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Rita
ОглавлениеVier Monate nach der Ermordung Nicolas trifft Pieras Schwägerin Rita in Rom ein. Als sie Rita kennenlernte, war die Schwester ihres zukünftigen Mannes erst sieben Jahre alt. Jetzt hat »die Kleine« beschlossen, in Pieras Fußstapfen zu treten. Auch sie will mit der Justiz zusammenarbeiten und unter Polizeischutz leben. »Wir waren nicht einfach Schwägerinnen, wir waren Freundinnen. Wir haben einander alles anvertraut.«
Rita war elf Jahre alt, als ihr Vater Vito erschossen wurde. Nun hat sie auch den Bruder verloren und ihre Schwägerin ist de facto verschwunden. So vertraut sich die 17-Jährige ebenfalls Staatsanwalt Paolo Borsellino an. Sie hat wie Piera lange Zeit ein Tagebuch geführt, das sie Zio Paolo, also Onkel Paul, wie sie ihn später nennen wird, übergeben will. Er wird für Rita zur zentralen Figur in ihrem Leben als Kronzeugin.
Der persönliche Preis für diesen mutigen Schritt ist hoch. Das ohnehin schwierige Verhältnis zur Mutter endet mit einem völligen Bruch der Beziehung. Rita wird von ihr verstoßen. Die eigene Mutter sagt sich von ihr los und ist sogar bereit, die »abtrünnige Tochter« – ihr jüngstes Kind – umbringen zu lassen. Doch Rita lässt sich, genau wie Piera, nicht beirren. Sie will nicht nur Vater und Bruder rächen, sie will ein ganzes System aufdecken. Beide Frauen legen schonungslos alles auf den Tisch und geben Namen, Fakten und Zusammenhänge preis.
»Ich möchte nicht in Details gehen, selbst wenn viel Zeit vergangen ist und die Prozesse abgeschlossen sind«, sagt Piera Aiello, »aber es ging um sehr schwerwiegende Verbrechen. Es ging um Drogen- und Waffenhandel. Und vor allem ging es um die mafiösen Verflechtungen in der Gesellschaft.«
Dank ihrer Aussagen erhalten die Ermittler erstmals Einblick in den blutigen Mafiakrieg in Partanna, der rund 30 Todesopfer gefordert hat. Mehrere Mafiosi landen hinter Gittern. Doch vor allem kann die Justiz nun Verstrickungen zwischen der Cosa Nostra und der Politik nachverfolgen. Ein Grundproblem, das das Land bis heute beschäftigt.
Am 23. Mai 1992 erschüttert ein Attentat ganz Italien. Der Mafiajäger Giovanni Falcone wird mit seiner Frau und drei Leibwächtern ermordet. Ein auf der Autobahn deponierter Sprengsatz von 500 Kilo TNT reißt einen riesigen Krater in die Fahrbahn. Die Detonation ist weit über Palermo hinaus zu spüren und wird im ersten Augenblick als Erdbeben interpretiert.
Knapp zwei Monate später rüttelt eine weitere Explosion das ganze Land auf. Falcones Freund und Mitstreiter Paolo Borsellino wird vor dem Haus seiner Mutter in die Luft gesprengt. Eine in einem Auto versteckte Bombe reißt weitere fünf Menschen in den Tod. Unter ihnen ist auch Emanuela Loi, die erste und bisher einzige Leibwächterin, die einem Mafiaanschlag zum Opfer gefallen ist.
Der Tod der beiden Juristen bedeutet einen schweren Schlag für den Kampf gegen die Mafia, aber auch für Piera und Rita persönlich. Ihre wichtigste Bezugsperson, die einzige, der sie wirklich vertrauten und die sie schützte, ist tot. Rita fällt in eine tiefe Depression. Nur eine Woche nach der Ermordung von Zio Paolo springt die junge Frau, die gerade aus Sicherheitsgründen in Rom eine neue Wohnung bezogen hat, in den Tod. Sie wirft sich vom siebten Stock eines Gebäudes in die Tiefe. Wenige Tage später wäre Rita 18 Jahre alt geworden.
Die Nachricht von ihrem Tod wird von den Insassen im Gefängnis von Trapani mit einem langen Applaus aufgenommen. Nach dem Begräbnis wird Ritas Mutter mit einem Hammer das Foto auf dem Grabstein ihrer Tochter zerschlagen und dafür verurteilt werden. Das Band der Mafia erweist sich einmal mehr als stärker als das der Liebe zur eigenen Familie.
Piera selbst kann nicht am Begräbnis teilnehmen. »Aus Sicherheitsgründen«, wie man ihr erklärt. Für sie beginnen nun lange, schwierige und teilweise sehr einsame Jahre, eine Erfahrung, die sie heute in ihre Arbeit als Parlamentarierin einfließen lässt. »Als ich mich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschloss«, sagt sie, »wusste ich gar nicht, was eine Kronzeugin eigentlich ist und worauf ich mich einlassen würde.« Erst später lernt sie, dass es auch Justizkollaborateure gibt, sogenannte reuige Mafiosi, die ebenfalls im Zeugenschutzprogramm und daher mit einer falschen Identität leben.