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Kapitel 1 Spanien, Sevilla
ОглавлениеIn Andalusien stand die Sonne bereits hoch am Himmel, als sie in ihrer neuen, großen Wohnung erwachte. Sie hatte dieses helle und freundliche Appartement, in der Innenstadt von Sevilla, erst vor Kurzem kaufen können. Priscila war 26 Jahre alt und arbeitete im Saint Helena Klinikum in Sevilla als Stationsleiterin der Transplantationsmedizin. Sie war die jüngste in ganz Europa, die so einen Posten bekleidete. In ihrer Freizeit ging sie mit Vorliebe zum Sport, um sich richtig auszupowern. Priscila war selbst herzkrank und musste täglich Tabletten nehmen, um die Auswirkungen ihrer Erkrankung zu unterdrücken. Durch einen Herzfehler waren ihre Herzklappen der linken Herzseite immer wieder nachgewachsen. Vor zehn Jahren bekam sie ein Spenderherz transplantiert. Ab und zu hatte sie das Problem, dass ihr Herzschlag etwas zu schwach war und es dabei zur Unterversorgung der Aorta führte. Durch ihre Medikamente war sie in der Lage genau so zu leben wie ein gesunder Mensch. Nur musste sie jedes Jahr einmal ein Herzkardiogramm über sich ergehen lassen.
Ansonsten war Priscila eher unscheinbar gewachsen. Mit ihrer Körpergröße von 1,55 m war sie deutlich kleiner als ihre Kollegen. Durch den vielen Sport, den sie fast exzessiv betrieb, war sie sehr schlank und konnte essen was sie wollte, ohne zuzunehmen. Mit ihren langen haselnussbraunen Haaren, die bis über die Brüste reichten, liefen ihr die Männer in Scharen hinterher. Die schlanke Frau allerdings war sehr wählerisch, was ihre Partner anging. Bisher war keiner dabei, der sie von sich überzeugen konnte. Sie liebte es, ihren bevorzugten Fußballclub FC Sevilla im Stadion anzufeuern, und wann immer es ihr Dienstplan erlaubte, war sie bei den Heimspielen dabei.
In den letzten zwei Wochen hatte sie ihren Sommerurlaub damit verbracht, ihre ganze Einrichtung aus ihrem kleinen gemieteten Appartement am Stadtrand, mithilfe ihrer Freunde in die neue Wohnung zu bringen und sich dort gemütlich einzurichten. Nun war sie unabhängig von Mietzahlungen und konnte die Vorteile einer umfassenden Sicherheitseinrichtung genießen. Der große freischwebende Balkon auf der Südseite im siebten Stock, bot einen wundervollen Ausblick über die Innenstadt von Sevilla. Das ganze Appartement war zusätzlich mit einer Klimaanlage ausgestattet, die auch in den heißesten Sommern die Wohnräume kühl hielt. Im Kellergeschoss des Gebäudes gab es für die Bewohner neben einem Swimmingpool noch eine Saunalandschaft und einen Fitnessraum. Für Priscila war das, neben der Ruhe so hoch über der Stadt, ein großes Verkaufsargument gewesen. Der Preis für das 120 qm große Appartement war auch nicht allzu teuer. Sie musste nur 650.000 Euro dafür aufbringen.
Heute war ihr erster Arbeitstag nach dem Sommerurlaub und sie musste zur Spätschicht in die Klinik. Die Sonne brannte über der Stadt und verbreitete eine große Hitze. Mit dem Fahrstuhl kam sie bis in die Tiefgarage, wo ihre beiden Autos parkten. Ihr war heute nicht nach dem roten Lamborghini Huracán EVO RWD Spyder. Stattdessen bestieg sie ihren schneeweißen Audi RS Q8, den sie mit ihrem Smartphone öffnen konnte. Durch NFC-Technik diente ihr Mobiltelefon als Fahrzeugschlüssel. Sie legte ihr Telefon auf die Mittelkonsole und startete den SUV. Dann fuhr sie durch die Innenstadt der viertgrößten Stadt Spaniens bis zur Saint Helena Klinik. Um die Mittagszeit waren die meisten Bewohner in den Innenräumen, um der Sommerhitze zu entfliehen. Auch Priscila aktivierte die Klimaanlage für die kurze Fahrt zur Klinik.
Der Pförtner staunte nicht schlecht, als sie mit dem teuren SUV auf ihren Parkplatz fuhr, auf dem sonst ihr roter Sportwagen parkte, während sie arbeitete. Sie schlüpfte durch die Personaltür und lief zur Umkleide im Keller des großen Komplexes. Sie öffnete ihren Spind und zog die frisch gewaschene Uniform heraus, die sie zwingend tragen musste. Ihr wäre lieber, sie dürfte mit normalen Klamotten arbeiten, aber die Klinik schrieb vor, dass alle Mitarbeiter in einer speziellen Uniform, mit aufgedrucktem Namensschild arbeiten mussten. Sie entledigte sich ihrer knappen blauen Shorts und dem türkisfarbenen Top, was ihre eher kleinen Brüste so schön zur Geltung brachte. Unter den Klamotten war sie mit bunten Tätowierungen übersät. Nur die Arme hatte sie, wegen Rücksicht auf ihren Beruf ausgespart. Es kam nicht besonders gut an in einem Krankenhaus, als Abteilungsleiterin von oben bis unten mit farbenfrohen unter die Haut gestochenen Bildern zu arbeiten. Nach Meinung der Klinikleitung erschreckte es die Patienten und deren Besucher.
Als sie fertig umgezogen war, richtete sie noch einmal ihre wunderschönen Haare. Sie waren ihr ganzer Stolz, und sie wusste über deren Wirkung auf die Männerwelt. Dann trat sie hinaus auf den Gang und wartete auf den Personalaufzug, der sie in den vierten Stock zu ihrer Abteilung bringen würde. Als die silberne Stahltür aufglitt, kam ihr der Oberarzt der Frühschicht entgegen. Dr. Eusebio Alcantara hatte schon mehrfach versucht, bei ihr zu landen. Aber er war mit seinen 48 Jahren viel zu alt für die junge Frau. Außerdem war er weder sympathisch noch in irgendeiner Form humorvoll. Ihre Figur und die kleine Körpergröße, in Verbindung mit den kleinen straffen Brüsten und den tollen Haaren weckten in dem alten Mann scheinbar einen Beschützerinstinkt, den er gerne mit sexuellen Fantasien anreicherte.
»Frau Acosta, schön sie zu sehen«, schleimte er mit seiner sonoren Stimme, »ich habe sie schon vermisst. Wo waren sie so lange?«
»Auf der Flucht vor alten Ärzten, die versuchen ihre verkrüppelten Pfoten in mein Höschen zu bekommen, was sie mit einschließt. Guten Tag!«, motzte sie ihn an und drückte sich an ihm vorbei in den Aufzug.
Als sich die Türen schlossen, sah sie die sehr enttäuschte Miene des Arztes, dessen Mundwinkel deutlich nach unten zeigten. Sie konnte diesen Typen einfach nicht ausstehen. Jedes Mal, wenn sie vor ihm stand, konnte sie sehen, wie er sie mit seinen Blicken auszog, und sich Schweinereien vorstellte. Er war zwar Oberarzt, aber auf der Gegenschicht und hatte mit ihr nicht viel zu tun. Der Oberarzt auf ihrer Schicht war ein völlig anderer Typ und behandelte sie mit Respekt. Von ihm kam selten ein böses Wort, sondern er zeigte Verständnis und war auch deutlich jünger. Auf ihrer Station liefen gerade die Übergabegespräche der einzelnen Schichten im Schwesternzimmer. Priscila öffnete die Tür und wurde freudig von ihren Kollegen begrüßt. Die Verwaltungsaufgaben der letzten zwei Wochen waren größtenteils liegen geblieben. Nur der Oberarzt ihrer Schicht hatte Priscila, während ihres Urlaubs, einige Aufgaben abgenommen. Dr. Alcantara hatte alles in ihrem Büro abgelegt und darauf gewartet, dass sie das alles übernahm.
Das Übergabegespräch zwischen den Schichten war schon fast beendet, als sie plötzlich eine warme Hand auf ihrer Schulter spürte. Als sie sich umdrehte, stand Dr. Daniel Pineda, der Oberarzt ihrer Schicht hinter ihr und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln.
»Frau Acosta, ich hoffe, sie hatten einen angenehmen Urlaub. Ich freue mich, dass sie wieder da sind.«
»Hallo Dr. Pineda. Mein Urlaub war ganz angenehm, nur viel zu kurz. Danke der Nachfrage!«, lächelte sie.
Er nahm die Hand von ihrer Schulter. Seine braunen Augen strahlten eine unglaubliche Wärme aus, als er sagte, »Es tut mir furchtbar leid, dass während ihrer Abwesenheit so viel Arbeit liegen geblieben ist.«
»Das macht nichts«, lächelte sie, »ein bisschen was kann ich ja auch noch erledigen. Was steht heute noch an?«
»Wir bereiten den Patienten auf 4028 für die neue Niere vor, die er morgen bekommen soll, ansonsten nur das übliche«, strahlte er sie an.
»Na dann ist es ja nicht so viel. Haben wir die Papiere dafür schon bekommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Die kommen erst morgen früh. Der Bruder des Patienten bringt sie mit. Dr. Alcantara legt sie sicher in ihr Büro.«
»Liegt denn viel in meinem Büro, was ich noch erledigen muss?«
»Das weiß ich leider nicht, Frau Acosta. Meine Transplantationen habe ich bereits erledigt, aber Dr. Alcantara hatte die letzten zwei Wochen sehr viele Operationen.«
Sie machte ein missmutiges Gesicht, als sie fragte, »Postmortale?«
»Das kann ich ihnen nicht sagen. Aber einige waren garantiert dabei. Soweit ich weiß, hat er in den letzten zwei Wochen drei Herzen verpflanzt.«
»Drei?«, fragte sie irritiert, »bevor ich in den Sommerurlaub gegangen bin, hatten wir acht Patienten, die auf ein Spenderherz gewartet haben. Sieben davon standen auf der Warteliste für ein Spenderorgan verdammt weit hinten, und wir hatten Sorge, sie durchzubringen.«
Er schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß nicht, wo sie so plötzlich hergekommen sind, jedenfalls wurden sie sie mit dem Hubschrauber gebracht und Alcantara hat sie verpflanzt.«
Priscila nickte nur stumm. Sie würde es in den Unterlagen sehen, woher die Spenderorgane kamen. Es war nur ziemlich ungewöhnlich für Patienten, die auf den hinteren Plätzen der Warteliste standen, dass sie so schnell ein neues Organ bekamen. Aber natürlich konnte man auch nicht vorhersehen, wann ein Organspender sterben würde, der genau die richtige Blutgruppe hat und die Organe noch zu gebrauchen waren. Das konnte teilweise sehr lange dauern, aber eben auch verdammt schnell gehen, je nachdem wie die Organisation Eurotransplant das richtige Organ gerade zur Hand hatte. Diese Organisation verteilte die Spenderorgane in ganz Europa an die Kliniken, die eine Anfrage stellten. Wann immer ein Organ verfügbar war, das in der nötigen Zeit geliefert werden konnte, wurden alle Stellen informiert. Der betreffende Patient wurde sofort ins Klinikum gebracht und die notwendigen Schritte unternommen. Direkt nach dem Eintreffen des gekühlten Gewebes wurde es sofort im Operationssaal eingesetzt.
Dr. Alcantara war eben der ältere und auch erfahrenere Oberarzt, der diese schwierigen Operationen schon öfter durchgeführt hatte. Dr. Pineda, der Oberarzt auf ihrer Schicht war gerade mal 34 Jahre alt, und obwohl er voll qualifiziert war eben noch nicht besonders erfahren. Trotzdem war er in Priscilas Augen eindeutig der nettere und bessere Arzt, auch wenn das einige ihrer Kolleginnen nicht so empfanden. Die Stationsleiterin machte sich auf den Weg in ihr Büro und konnte es nicht fassen, wie viele Patientenakten sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Da lagen verteilt vier große Stapel mit Akten auf ihrem Tisch. Die Schreibunterlage war nicht mal mehr zu sehen. Schon auf den ersten Blick konnte sie erkennen, von wem diese ganzen Unterlagen in ihr Büro geworfen wurden. Dr. Alcantara machte das wohl extra, nur damit er ihr auf die Nerven fallen konnte.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl und begann die gestapelten Unterlagen grob zu sortieren, damit sie etwas Platz auf ihrem Schreibtisch bekam. Langsam kam auch ihre Schreibunterlage wieder zum Vorschein. Kurz vor ihrer Pause hatte sie die erste Akte mit einem verpflanzten Herzen von Dr. Alcantara in den Händen. Das Organ wurde aus den Niederlanden mit dem Flugzeug gebracht und dann mit dem Hubschrauber in die Saint Helena Klinik geflogen worden. Die Verpflanzung war problemlos verlaufen und der Patient nach einer Woche auf der Intensivstation in eine Rehaklinik entlassen. Sowas nannte man bei ihnen einen Paradefall. Wenig später fand sie dann auch die zweite Akte, doch da war als Herkunftsland Tschechien angegeben. Der Verlauf allerdings war der gleiche wie bei dem ersten Patienten. Priscila machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Es kam öfter vor, dass jemand verstirbt, und die Organe dann weitergegeben wurden. Beide kamen aus Europa und anhand der Akten waren sie passend für die Transplantation.
Die Stationsleiterin ließ die Akten hinter sich und begab sich in ihre Pause. Auf dem Flur zum Pausenraum kam gerade Hektik auf als ein Notfall eingeliefert wurde. Sie stellte sich auf die Seite des Flurs, damit man den Patienten so schnell wie möglich versorgen konnte. Als sie wartend an der Wand stand, kam Lernschwester Herminia Molinero ebenfalls über den Flur. Die gerade 18-jährige Krankenschwester war noch in der Ausbildung, gehörte aber schon fest zum Team ihrer Schicht. Mit ihren jungen Jahren war sie nicht nur bei den Patienten sehr beliebt, sondern hatte auch sehr viele Sympathien bei den Kollegen gewonnen. Sie lächelte Priscila an, was ihre Sommersprossen so richtig zur Geltung brachte.
»Hallo Priscila, schön das du wieder da bist«, lachte sie mit breit ausgestreckten Armen.
»Herminia, ich dachte, du wärst noch in der Schule«, sagte die Stationsleiterin fröhlich und umarmte die Schülerin.
Die beiden waren gut befreundet. Kurz nachdem die Lernschwester begonnen hatte auf ihrer Station zu arbeiten, verbrachten sie auch viele Pausen zusammen. Priscila hatte als Stationsleitung auch immer ein Auge auf die junge Auszubildende und erlaubte ihr, aufgrund der guten Arbeit die sie leistete, ein paar Freiheiten. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass Herminia mal eben einen Kaffee zu Priscila ins Büro brachte. Obwohl sie den eigentlich nur kurz abstellen wollte, um dann weiterzuarbeiten, behielt sie die Stationsleiterin einfach mal in ihrem Büro und die beiden quatschten. Immerhin waren die beiden altersmäßig gerade mal acht Jahre auseinander und Schwester Herminia eiferte ihrer Kollegin nach. Sie wollte auch in den jüngeren Jahren schon hoch hinaus, und das zeigte sie immer wieder. Oft saß sie während ihrer Pause über den Büchern und kaute ihr mitgebrachtes Brot.
»Willst du auch gerade Pause machen?«, fragte Priscila.
»Nein, ich hatte schon vor einer Stunde meine Pause. Hab dich nur gerade gesehen, als ich von einem Patienten kam«, erwiderte sie kopfschüttelnd.
»Dann würde ich sagen, machen wir unsere Pause zusammen«, lachte Priscila.
Herminia schüttelte den Kopf »Die warten doch im Schwesternzimmer auf mich, Priscila.«
»Gleich nicht mehr«, lachte sie und zog ihr Diensttelefon aus der Tasche ihres Oberteils. Das Telefon im Schwesternzimmer hatte sie auf die Taste 5 gelegt, die sie so lange gedrückt hielt, bis das Telefon die Nummer automatisch wählte. Als eine Schwester abnahm, sagte sie nur, »Lernschwester Molinero muss etwa eine Stunde auf der Inneren aushelfen. Ich habe sie schon hingeschickt, übernehmt bitte für die Zeit ihre Aufgaben.« Einen kurzen Moment hörte sie noch die Antwort und trennte die Verbindung. Herminia stand grinsend daneben.
Sie schaute die Lernschwester verschwörerisch an, »Frau Molinero, die Innere braucht sie nicht mehr, folgen sie mir bitte.«
Lächelnd liefen die beiden jungen Frauen zum Pausenraum am Ende des Flurs und setzten sich auf die minder bequemen Holzstühle. Molinero beklagte sich, »Das ist gemein Priscila. Jetzt sitze ich hier und muss dir beim Essen zusehen.«
»Quatsch, du kannst dir doch auch was bestellen.«
»Nein, ich habe kein Geld. Das kann ich mir mit dem bisschen, was ich bekomme, einfach nicht leisten«, murrte sie.
»Setz dich hin und bestell dir, was du willst. Ich übernehme das, wenn du mir versprichst nicht das billigste vom Billigen zu bestellen«, erklärte die Ältere der beiden.
»Das kann ich nicht annehmen, Priscila.«
»Ich bestehe darauf. Die paar Euro interessieren mich nicht.«
Die Lernschwester strahlte über das ganze Gesicht. Zusammen suchten sie sich aus dem Flyer eines Lieferservice, der an der Pinnwand hing, etwas zu Essen aus und bestellten. Priscila bestellte für die beiden noch eine große Flasche leckerer Limonade und kramte aus der kleinen Küche zwei Gläser heraus. Sie hielt sie gegen das Licht und schüttelte nur den Kopf. »Die wurden wohl seit Jahren nicht mehr gespült«, sagte sie leicht angewidert und stellte sie in das kleine Edelstahlspülbecken. Dann drehte sie das heiße Wasser voll auf und gab von dem halb leeren Spülmittel einen guten Schuss in das heiße Wasser. Während sie die beiden Gläser mit einem Tuch penibel reinigte, unterhielten sie sich über Herminias Ausbildung und wie weit sie schon gekommen war. Priscila trocknete die Gläser mit Papierservietten ab und stellte sie auf den Tisch. Auch das Besteck aus der Angestelltenküche konnte man nicht wirklich verwenden. Alles sah aus, als wäre es seit mehreren Wochen nicht gespült worden. Nach Absprache mit der Lernschwester verzichteten sie auf Teller, die schon einen schleimigen Rand angesetzt hatten.
»Entweder muss ich mal eine Schwester hier vorbeischicken, die das ganze Zeug sauber macht, oder ich bringe in Zukunft meine eigenen Sachen mit. Das darf man ja keinem erzählen, wie es hier aussieht. Das ist ein Krankenhaus, aber im Pausenraum sieht es aus wie in einem Schweinestall. Man muss sich fragen, warum keine Schwester halb tot auf der Station liegt«, schimpfte Priscila.
»Ich nehm mir morgen eine Stunde Zeit und mach hier sauber«, erklärte die Lernschwester.
»Das lässt du schön bleiben. Du sitzt hier jeden Tag mit deinem Brötchen in der Hand. Das lass ich die machen, die es auch angerichtet haben«, sagte die Stationsleiterin bestimmt.
Sie vertrödelten noch etwa zehn Minuten, bis der Pförtner anrief. Ihr Essen war geliefert worden und ein Azubi der Pforte würde es ihnen in den Pausenraum bringen. Kurz darauf stand ein großer schlaksiger Typ in der Tür, der zwei dampfende Plastiktüten in der Hand hatte, und eine Literflasche des Erfrischungsgetränks. Priscila nahm ihm die Sachen ab, stellte sie auf den Tisch und gab dem Azubi das Geld, was die Pforte für das Essen vorgestreckt hatte. Dann verschwand der junge Mann wieder und die beiden begannen zu essen. Während sie aßen, unterhielten sie sich über die Ausbildung, die Herminias gerade durchlief. Sie schaute zu Priscila auf, weil sie ihre Ausbildung mit sehr gut abgeschlossen hatte und dann weitere Lehrgänge besucht hatte, um dann da zu landen, wo sie jetzt war.
»Bis wann musst du denn heute arbeiten?«, fragte Priscila.
»Ganz normal 22 Uhr hoffe ich, es sei denn, es kommt noch etwas dazwischen, dann kann es auch was länger werden.«
»Wann fährt dein Bus?«
»Frag mich nicht. Wenn ich nicht um 10 nach an der Haltestelle stehe, muss ich eine Stunde warten, bis der Nächste kommt«, jammerte die Auszubildende.
»Wo musst du denn hin?«
»Nach Tiro de Línea. Da fährt der Bus nur jede Stunde«, beschwerte sie sich.
»Das ist ja bei mir um die Ecke. Du arbeitest ja immer die gleiche Schicht wie ich, außer wenn du Schule hast, dann nehm ich dich einfach mit«, schlug Priscila vor.
»Du wohnst doch in San Vicente, das ist genau die andere Richtung«, sagte sie verwirrt.
Priscila lachte. »Da habe ich gewohnt. Ich bin letzte Woche umgezogen und hab jetzt ein Appartement in Tiro de Línea.«
Herminia machte große Augen, »Das würdest du machen, mich einfach mit zurücknehmen?«
»Nein«, schüttelte Priscila den Kopf, »ich nehm dich mit hier hin und auch zurück. Macht es für dich wohl viel einfacher.«
Die Auszubildende fiel ihr um den Hals und bedankte sich tausendmal für das wahnsinnig tolle Angebot. Ihr würde das jeden Arbeitstag fast zwei Stunden Freizeit sparen, die sie zum Lernen verwenden könnte. Noch dazu hätte sie jeden Tag die beste Ansprechpartnerin an ihrer Seite. Zusammen spülten sie beiden ihre Gläser und das benutzte Besteck ab, und legten es zurück. Nach etwas mehr als einer Stunde machten sie sich wieder an die Arbeit. Sie verabredeten sich für die Schichtübergabegespräche im Schwesternzimmer. Dann machte sich die Stationsleiterin wieder an die Arbeit.
In ihrem Büro fühlte sie sich niedergeschlagen, als sie den Berg der Akten sah, die sie noch bearbeiten musste. Ihr nächster Blick ging zur Uhr, die sehr langsam mit den Zeigern über das Ziffernblatt schwebten. Priscila hatte noch fast drei Stunden Arbeitszeit vor sich. Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub zog sich immer wie Kaugummi. Sie hatte mit der jungen Auszubildenden ihre Pause schon um über eine halbe Stunde überzogen, um Zeit von der Uhr zu nehmen, und trotzdem war noch so viel Arbeitszeit übrig. Eine Stunde vor ihrem Feierabend entdeckte sie auch die dritte Akte, der Herztransplantation, die Dr. Alcantara während ihres Urlaubs durchgeführt hatte. Sie wunderte sich, dass dieses Organ ebenfalls aus den Niederlanden kam, dachte sich aber nicht mehr viel dabei.
Als es endlich kurz vor Feierabend war, begab sie sich ins Schwesternzimmer, in der sich bereits die Arbeitskräfte der beginnenden Nachtschicht niedergelassen hatte. Auch die Auszubildende wartete bereits dort und machte ein fröhliches Gesicht. Sie dachte zurück an die Stunde extra Pause und das warme Essen, die sie bekommen hatte. Die Aussicht, mit ihrem Vorbild nach Hause fahren zu dürfen, tat sein Übriges für die gute Laune. Da den ganzen Tag über nicht viel passiert war, und der Oberarzt in seinem Büro blieb, fiel das Übergabegespräch sehr kurz aus. Priscila und Herminia gingen zur Umkleide und wechselten sie Arbeitskleidung mit ihren kurzen Sachen für die Heimfahrt. Das, was dann kam, war etwas völlig Neues für die 18-jährige Lernschwester. Zum ersten Mal fuhr sie mit dem Aufzug zur Tiefgarage, wo Priscila ihren Wagen geparkt hatte.
Sie staunte nicht schlecht, als Priscila ihren Audi RS Q8 mit dem Smartphone aufschloss und sie bat auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Der weiße SUV war mit allen möglichen technischen Spielereien ausgestattet. Sogar starten konnte sie den Wagen, nur weil ihr Handy auf der Mittelkonsole in einer Schale lag. Die Stationsleiterin startete den 600 PS starken Boliden, und das dumpfe Dröhnen des Triebwerks hallte von den Betonwänden der Tiefgarage wieder.
»Was kostet so was?«, fragte die Auszubildende, als Priscila sich in den Stadtverkehr einfädelte.
»Der hier? So knapp 200.000 Euro musste ich dafür auf den Tisch legen.«
»Du meine Güte, so teuer ist der?«, staunte sie.
»Den richtig teuren habe ich heute zu Hause gelassen«, lachte sie, »mein kleiner roter Flitzer hat mich noch mal 150.000 Euro mehr gekostet.«
»Bis dahin muss ich noch ein paar Hundert Jahre sparen«, lachte die Auszubildende bitter.
Die Stationsleiterin setzte Herminia zu Hause ab und fuhr dann weiter bis in ihre Tiefgarage, neben dem roten Sportwagen. In ihrer neuen Wohnung setzte sie sich auf das Sofa und schaute noch ein bisschen das Nachtprogramm, bevor sie dann gegen halb eins morgens müde ins Bett ging und bis acht Uhr schlief.