Читать книгу Spur der Todesengel - Matthias Boden - Страница 11
Luftraum über dem Atlantik
ОглавлениеDie silbern lackierte Gulfstream aus Nassau flog in 34.000 Fuß Höhe über dem tiefen Meer des Atlantiks durch den völlig schwarzen Nachthimmel. Nur die Positionslichter blinkten in regelmäßigen Abständen still, an den Tragflächen vor sich hin. Die Agenten des ersten Interpolteams waren auf dem Weg nach Amsterdam. Alle drei Kinder waren bei Jason geblieben, der sich mithilfe einer jungen Erzieherin um die Babys kümmerte, während die Mütter unterwegs waren. Zusammen saßen sie um den kleinen Tisch versammelt, an dem Mike aus seinem Laptop die Informationen, die bisher bekannt waren, über die Fälle vortrug. Die letzten Hinweise aus der Hauptstadt der Niederlande waren gerade eingegangen. Die Ermittler vor Ort konnten keinen Verdächtigen ausfindig machen, gaben sich aber die größte Mühe anhand der Ergebnisse etwas herauszufinden. Michael, der gerade seine geliebte Leonie sanft streichelte, hörte wie immer mit geschlossenen Augen zu. Dolores lehnte an der kleinen blonden Frau und kaute auf ihrem Kugelschreiber herum. Die Teamleiterin konnte sich nicht an diesen Anblick gewöhnen. Immer wenn der ehemalige Bodyguard die Augen schloss, dachte sie es würde ihn alles nicht interessieren was der Hacker gerade sagte.
Liz saß den dreien direkt gegenüber, neben dem Hacker, der ganz außen am Fenster saß und seine Frau neben sich hatte. Karyani hatte ihre Hände auf die Lehnen ihres Sessels gelegt und lauschte der Stimme ihres Mannes. Nachdem er die letzten Informationen aus Amsterdam verlesen hatte, brach es aus Liz hervor, »Micha! Es macht mich wahnsinnig, wenn du die ganze Zeit hier sitzt und aussiehst, als würdest du schlafen. Was treibst du da?«
Ohne die Lider anzuheben, antwortete er scherzhaft, »Ich überlege, wie es am wenigsten auffallen würde dich loszuwerden Liz, aber es will mir einfach nichts Brauchbares einfallen.«
Leonie gab ihm eine sanfte Ohrfeige, was ihn veranlasste, zu sagen, »Ich verarbeite die Informationen, die Mike uns zukommen lässt. Damit ich mich nicht auf andere Eindrücke konzentrieren muss, schließe ich die Augen und mache mir geistige Notizen.«
»Ich verliere da immer wieder den Faden weil es mich irre macht, dich so zu sehen«, schimpfte die englische Agentin.
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, scherzte er, »Das ist kein passender Spruch für eine Tamponwerbung.«
Wieder einmal fingen alle Mitreisenden an zu lachen. Niemand erwartete solche Sprüche, die Michael so trocken herüberbrachte, als würde er gerade den Wetterbericht verlesen. Leonie und Dolores, die den ganzen Tag mit ihm verbrachten, waren das mittlerweile gewohnt, aber auch sie mussten über seine Scherze lachen. Seit ihn Leonie gezähmt hatte, und sie alle zu Freunden geworden waren, behandelte er sie vorbildlich. Ab und an trafen seine Aussagen immer noch einen Nerv, aber er bemühte sich sehr, niemanden mehr zu verletzen. Seine Frau sorgte dann schon dafür, dass er wieder pflegeleicht wurde. Auch Dolores hatte bereits einen kleinen Einfluss auf ihn. Er betrachtete die Frau seiner Frau eher als seine Tochter, und auch sie sah in ihm so etwas wie einen väterlichen Freund.
Als Liz sich vom Lachen erholt hatte, fragte sie nach, »Du machst dir geistige Notizen? Wie funktioniert das denn?«
Michael öffnete seine Augen und blinzelte in die Runde, »Wer wissen möchte, wie das funktioniert, macht jetzt bitte die Augen zu und entspannt sich.«
Alle bis auf Mike machten die Augen zu, brachten sich in eine bequeme Position und erwarteten seine Tipps. Er setzte fort, »Stellt euch alle eine völlig leere Pinnwand vor. Wenn ihr jetzt Fakten hört, egal was es auch ist, nehmt ihr euch einen Klebezettel zur Hand, notiert die Aussage darauf und klebt sie auf die Pinnwand. Je genauer ihr die Zettel in Gedanken beschreibt und anklebt, umso mehr könnt ihr euch am Ende merken. Wenn ihr es testen wollt, werde ich euch eine kleine Geschichte erzählen und kurz vor unserer Ankunft abfragen.«
Karyani wollte es genauer wissen, »Sekunde Micha. Wie soll das am Ende genau funktionieren?«
»Konzentriert euch einfach nur auf die Klebezettel, die ihr in einer Reihenfolge eurer Wahl aufklebt. Alles was darauf vermerkt ist erinnert euch wieder an die Geschichte und ihr werdet die Pinnwand wieder vor euch sehen, wenn ihr die Augen zumacht und euch die Pinnwand wieder vor eure inneren Augen holt«, erklärte er mit ruhiger Stimme.
Dann fing er an zu erzählen, »David Campfort, Generalagent der Golden-Service-Versicherung, wohnhaft im Londoner Stadtteil Southwark, plante sein Vorgehen sorgfältig. Er begann damit, seine Frau Corinne und die Zwillingstöchter Holly und Shelly aufs Land zu schicken. Das war am Freitagabend. Am Sonnabend nahm er die letzten 1250 Pfund aus dem Wandsafe seines Büros und verließ sein Haus. Als Camfort gegen 18 Uhr vom Pferderennen zurückkehrte, war auch dieses Geld verwettet. Mit einem Wort: Er war bankrott. Seine Wettleidenschaft hatte ihn ruiniert. Ungerührt begann er den, für diesen Fall vorgesehenen, zweiten Teil seines Planes zu verwirklichen. Mithilfe einer kleinen, genau abgewogenen Dynamitladung sprengte er den Wandsafe in seinem Büro auf. Dann leerte er den Inhalt sämtlicher Behältnisse wie Schubladen, Schränke und Fächer auf den grauen Fußboden aus Marmor. Er riss das Telefon aus der Anschlussdose und alle 25 Ordner aus den Regalen. Direkt im Anschluss nahm er sein Mobiltelefon aus seiner linken Hosentasche und meldete der Polizei einen Diebstahl.«
Dann sollten alle wieder ihre Augen öffnen. Blinzelnd blickte die gesamte Truppe in das helle Licht der hinteren Kabine der Gulfstream. Michael lächelte seine Freunde an, als er einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche nahm. Dolores fragte vorsichtig, »Wie kommst du nur immer auf solche Geschichten, die sich kein Mensch merken kann?«
»Das ist ganz einfach«, lachte er mit dunkler Stimme. »Die ziehe ich mir einfach aus dem Arsch und merke mir Kleinigkeiten, die ich euch später abfrage.«
Liz mischte sich ein und sagte bedrückt, »Wenn du mich jetzt schon fragen würdest, bekäme ich garantiert nicht viel zusammen. Das waren so viele Informationen auf einem Haufen, die ich gar nicht wiedergeben kann.«
»Warte es einfach ab Liz«, beruhigte Korn, »wenn ich dich später frage und du auf deine Pinnwand mit den Klebezetteln starrst, wird da jede Menge stehen.«
Die Gulfstream näherte sich langsam der britischen Küste und die Sonne erhob sich langsam in weiter Ferne aus dem Meer. Die Agenten berieten sich die ganze verbleibende Zeit über ihr Vorgehen, bis plötzlich Mike die Diskussion unterbrach. Er hatte soeben eine Nachricht aus Lyon erhalten. Interpol war von einer Priscila Acosta aus Sevilla in Spanien kontaktiert worden, die behauptete einen Verdacht auf illegalen Organhandel zu haben. Die Agenten in Frankreich hatten die Frau in Windeseile überprüft und konnten ihre Lebensgeschichte an das Team übermitteln. Liz forderte den Hacker auf, sie über die Frau ins Bild zu setzen. Mike nahm sich noch einen kurzen Moment bevor er von seinem Monitor aufsah und anfing zu erzählen.
»Priscila Acosta, geboren am 07.07. 1995 in Sevilla. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in einer eher unruhigen Gegend der Stadt. Hat noch einen jüngeren Bruder, der Mitglied in einer Straßengang nahe Murcia an der Ostküste Spaniens ist. Nach einem eher durchschnittlichen Abschluss einer Mittelschule begann sie als Krankenschwester in der Saint Helena Klinik in Sevilla. Neben ihrer Ausbildung holte sie ein Wirtschaftsabitur an der Abendschule nach, dass sie mit zufriedenstellenden Noten erhielt. Danach weitere Fortbildungen als Oberschwester, bis sie den Posten auch innehatte. Weitere innerbetriebliche Weiterbildungen bis zur Qualifikation als Stationsleiterin. Diesen Job übt sie seit fünf Jahren aus und ist damit die jüngste Frau in Europa, die diesen Platz innehat.«
Dolores pfiff durch die Zähne, »Da ist jemand ganz schön die Karriereleiter nach oben gestolpert.«
»Mike, kannst du mir kurz sagen, wie alt der Chefarzt der Klinik ist?«, fragte Michael den Hacker.
Der Computerexperte bat ihn, einige Minuten zu warten, um diese Information auf seinen Bildschirm zu holen. Dann sagte er, »62 Jahre alt.«
»Zählt das schon als Leichenschändung?«, fragte Liz mit trockenem britischen Humor.
Karyani blickte ihre Kollegen nacheinander etwas böse an. Dann sagte sie, »Wie kommt ihr darauf, dass sie sich hochgebumst hat?«
»Kary, die Tante hat ihren Abschluss an einer Mittelschule nur knapp überstanden, meinst du wirklich, diese akademische Niete bringt es bis zu einer Stationsleiterin, ohne dem Chefarzt die Nudel auszuschlabbern?«, fragte Micha die goldglänzende Agentin.
Sie unterhielten sich noch eine Weile über Priscila Acosta, bis Liz alles unterbrach. Sie war auf eine Idee gekommen und teilte den Piloten mit, dass sie wie geplant in Amsterdam landen sollten, und danach sofort mit Kurs auf Sevilla wieder abheben. Dann eilte sie zurück und teilte ihr Team auf. Micha, Liz und Kary würden in Sevilla diese Stationsleiterin aufsuchen, während Mike zusammen mit Dolores und Leonie in Amsterdam den Ermittlern in Amsterdam einen Besuch abstatten konnten. Während sie ihr Team auf zwei Orte verteilte drehte die silberne Gulfstream leicht nach rechts ab. Der Pilot schaltete die Anschnallzeichen der Gulfstream ein. Über Westeuropa hatte sich ein Unwetter gebildet das ihren Weg auf die Hauptstadt der Niederlande blockierte. Er musste die Maschine durch die Gewitterzelle manövrieren, um kurz darauf in Amsterdam landen zu können.
Beim Anflug auf Amsterdam wurden die Ermittler ganz schön durchgerüttelt. Die Scherwinde zerrten an den Tragflächen und vereinzelte Luftlöcher ließen die Gulfstream weit nach unten absacken. Dolores klammerte sich an Leonie fest, die aber ihrerseits selbst schon zitterte und sich krampfhaft auf Michaels Oberschenkeln einrollte. Auch Karyani und Liz verloren die Farbe im Gesicht. Der Hacker klappte seinen Laptop zu, setzte sich aufrecht in seinen Sessel und hielt seine angetraute Frau im Arm. Einzig Michael saß völlig ruhig auf seinem lederbezogenen Sessel und versuchte Leonie und Dolly zu beruhigen. Ihm machte das wie gewöhnlich nicht viel aus. Nebenan am Himmel, der mit dunklen Regenwolken übersäht war, zuckten in immer kürzeren Abständen wilde Blitze und erschütterten die Aluminiumhülle der Maschine. Kurz vor dem aufsetzen, im verregneten Amsterdam beruhigte sich das wilde Geschaukel der Gulfstream. Dem Piloten gelang es sogar, noch mehr oder weniger sanft zu landen. Die Passagiere beruhigten sich wieder, nachdem sie sicher über den Taxiway an das Terminal rollten. Als die Gulfstream an ihrem Parkplatz stoppte, öffnete Michael die Tür der Maschine und senkte die Treppe auf den nassen Asphalt.
Vor dem Terminal standen die Agenten im Kreis und die Raucher inhalierten den blauen Dunst ihrer Zigaretten, die sie sich nach den neun Stunden in der Luft verdient hatten. Während sie sich entspannten, kam Michael auf seinen kleinen Test zurück. Mike, der nicht an seinem Experiment teilgenommen hatte, beobachtete die Runde mit einem Grinsen. Michael begann seine Fragen zu stellen.
»Wie hieß der imaginäre Betrüger? Als was arbeitete er bei welcher Gesellschaft? An welchem Tag schickte er seine Frau Corinne mit den Kindern aufs Land? Wie hießen die beiden Töchter? Welchen Betrag verwettete er und wo? Mit was öffnete er den Safe und zu guter Letzt wie viele Ordner landeten auf welchem Boden?«, formulierte er seine Fragen.
Die vier Frauen schlossen ihre Augen und riefen sich die Pinnwand mit ihren Zetteln wieder ins Gedächtnis. Dolores meldete sich als Erstes mit dem Namen David Campwell, der von Liz auf Campfort verbessert wurde, die auch gleich mit Generalagent der Golden-Service-Versicherung fortsetzte. Karyani beantwortete den Freitagabend, an dem er seine Töchter Holly und Shelly aufs Land schickte und Leonie meldete den Betrag von 1250 Pfund, die er auf der Pferderennbahn verzockte. Liz beantwortete die Frage, mit welchem Mittel er den Safe in seinem Büro aufsprengte, bis Dolly die 25 Ordner erwähnte, die er auf den grauen Marmorboden seines Büros verteilte. Michael klatschte leisen Beifall. Sie hatten alle seine Fragen richtig beantwortet.
Liz meldete sich, »Das war eine unglaubliche Erfahrung Micha«, gab sie zu. »Ich konnte, zumindest einige meiner Klebezettel auf der Pinnwand in meinem Kopf tatsächlich noch lesen.«
»Viele waren zwar ausgegraut und da stand nichts mehr, aber mit ein bisschen Übung wäre es sicher möglich, sich an alle möglichen Fakten zu erinnern«, meldete Dolores, die damit auch die Zustimmung von Leonie erhielt.
Auch Karyani kam zum selben Ergebnis, wie ihre drei Kolleginnen vor ihr. Alle waren sich darüber einig, dass diese Methode viele Vorteile bot.
Michael klärte sie schließlich darüber auf, »Auch wenn ihr gerade ein Gespräch hattet, und die Fakten noch frisch sind funktioniert das. Beruhigt euch, nehmt eine bequeme Position ein und konzentriert euch auf eure Klebezettel auf der leeren Pinnwand. Je öfter ihr diese Methode anwendet, umso mehr eurer Notizen könnt ihr noch lesen. Somit ist es sogar möglich, einen kompletten Fall nacheinander in den Gedanken zu notieren. Am Ende habt ihr eine ganze Kette, in die ihr weitere Infos eintragen könnt. Ich mache das schon jahrelang, deswegen schließe ich die Augen und schreibe mir das alles auf.«
Als die Gulfstream wieder aufgetankt war und die Piloten ihren vorgeschriebenen Rundgang machten, baten sie die drei Agenten, die nach Spanien fliegen würden an Bord. Mike blieb mit Dolores und Leonie, die ihre Waffentasche vor sich abgestellt hatte auf dem Flugfeld zurück. Michael gab seiner Frau einen dicken Kuss und impfte Dolly und dem Hacker ein, auf sie aufzupassen. Er versprach so lange auf die Ehefrau des Hackers zu achten. Dann bestieg er mit Liz und Karyani, die sich ebenfalls mit einem Kuss von ihrem Mann verabschiedete wieder die Gulfstream. Die Tür der Silber glänzenden Maschine wurde geschlossen und die Triebwerke fuhren langsam wieder an. Die drei zurückgebliebenen verfolgten den Pushback und die beginnende Rollfahrt zur Startbahn.