fels klammerten, befand sich eine Burg. Sie war in die Steilwand eines Berges gemeißelt, und ein Erkerturm beulte sich wie eine steinerne Wucherung daraus. Wie oval geformte Augen befanden sich kleine Fenster in der Wand der Burg, die eigentlich ein Gefängnis war. Ein Hexenmeister hatte sie geschaffen, und eine Zauberin lebte darin.
Hätten Menschen oder Zwerge sich in jenen schwer zugänglichen Teil des Gebirges gewagt, wären sie vermutlich vor der gespenstischen Wirkung der vermeintlichen Augen im Fels zurückgeschreckt. Sie hätten sich von einer bösen Macht beobachtet gefühlt und sich einen anderen Weg über die Berge gesucht. Ebenso wäre es Nordorks ergangen. Doch niemals kamen Menschen oder Zwerge oder Orks an diesen Ort. Selbst Tiere mieden den verzauberten Platz. So stand die Burg im Fels wie unter einer Kuppel aus Stille, deren Ruhe nur der Regen störte oder der Wind, wenn er zwischen den Wipfeln heulte. Aber die Zauberin war nicht alleine. Sie besaß eine Dienerschaft, die alles für das Wohl ihrer Herrin tat. Und zu ihrer Gesellschaft lebte ein großer, weißer Vogel mit in der Burg, die eigentlich ein Gefängnis war.
In ihrer Jugend war die Zauberin von einem Hexenmeister begehrt worden, aber sie hatte sich ihm verweigert, denn der Hexenmeister war nicht nur alt und hässlich, er hatte auch einen boshaften Charakter. Die Zauberin aber, wenn auch stolz, besaß ein gutes Wesen. "Selbst wenn Euer Herz nicht wie eine tiefe Grube in einer Nacht ohne Mondschein wäre", hatte sie dem Hexenmeister gesagt, "würde ich mich Euch nicht geben. Lieber sähe ich meine Schönheit vergehen, ohne dass mich jemals ein Mann berührte."
Der Hexenmeister strafte die Zauberin, indem er ihre Worte wahr werden ließ. Seine Magie schuf die Burg, wo hinein er die Stolze verbannte. Als einzigen Blick in die Welt, gab er ihr einen magischen Spiegel. Doch immer, wenn sie in den Spiegel sah, erblickte auch sie sich darin. Der Hexenmeister war mit seiner stärkeren Magie zwar mächtiger, als die Zauberin, doch er war nicht allmächtig. Er vermochte die stolze Frau in der Burg gefangen zu halten, doch mehr Macht besaß er nicht über sie. Jahre vergingen, in denen die Zauberin ihre Kunst beschwor, um Rettung zu finden. Wieder und wieder schickte sie den weißen Vogel aus, der ihr Auge und Ohr war. Täglich schaute sie in den Spiegel, beobachtete die Geschehnisse der Welt, und wenn die Bilder schwanden, erblickte sie sich selbst in dem großen Kristall. Ein Abbild, das mit den Jahren älter wurde.
Manchmal vernahm sie im Schlaf die Stimme des Hexenmeisters, der sie quälte, indem er ihr seine lüsternen Gedanken in die Ohren keuchte. Dann verließ sie das Bett, ging zum Spiegel, um in die nächtliche Welt zu schauen, oder sie besuchte den weißen Vogel, dessen Krallen nachts in den Ast eines Baumes schnitten, der inmitten eines gezauberten Waldes stand, der eine riesige Halle füllte. Der Vogel schien nie zu schlafen. Betrat die Zauberin mit einem Licht in der Hand seinen Wald, wartete er schon auf sie. Im Lichtschein, das den Zauberwald mit Helligkeit füllte, sprachen die Zauberin und der Vogel miteinander und vergaßen so für Stunden Ort und Zeit.
Die Bilder im Spiegel verschwammen. Nur noch schwach waren die beiden Gestalten zu erkennen, die von dem toten Drachen fort, in Richtung des Waldes gingen, der Mensch vorneweg, der Ork folgend. Die Zauberin hörte, wie die Luke im Felsdach sich knirschend öffnete. Der weiße Vogel kehrte zurück. Die Zauberin lief in den Erkerturm und schaute aus der Burg hinaus. Sie sah schwarze Fellgestalten die Felswand empor huschen und in den ovalen Öffnungen verschwinden. Die Weffel und der Vogel konnten die Burg verlassen, die Zauberin nicht. Schon oft hatte sie sich von ihrem gefiederten Freund in die Höhe tragen lassen, um durch die einzige Öffnung zu fliehen, die groß genug für sie war. Stets war die Luke geschlossen geblieben, während sie sich dem Vogel öffnete, wenn er sich ihr alleine näherte. Dies hatte der Hexenmeister als zusätzliche Pein ersonnen.
Den Saum des blauen Kleids gerafft, eilte die Zauberin die steinernen Stufen empor, in die Halle des Vogels. Der Zauberwald wurde von warmem Licht erhellt, das die Zauberin, wie auch den Wald selbst, zum Wohlbefinden des Vogels erschaffen hatte. Sie lief zwischen den Bäumen her, über den weichen mit Moos bewachsenen Boden bis zur Mitte des Waldes, wo sie der weiße Vogel auf seinem Baum erwartete. Er hüpfte auf einen tieferen Ast hinab, um mit der Zauberin auf Augenhöhe zu sein.
"Xexeren!", grüßte der Vogel. "Du hast es gesehen?"
"Ja, Rahis, und ich bin sehr zufrieden."
Der Vogel zuckte den Kopf. Er schaute die Zauberin aus einem himmelblauen Auge an. "Im Bündnis der drei, die sind wie Erde, Wasser und Luft, werden sie sein, dich zu befreien", zitierte er eine Weissagung. "Glaubst du, die beiden werden zusammenhalten?"
"Ich hoffe es."
"Und glaubst du, sie sind die Richtigen?"
"Sie müssen es sein, Rahis. Kam der Mensch nicht aus der Luft? Stammt der Ork nicht aus dem trockenen Land?"
"Die Weissagung sprach vom Bündnis der drei!"
Die Zauberin lächelte. "Der Dritte wird ein Gnom aus den Sümpfen sein. Damit wären sie vereint, die drei, die sind wie Erde, Wasser und Luft."
"Ich habe keinen Gnom gesehen", sagte der Vogel.
"Du konntest ihn nicht sehen, weil er durch den Wald kam. Doch ich sah ihn im Spiegel. Er strebt seiner Heimat auf dem Fluss entgegen."
"Wie soll er zu den anderen gelangen?"
"Darum kümmert Nineve sich."
Der Vogel zuckte den Kopf vor und zurück, was ein Lachen ausdrückte. "Dann hat der Gnom keine Wahl, und es werden wahrhaftig drei einen Weg gehen." Ein Rascheln in einem Gebüsch erregte die Aufmerksamkeit des Vogels. "Mich hungert", sagte er, schwang sich hoch und breitete die Flügel aus.
Die Zauberin spürte den Luftzug, den die Schwingen erzeugten, über sich streichen. Ihr schwarzes Haar wehte. Rauschend stürzte der Vogel zwischen den Bäumen nieder. Ein erbärmliches Quieken erklang, das jäh abbrach. Mit dem blutigen Körper eines Weffel zwischen den Klauen, kehrte der Vogel zurück. Er ließ sich auf dem Baum nieder und begann das Tier zu zerfetzen.
Weffel waren hundeartige Tiere, doch sie glichen auch den langschnauzigen Affen, die in den heißen Wäldern des Südens lebten. Die Weffel waren die Dienerschaft der Zauberin und die Nahrung des Vogels. Sie waren jene scheinbar wilden Hunde gewesen, die den Mensch und den Ork angegriffen hatten. Dies war die List gewesen, womit die Zauberin die beiden ungleichen Männer hatte zusammenbringen wollen.
Xexeren wollte Rahis nicht bei der Mahlzeit stören. Sie verließ den Wald und kehrte in das Spiegelzimmer zurück. Die Zauberin stellte sich vor den Kristallspiegel. Sie konzentrierte sich darauf, ließ ihre Gedanken und Gefühle in ihn gleiten. Das Abbild ihrer selbst wich einem anderen Bild. Es zeigte einen Gnom, der ein Boot mit der Flussströmung lenkte.
Davon abgesehen, dass er gerne eine Pfeife geraucht hätte, war Snees zufrieden. Er hatte die Schlacht überlebt, befand sich auf dem Heimweg, und der vergallte Krieg konnte ihm aus der Hand glitschen. In sanften Windungen schlängelte der Fluss sich nach Südwesten, den Sümpfen entgegen. Es gab keine wirbelnden Strömungen, keine Untiefen, die den Kiel des Bootes hätten aufreißen können. Also, was sollte ihm geschehen? Und doch empfand Snees ein Bedauern. Er dachte an die vielen Gnome, die tot auf dem Berg lagen. Statt in Schilfmatten gewickelt auf Gestellen im Sumpf aufgebahrt zu werden, mussten ihre Körper in einem fremden Land verwesen. Vielleicht würden Menschen die toten Gnome auf die Ebene bringen und sie dort in der Erde vergraben. So machten die Menschen es mit ihren Toten, davon hatte Snees gehört. Oder sie würden die Gnome in den Fluss werfen, der die Leichen zu den Sümpfen trug. Aber das war wohl zu viel erhofft. Wahrscheinlich würden die Menschen nur ihre eigenen Toten vergraben, und von den Orks war erst recht nichts zu erwarten. Genug der trüben Gedanken! In den Sümpfen wuchs ständig neuer Laich heran, und niemand wusste, welche Gnomin ihn gelegt, welcher Gnom ihn besamt hatte. Was galten da schon die Artgenossen, die tot im Gebirge blieben?
Snees horchte auf. Waren da nicht klatschende Geräusche hinter dem Boot zu hören? Sie klangen leise aus der Ferne, aber dem feinen Gehör des Gnoms entgingen sie nicht. Die Laute klangen wie abgehackt, ein schnelles Stakkato aus klatschendem Wasser, das stetig lauter wurde. Snees schaute den Fluss hinauf. Dort bewegte sich etwas, was dem Boot folgte. Als es näher kam und größer wurde, erkannte der Gnom einen Mensch. Sein Cape flatterte im Laufwind. Snees staunte darüber, dass der Mensch auf dem Wasser lief. Das brachte nicht mal ein Sumpfgnom zustande. Vielleicht können Menschen nicht schwimmen, dachte er, und müssen deshalb auf Wasser laufen. Doch weshalb folgte dieser Mensch dem Boot? Menschen waren Feinde! Snees zog den Säbel aus der Scheide und stellte sich im Heck des Bootes auf.
Der Verfolger näherte sich rasch. Seine Kleidung, die, soweit der Gnom erkennen konnte, aus Hose, Hemd und Cape bestand, war himmelblau. Sein Körper war schmal. Das kurze Haar schimmerte gelb. Er schien keine Waffe bei sich zu tragen, es sei denn, er hielt sie unter der Kleidung verborgen. Wasser spritzte unter seinen Füßen auf. Die Arme schnellten vor und zurück. Weil Snees das Steuerruder nicht mehr hielt, trieb das Boot auf das Ufer zu. Der Gnom bemerkte es nicht. Von dem wundersamen Anblick fasziniert, starrte er zu dem Mensch hin. Als die rechte Bootswand das Ufer rammte, war der Mensch heran. Er machte einen Sprung, vor dem Snees zurückschreckte, und stand im Heck des Bootes. Es gab kaum ein Geräusch, als seine Füße die Planken berührten. Das Boot schaukelte, stand aber schnell wieder still.
Aus großen Augen schaute der Gnom zu dem Mensch auf. Der hatte ein helles, überaus zartes Gesicht und war von hohem Wuchs. Er überragte den Gnom um das Doppelte. Niemals hatte Snees einem Menschen so nahe gegenüber gestanden. Er hatte Menschen nur aus der Ferne und meistens gerüstet gesehen. Deshalb wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Dazu wirkte dieser Mensch nicht bedrohlich, er lächelte sogar. Der Mensch öffnete die Lippen. Laute kamen aus seinem Mund. Sie klangen anders als das Gebrüll und Geschrei, das der Gnom bisher von Menschen gehört hatte. Diese Laute klangen sanft. Sie wirkten beruhigend auf Snees. Er hockte sich hin und legte den Säbel neben sich. Der Mensch ließ sich auf die Heckbank nieder. Er zog das Cape über die Schenkel, damit es nicht ins Wasser hing.
"... dein Name?", glaubte Snees zu verstehen. Er blickte in die hellen Augen seines Gegenübers. "Snees", sagte er. "Und du? Bist du ein Mensch?"
"Ich bin Nineve. Ich gehöre zur Rasse der Elfen."
"Elfen? Wer sind Elfen?"
"Was du über Elfen zu wissen begehrst, wirst du vielleicht eines Tages erfahren", entgegnete Nineve. "Jetzt aber wende dein Boot oder schwimme den Fluss hinauf, denn du hast eine Aufgabe zu erfüllen."
Der Gnom blinzelte irritiert. "Eine Aufgabe? Ich?"
Nineve schien über die Reaktion des Gnoms belustigt zu sein, denn ihre Lippen formten ein Lächeln. Ja, ihre Lippen! Wären Snees Menschen besser bekannt gewesen, und hätte er etwas über Elfen gewusst, wären ihm die Wölbungen aufgefallen, die sich unter Nineves Hemd abzeichneten. Sie zeigten eindeutig, dass es sich bei ihrer Person um eine Frau handelte. Doch ebenso wie Menschen und andere Wesen, übersahen auch Gnome oft, was ihnen unbekannt war, weil es nicht in das Bild passte, das sie von der Welt besaßen. Sumpfgnomenmütter waren von der Natur nicht dazu ausgestattet, ihren Nachwuchs zu säugen. Dies brauchten sie auch nicht, denn schon als Quappe war der Nachwuchs dazu fähig, sich selbst zu ernähren.
"Also, kleiner, gelbhäutiger Mann", sagte die Elfe in ruhigem, doch bestimmendem Ton, "wende dein Boot oder schwimme zurück!"
"Habe ich eine andere Wahl?", fragte Snees.
Die Elfe schüttelte den Kopf.
Snees seufzte. Alleine konnte er das Breitboot nicht gegen die Strömung rudern, also musste er schwimmen. Verwirrt kniff er die Augen zusammen. Weshalb fragte er überhaupt, ob ihm eine andere Wahl blieb? Welches Recht nahm dieser Elfen-Mensch sich heraus, über ihn zu bestimmen? Er mochte über Wasser laufen können, und seltsamerweise beherrschte er die Sprache der Gnome, die nicht einmal die Orks sprechen konnten. Aber deshalb durfte er nicht über Snees bestimmen. "Geh!", sagte Snees. Er griff den Säbel und stand auf. "Du kannst nicht wirklich sein. Wenn ich den Säbel in dich steche, schneidet er nur durch Luft."
Nineve lachte und erhob sich ebenfalls. "Darauf will ich es nicht ankommen lassen", erwiderte sie. Sie sprang über das Heck, und als sie auf dem Wasser stand, versank sie bis zu den Waden darin. Die Elfe zog das Boot vom Ufer, drehte es, bis der Bug gegen die Strömung zeigte, und stieß es mit Schwung ab.