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Am Tatort

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Eines ihrer wohl bekanntesten Fotos ist genau so entstanden: aus der Intuition heraus und spontan. Wenn Letizia Battaglia davon erzählt, spürt man, wie sie selbst tief in die Geschichte eintaucht. »Es geschah am 6. Januar 1980«, beginnt sie. »Es war ein wunderschöner Sonntag und noch dazu der Dreikönigstag, der in Italien ja sehr gefeiert wird. Franco und ich waren mit meiner Tochter Patrizia in einen Park gegangen. Dort haben wir, wie so oft, in der Bar geplaudert und uns über unsere Projekte ausgetauscht. Wir waren alle sehr entspannt und sind einige Zeit später zu unserem Auto zurückgegangen.« Die drei steigen in fröhlicher Stimmung in ihren Fiat 600, um zum Mittagessen nach Hause zu fahren. Kurz darauf nehmen sie in der eleganten Via della Libertà am Straßenrand ein Auto wahr, um das sich einige Menschen drängen. »Es waren ungefähr sechs, sieben Personen. Im ersten Augenblick dachten wir, da hat jemand einen Autounfall gehabt, und wollten einfach weiterfahren.« Doch irgendetwas kommt ihnen sonderbar vor. Sie halten an und greifen zu ihren Fotoapparaten. »Vor unseren Augen hat sich eine dramatische Szene abgespielt. Eine Frau weinte, eine andere schrie und im Auto selbst lag ein lebloser Mann. Ein zweiter Mann versuchte ihn aus dem Inneren des Wagens zu ziehen.« Wie automatisch schießt Letizia Battaglia »einige verwackelte Fotos« und friert damit diese aufwühlenden Momente für immer ein.

»Wir haben die Aufgabe, bis zum Schluss zu kämpfen, um so das Beste für die Gesellschaft zu erreichen.«

LETIZIA BATTAGLIA

»Ich wusste nicht, wer die Menschen waren. Aber schon kurz darauf erfuhr ich, auf wen hier geschossen worden war: Es war der Präsident der Region Sizilien. Das war ein Riesenschock für uns alle.«

Der 44-jährige Piersanti Mattarella, bekannt für seinen klaren Anti-Mafia-Kurs, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Mörder hatte den Zeitpunkt genau kalkuliert. Der christdemokratische Regionalpräsident war im Begriff, mit seiner Familie zur Messe zu fahren. Dabei wollte er möglichst unauffällig sein und hatte seinen Leibwächtern daher freigegeben. Piersanti Mattarella war gerade in sein Fahrzeug eingestiegen, als der Killer an die Fensterscheibe trat und auf den wehrlosen Politiker schoss. Die Kugeln trafen den Regionalpräsidenten in den Kopf, in die Brust und den Bauch. Piersanti Mattarella hatte keine Chance, dieses Attentat zu überleben. Die Cosa Nostra tötete damit einen ihr unbequemen, weil reformfreudigen und kritischen Juristen und Zentrumspolitiker, einen Schüler des ebenfalls ermordeten Ministerpräsidenten Aldo Moro, und traf gleichsam ein Symbol staatlicher Autorität.

Die erste »fremde Person am Tatort« ist Letizia Battaglia. »Wir hatten unfreiwillig eine Sensationsnachricht geliefert. Denn zu diesem Zeitpunkt war außer uns niemand von der Presse vor Ort.« Das bedrückende Foto macht in Windeseile in ganz Italien die Runde.

Dreieinhalb Jahrzehnte später taucht dieser Schnappschuss wieder auf und eine zweite Betrachtungsebene wird deutlich. »Denn der Mann, der den leblosen Piersanti Mattarella aus dem Auto zieht und ihm Erste Hilfe leistet, ist heute der Präsident der Republik Italien.« Piersantis um sechs Jahre jüngerer Bruder Sergio Mattarella wird 2015 vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt.

Über das Attentat, bei dem auch seine Schwägerin verletzt worden ist, spricht der zurückhaltende frühere Universitätsprofessor so gut wie nie. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sein Eintritt in die Politik mit jenem tragischen Dreikönigstag zu tun hat. Denn bald darauf schließt sich Sergio Mattarella ebenfalls der Democrazia Cristiana an. 1983 wird er erstmals in das Abgeordnetenhaus gewählt. Wie sein Bruder zählt auch er zum linksorientierten Flügel der DC.

»Dieses Foto«, sagt Letizia Battaglia heute, »hat also eine doppelte Bedeutung. Das zeigt mir, dass die Fotografie nicht nur für mich persönlich wichtig ist, sondern für die Gesellschaft an sich. Sie kann zu ihrem Gedächtnis werden. Wenn ich heute Jugendliche treffe, die von all dem, was damals geschehen ist, keine Ahnung haben, lernen sie Geschichte auch dank meiner Fotografien.«

Letizia Battaglias Weg als Pressefotografin war jedoch mit vielen Steinen und Vorurteilen behaftet. »Die Arbeit in jenen Jahren war ohnehin hart und auch persönlich sehr belastend«, betont sie, wenn ich sie auf ihre internationale Bekanntheit als Starfotografin anspreche, aber für eine Frau, fügt sie dann hinzu, sei das damals noch schwieriger gewesen als für einen Mann. »Anfangs hat mich die Polizei oft vom Tatort verwiesen. Sie ließen mich einfach nicht durch. Aber auch Kollegen oder andere Leute sahen mich mit Unverständnis an. Ich wurde wie ein kleines Dummchen behandelt, das mit einem Fotoapparat herumläuft, um sich damit wichtigzumachen.«

Es habe Jahre gedauert, doch dann hatte sie sich den nötigen Respekt gesichert. »Heute anerkennen die Leute in Palermo die Arbeit, die ich gemacht habe, und ich kann sagen, sie lieben mich sogar«, lacht sie und fügt, noch immer kämpferisch, hinzu: »Ich habe mir einfach nichts mehr gefallen lassen.«

Letizia Battaglias Arbeit war kräfteraubend. Die »schnell geschossenen Pressefotos« waren die Frucht großer Anstrengung, zieht die frühere Fotojournalistin heute Bilanz. 19 Jahre – so lange arbeitete sie als Pressefotografin – musste sie ununterbrochen präsent sein. »Tag und Nacht, Sonn- und Feiertage, Karneval inklusive: Es gab keine Verschnaufpausen.«

Letizia Battaglia hörte den Polizeifunk ab, war oft die Erste am Tatort und fotografierte die Opfer der Cosa Nostra und deren Angehörige. Dann ging es in die eigene Dunkelkammer, die Fotos wurden entwickelt und veröffentlicht.

Schon bald war ihr klar: Sie hatte sich, ohne es zu wollen, definitiv dem Kampf gegen die Mafia verschrieben, und als Fotografin tat sie das mit einer unverwechselbaren Handschrift: Sie fotografierte ausschließlich in Schwarz-Weiß. So konnte sie mehr Tiefe und Ausdruck erreichen, ist sie überzeugt, und gleichzeitig jenen respektvollen Abstand wahren sowie die menschliche Anteilnahme garantieren, die ihr bei ihrer Arbeit immer so wichtig gewesen sind. »Technisch war ich nie sehr begabt«, sagt sie auch heute noch, »der Ausschnitt, die Schärfe, das Licht, all das hat mich sehr gefordert. Wenn man dann noch die Emotionen hinzudenkt, die man empfindet, die zitternde Hand angesichts von Tod und Verzweiflung …«

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