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Der Weg in den Zeugenstand

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Piera hatte in all den vorhergehenden Jahren Tagebuch geführt. »Nicht für die Polizei«, wie sie sagt, »sondern für mich selbst.« Das Schreiben hatte eine Art therapeutische Wirkung auf sie und die Reflexion über das täglich Erlebte und Gehörte machte dessen Verarbeitung etwas leichter. Immer wieder hatte Nicola seiner Frau Geheimnisse aus der Welt der Mafia anvertraut. Schwarz auf weiß dokumentierte sie heimlich seine Schilderungen. So, als hätte sie geahnt, dass all diese Seiten eines Tages zu ihren besten Verbündeten würden. Doch Piera hat jetzt noch einen Trumpf in der Hand: Sie hat die Mörder ihres Mannes erkannt. Sie weiß, dass das ihren Tod bedeuten kann. Sie spürt aber auch, dass diese Kombination das Tor zu einer neuen Freiheit werden könnte.

»Es war keine bewusste Entscheidung«, sagt sie heute. »Aber ich hatte Mörder frei herumlaufen sehen, die unschuldige Familienväter getötet hatten. Jetzt war Nicola tot. Da hat sich in meinem Inneren eine Art Licht entzündet – wie eine Art Leuchtturm –, das mir den Weg wies.«

Piera weiß nun, sie muss sich der Justiz anvertrauen. Kurz nach dem dritten Geburtstag ihrer Tochter schleicht sie heimlich aus dem Haus. Gebetsmühlenartig wiederholt sie innerlich die Worte ihrer Großmutter väterlicherseits, der einzigen Person, der sie sich anvertraut hat. »Hab keine Angst. Wer die Wahrheit sagt, muss nichts befürchten. Hab Vertrauen.«

Piera hat eine Verabredung mit einem Polizisten, der sie in eine weiter entfernte Kaserne der Carabinieri bringen soll. Niemand darf wissen, dass sie mit der Polizei in Kontakt ist. Doch auch die Polizisten selbst sind skeptisch. Keine Frau in der Region hat bisher jemals gegen die Cosa Nostra ausgesagt. »Ich konnte aber nicht mehr schweigen. Mein Heimatort war ein Ort der Witwen und Waisen geworden. Über 20 Jahre lang hat es eine blutige Fehde im Belice-Tal gegeben. Und damit auch bei uns in Partanna.«

Partanna ist eine Kleinstadt mit rund 10.000 Einwohnern, in deren Zentrum ein gut erhaltenes, arabisch-normannisches Kastell liegt. Von dort hat man einen spektakulären Ausblick auf die sanften Hügel des Belice-Tals. Doch der Ort liegt abseits von Touristenpfaden und die Bewohner leben auch heute noch in erster Linie von der Landwirtschaft. Bis in die 1980er Jahre waren es vor allem Bauern und Hirten, die im kleinen Städtchen das Sagen hatten. Auch die Strukturen der Mafia waren ländlich und vergangenheitsbezogen. Doch dann kam es zu einem Generationenwechsel und damit taten sich neue Geschäftsfelder und scheinbar unversiegbare Geldquellen auf. »Es ging um Drogen und um den Handel mit Drogen, der riesige Gewinne einbrachte. Die alten Mafiosi waren aber gegen diese Art von Geschäft. Es war daher ein harter Kampf, denn es ging auch um die Frage, wer die Herrschaft über das ganze Gebiet übernimmt.«

Diese Kämpfe, erinnert sie sich auch heute noch mit Grauen, wurden meist mit der Waffe ausgetragen. »Oft gab es sogar mitten am helllichten Tag Schießereien. Dabei wurden unschuldige Menschen erschossen oder verletzt. Es war wie im Wilden Westen.«

In der Kaserne wird Piera einem ihr unbekannten Mann vorgestellt. Er wird ab nun ihr wichtigster Ansprechpartner sein. Es ist einer jener beiden Richter, deren tragisches Schicksal Italien bis heute prägt. »Ich bin Paolo Borsellino«, sagt er und reicht der jungen Frau die Hand. »Für deine Aussagen riskierst du dein Leben, deswegen wirst du von hier wegmüssen.«

Am 30. Juli 1991 verlässt Piera mit ihrer kleinen Tochter und einigen wenigen Habseligkeiten wie Kleidung und Spielzeug die Insel. Anti-Mafia-Staatsanwalt Paolo Borsellino rät ihr lächelnd, »Sizilien aus ihrer persönlichen Landkarte zu streichen«. Wenige Stunden später befinden sich Mutter und Kind in Rom an einem sicheren Ort. Die stundenlangen Aussagen der vergangenen Tage haben Piera geschwächt, die neue Situation verunsichert sie und sie realisiert, dass sie wieder in einer Art Gefängnis lebt. In den kommenden Jahren werden die sie beschützenden Carabinieri ihre »Familie« werden. Frei bewegen kann sie sich nicht.

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