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Kapitel 1 Spanien, Sevilla

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In An­da­lu­si­en stand die Son­ne be­reits hoch am Him­mel, als sie in ih­rer neu­en, großen Woh­nung er­wach­te. Sie hat­te die­ses hel­le und freund­li­che Ap­par­te­ment, in der In­nen­stadt von Se­vil­la, erst vor Kur­zem kau­fen kön­nen. Pris­ci­la war 26 Jah­re alt und ar­bei­te­te im Saint He­le­na Kli­ni­kum in Se­vil­la als Sta­ti­ons­lei­te­rin der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin. Sie war die jüngs­te in ganz Eu­ro­pa, die so einen Pos­ten be­klei­de­te. In ih­rer Frei­zeit ging sie mit Vor­lie­be zum Sport, um sich rich­tig aus­zu­po­wern. Pris­ci­la war selbst herz­krank und muss­te täg­lich Ta­blet­ten neh­men, um die Aus­wir­kun­gen ih­rer Er­kran­kung zu un­ter­drücken. Durch einen Herz­feh­ler wa­ren ih­re Herz­klap­pen der lin­ken Herz­sei­te im­mer wie­der nach­ge­wach­sen. Vor zehn Jah­ren be­kam sie ein Spen­der­herz trans­plan­tiert. Ab und zu hat­te sie das Pro­blem, dass ihr Herz­schlag et­was zu schwach war und es da­bei zur Un­ter­ver­sor­gung der Aor­ta führ­te. Durch ih­re Me­di­ka­men­te war sie in der La­ge ge­nau so zu le­ben wie ein ge­sun­der Mensch. Nur muss­te sie je­des Jahr ein­mal ein Herz­kar­dio­gramm über sich er­ge­hen las­sen.

An­sons­ten war Pris­ci­la eher un­schein­bar ge­wach­sen. Mit ih­rer Kör­per­grö­ße von 1,55 m war sie deut­lich klei­ner als ih­re Kol­le­gen. Durch den vie­len Sport, den sie fast ex­zes­siv be­trieb, war sie sehr schlank und konn­te es­sen was sie woll­te, oh­ne zu­zu­neh­men. Mit ih­ren lan­gen ha­sel­nuss­brau­nen Haa­ren, die bis über die Brüs­te reich­ten, lie­fen ihr die Män­ner in Scha­ren hin­ter­her. Die schlan­ke Frau al­ler­dings war sehr wäh­le­risch, was ih­re Part­ner an­ging. Bis­her war kei­ner da­bei, der sie von sich über­zeu­gen konn­te. Sie lieb­te es, ih­ren be­vor­zug­ten Fuß­ball­club FC Se­vil­la im Sta­di­on an­zu­feu­ern, und wann im­mer es ihr Dienst­plan er­laub­te, war sie bei den Heim­spie­len da­bei.

In den letz­ten zwei Wo­chen hat­te sie ih­ren Som­mer­ur­laub da­mit ver­bracht, ih­re gan­ze Ein­rich­tung aus ih­rem klei­nen ge­mie­te­ten Ap­par­te­ment am Stadt­rand, mit­hil­fe ih­rer Freun­de in die neue Woh­nung zu brin­gen und sich dort ge­müt­lich ein­zu­rich­ten. Nun war sie un­ab­hän­gig von Miet­zah­lun­gen und konn­te die Vor­tei­le ei­ner um­fas­sen­den Si­cher­heits­ein­rich­tung ge­nie­ßen. Der große frei­schwe­ben­de Bal­kon auf der Süd­sei­te im sieb­ten Stock, bot einen wun­der­vol­len Aus­blick über die In­nen­stadt von Se­vil­la. Das gan­ze Ap­par­te­ment war zu­sätz­lich mit ei­ner Kli­ma­an­la­ge aus­ge­stat­tet, die auch in den hei­ßes­ten Som­mern die Wohn­räu­me kühl hielt. Im Keller­ge­schoss des Ge­bäu­des gab es für die Be­woh­ner ne­ben ei­nem Swim­ming­pool noch ei­ne Sau­na­l­and­schaft und einen Fit­ness­raum. Für Pris­ci­la war das, ne­ben der Ru­he so hoch über der Stadt, ein großes Ver­kaufsar­gu­ment ge­we­sen. Der Preis für das 120 qm große Ap­par­te­ment war auch nicht all­zu teu­er. Sie muss­te nur 650.000 Eu­ro da­für auf­brin­gen.

Heu­te war ihr ers­ter Ar­beits­tag nach dem Som­mer­ur­laub und sie muss­te zur Spät­schicht in die Kli­nik. Die Son­ne brann­te über der Stadt und ver­brei­te­te ei­ne große Hit­ze. Mit dem Fahr­stuhl kam sie bis in die Tief­ga­ra­ge, wo ih­re bei­den Au­tos park­ten. Ihr war heu­te nicht nach dem ro­ten Lam­borg­hi­ni Hu­racán EVO RWD Spy­der. Statt­des­sen be­stieg sie ih­ren schnee­wei­ßen Au­di RS Q8, den sie mit ih­rem Smart­pho­ne öff­nen konn­te. Durch NFC-Tech­nik diente ihr Mo­bil­te­le­fon als Fahr­zeug­schlüs­sel. Sie leg­te ihr Te­le­fon auf die Mit­tel­kon­so­le und star­te­te den SUV. Dann fuhr sie durch die In­nen­stadt der viert­größ­ten Stadt Spa­ni­ens bis zur Saint He­le­na Kli­nik. Um die Mit­tags­zeit wa­ren die meis­ten Be­woh­ner in den In­nen­räu­men, um der Som­mer­hit­ze zu ent­flie­hen. Auch Pris­ci­la ak­ti­vier­te die Kli­ma­an­la­ge für die kur­ze Fahrt zur Kli­nik.

Der Pfört­ner staun­te nicht schlecht, als sie mit dem teu­ren SUV auf ih­ren Park­platz fuhr, auf dem sonst ihr ro­ter Sport­wa­gen park­te, wäh­rend sie ar­bei­te­te. Sie schlüpf­te durch die Per­so­nal­tür und lief zur Um­klei­de im Kel­ler des großen Kom­ple­xes. Sie öff­ne­te ih­ren Spind und zog die frisch ge­wa­sche­ne Uni­form her­aus, die sie zwin­gend tra­gen muss­te. Ihr wä­re lie­ber, sie dürf­te mit nor­ma­len Kla­mot­ten ar­bei­ten, aber die Kli­nik schrieb vor, dass al­le Mit­ar­bei­ter in ei­ner spe­zi­el­len Uni­form, mit auf­ge­druck­tem Na­mens­schild ar­bei­ten muss­ten. Sie ent­le­dig­te sich ih­rer knap­pen blau­en Shorts und dem tür­kis­far­be­nen Top, was ih­re eher klei­nen Brüs­te so schön zur Gel­tung brach­te. Un­ter den Kla­mot­ten war sie mit bun­ten Tä­to­wie­run­gen über­sät. Nur die Ar­me hat­te sie, we­gen Rück­sicht auf ih­ren Be­ruf aus­ge­spart. Es kam nicht be­son­ders gut an in ei­nem Kran­ken­haus, als Ab­tei­lungs­lei­te­rin von oben bis un­ten mit far­ben­fro­hen un­ter die Haut ge­sto­che­nen Bil­dern zu ar­bei­ten. Nach Mei­nung der Kli­nik­lei­tung er­schreck­te es die Pa­ti­en­ten und de­ren Be­su­cher.

Als sie fer­tig um­ge­zo­gen war, rich­te­te sie noch ein­mal ih­re wun­der­schö­nen Haa­re. Sie wa­ren ihr gan­zer Stolz, und sie wuss­te über de­ren Wir­kung auf die Män­ner­welt. Dann trat sie hin­aus auf den Gang und war­te­te auf den Per­so­nal­auf­zug, der sie in den vier­ten Stock zu ih­rer Ab­tei­lung brin­gen wür­de. Als die sil­ber­ne Stahl­tür auf­glitt, kam ihr der Ober­arzt der Früh­schicht ent­ge­gen. Dr. Eu­se­bio Al­can­ta­ra hat­te schon mehr­fach ver­sucht, bei ihr zu lan­den. Aber er war mit sei­nen 48 Jah­ren viel zu alt für die jun­ge Frau. Au­ßer­dem war er we­der sym­pa­thisch noch in ir­gend­ei­ner Form hu­mor­voll. Ih­re Fi­gur und die klei­ne Kör­per­grö­ße, in Ver­bin­dung mit den klei­nen straf­fen Brüs­ten und den tol­len Haa­ren weck­ten in dem al­ten Mann schein­bar einen Be­schüt­zerin­stinkt, den er ger­ne mit se­xu­el­len Fan­tasi­en an­rei­cher­te.

»Frau Acosta, schön sie zu se­hen«, schleim­te er mit sei­ner so­no­ren Stim­me, »ich ha­be sie schon ver­misst. Wo wa­ren sie so lan­ge?«

»Auf der Flucht vor al­ten Ärz­ten, die ver­su­chen ih­re ver­krüp­pel­ten Pfo­ten in mein Hö­schen zu be­kom­men, was sie mit ein­schließt. Gu­ten Tag!«, motz­te sie ihn an und drück­te sich an ihm vor­bei in den Auf­zug.

Als sich die Tü­ren schlos­sen, sah sie die sehr ent­täusch­te Mie­ne des Arz­tes, des­sen Mund­win­kel deut­lich nach un­ten zeig­ten. Sie konn­te die­sen Ty­pen ein­fach nicht aus­ste­hen. Je­des Mal, wenn sie vor ihm stand, konn­te sie se­hen, wie er sie mit sei­nen Bli­cken aus­zog, und sich Schwei­ne­rei­en vor­stell­te. Er war zwar Ober­arzt, aber auf der Ge­gen­schicht und hat­te mit ihr nicht viel zu tun. Der Ober­arzt auf ih­rer Schicht war ein völ­lig an­de­rer Typ und be­han­del­te sie mit Re­spekt. Von ihm kam sel­ten ein bö­ses Wort, son­dern er zeig­te Ver­ständ­nis und war auch deut­lich jün­ger. Auf ih­rer Sta­ti­on lie­fen ge­ra­de die Über­ga­be­ge­sprä­che der ein­zel­nen Schich­ten im Schwes­tern­zim­mer. Pris­ci­la öff­ne­te die Tür und wur­de freu­dig von ih­ren Kol­le­gen be­grüßt. Die Ver­wal­tungs­auf­ga­ben der letz­ten zwei Wo­chen wa­ren größ­ten­teils lie­gen ge­blie­ben. Nur der Ober­arzt ih­rer Schicht hat­te Pris­ci­la, wäh­rend ih­res Ur­laubs, ei­ni­ge Auf­ga­ben ab­ge­nom­men. Dr. Al­can­ta­ra hat­te al­les in ih­rem Bü­ro ab­ge­legt und dar­auf ge­war­tet, dass sie das al­les über­nahm.

Das Über­ga­be­ge­spräch zwi­schen den Schich­ten war schon fast be­en­det, als sie plötz­lich ei­ne war­me Hand auf ih­rer Schul­ter spür­te. Als sie sich um­dreh­te, stand Dr. Da­niel Pi­ne­da, der Ober­arzt ih­rer Schicht hin­ter ihr und schenk­te ihr ein schüch­ter­nes Lä­cheln.

»Frau Acosta, ich hof­fe, sie hat­ten einen an­ge­neh­men Ur­laub. Ich freue mich, dass sie wie­der da sind.«

»Hal­lo Dr. Pi­ne­da. Mein Ur­laub war ganz an­ge­nehm, nur viel zu kurz. Dan­ke der Nach­fra­ge!«, lä­chel­te sie.

Er nahm die Hand von ih­rer Schul­ter. Sei­ne brau­nen Au­gen strahl­ten ei­ne un­glaub­li­che Wär­me aus, als er sag­te, »Es tut mir furcht­bar leid, dass wäh­rend ih­rer Ab­we­sen­heit so viel Ar­beit lie­gen ge­blie­ben ist.«

»Das macht nichts«, lä­chel­te sie, »ein biss­chen was kann ich ja auch noch er­le­di­gen. Was steht heu­te noch an?«

»Wir be­rei­ten den Pa­ti­en­ten auf 4028 für die neue Nie­re vor, die er mor­gen be­kom­men soll, an­sons­ten nur das üb­li­che«, strahl­te er sie an.

»Na dann ist es ja nicht so viel. Ha­ben wir die Pa­pie­re da­für schon be­kom­men?«

Er schüt­tel­te den Kopf. »Die kom­men erst mor­gen früh. Der Bru­der des Pa­ti­en­ten bringt sie mit. Dr. Al­can­ta­ra legt sie si­cher in ihr Bü­ro.«

»Liegt denn viel in mei­nem Bü­ro, was ich noch er­le­di­gen muss?«

»Das weiß ich lei­der nicht, Frau Acosta. Mei­ne Trans­plan­ta­tio­nen ha­be ich be­reits er­le­digt, aber Dr. Al­can­ta­ra hat­te die letz­ten zwei Wo­chen sehr vie­le Ope­ra­tio­nen.«

Sie mach­te ein miss­mu­ti­ges Ge­sicht, als sie frag­te, »Post­mor­ta­le?«

»Das kann ich ih­nen nicht sa­gen. Aber ei­ni­ge wa­ren ga­ran­tiert da­bei. So­weit ich weiß, hat er in den letz­ten zwei Wo­chen drei Her­zen ver­pflanzt.«

»Drei?«, frag­te sie ir­ri­tiert, »be­vor ich in den Som­mer­ur­laub ge­gan­gen bin, hat­ten wir acht Pa­ti­en­ten, die auf ein Spen­der­herz ge­war­tet ha­ben. Sie­ben da­von stan­den auf der War­te­lis­te für ein Spen­der­or­gan ver­dammt weit hin­ten, und wir hat­ten Sor­ge, sie durch­zu­brin­gen.«

Er schüt­tel­te rat­los den Kopf. »Ich weiß nicht, wo sie so plötz­lich her­ge­kom­men sind, je­den­falls wur­den sie sie mit dem Hub­schrau­ber ge­bracht und Al­can­ta­ra hat sie ver­pflanzt.«

Pris­ci­la nick­te nur stumm. Sie wür­de es in den Un­ter­la­gen se­hen, wo­her die Spen­der­or­ga­ne ka­men. Es war nur ziem­lich un­ge­wöhn­lich für Pa­ti­en­ten, die auf den hin­te­ren Plät­zen der War­te­lis­te stan­den, dass sie so schnell ein neu­es Or­gan be­ka­men. Aber na­tür­lich konn­te man auch nicht vor­her­se­hen, wann ein Or­gan­spen­der ster­ben wür­de, der ge­nau die rich­ti­ge Blut­grup­pe hat und die Or­ga­ne noch zu ge­brau­chen wa­ren. Das konn­te teil­wei­se sehr lan­ge dau­ern, aber eben auch ver­dammt schnell ge­hen, je nach­dem wie die Or­ga­ni­sa­ti­on Eu­ro­trans­plant das rich­ti­ge Or­gan ge­ra­de zur Hand hat­te. Die­se Or­ga­ni­sa­ti­on ver­teil­te die Spen­der­or­ga­ne in ganz Eu­ro­pa an die Kli­ni­ken, die ei­ne An­fra­ge stell­ten. Wann im­mer ein Or­gan ver­füg­bar war, das in der nö­ti­gen Zeit ge­lie­fert wer­den konn­te, wur­den al­le Stel­len in­for­miert. Der be­tref­fen­de Pa­ti­ent wur­de so­fort ins Kli­ni­kum ge­bracht und die not­wen­di­gen Schrit­te un­ter­nom­men. Di­rekt nach dem Ein­tref­fen des ge­kühl­ten Ge­we­bes wur­de es so­fort im Ope­ra­ti­ons­saal ein­ge­setzt.

Dr. Al­can­ta­ra war eben der äl­te­re und auch er­fah­re­ne­re Ober­arzt, der die­se schwie­ri­gen Ope­ra­tio­nen schon öf­ter durch­ge­führt hat­te. Dr. Pi­ne­da, der Ober­arzt auf ih­rer Schicht war ge­ra­de mal 34 Jah­re alt, und ob­wohl er voll qua­li­fi­ziert war eben noch nicht be­son­ders er­fah­ren. Trotz­dem war er in Pris­ci­las Au­gen ein­deu­tig der net­te­re und bes­se­re Arzt, auch wenn das ei­ni­ge ih­rer Kol­le­gin­nen nicht so emp­fan­den. Die Sta­ti­ons­lei­te­rin mach­te sich auf den Weg in ihr Bü­ro und konn­te es nicht fas­sen, wie vie­le Pa­ti­en­ten­ak­ten sich auf ih­rem Schreib­tisch sta­pel­ten. Da la­gen ver­teilt vier große Sta­pel mit Ak­ten auf ih­rem Tisch. Die Schreib­un­ter­la­ge war nicht mal mehr zu se­hen. Schon auf den ers­ten Blick konn­te sie er­ken­nen, von wem die­se gan­zen Un­ter­la­gen in ihr Bü­ro ge­wor­fen wur­den. Dr. Al­can­ta­ra mach­te das wohl ex­tra, nur da­mit er ihr auf die Ner­ven fal­len konn­te.

Sie setz­te sich auf ih­ren Stuhl und be­gann die ge­sta­pel­ten Un­ter­la­gen grob zu sor­tie­ren, da­mit sie et­was Platz auf ih­rem Schreib­tisch be­kam. Lang­sam kam auch ih­re Schreib­un­ter­la­ge wie­der zum Vor­schein. Kurz vor ih­rer Pau­se hat­te sie die ers­te Ak­te mit ei­nem ver­pflanz­ten Her­zen von Dr. Al­can­ta­ra in den Hän­den. Das Or­gan wur­de aus den Nie­der­lan­den mit dem Flug­zeug ge­bracht und dann mit dem Hub­schrau­ber in die Saint He­le­na Kli­nik ge­flo­gen wor­den. Die Ver­pflan­zung war pro­blem­los ver­lau­fen und der Pa­ti­ent nach ei­ner Wo­che auf der In­ten­sivsta­ti­on in ei­ne Re­hakli­nik ent­las­sen. So­was nann­te man bei ih­nen einen Pa­ra­de­fall. We­nig spä­ter fand sie dann auch die zwei­te Ak­te, doch da war als Her­kunfts­land Tsche­chi­en an­ge­ge­ben. Der Ver­lauf al­ler­dings war der glei­che wie bei dem ers­ten Pa­ti­en­ten. Pris­ci­la mach­te sich kei­ne wei­te­ren Ge­dan­ken dar­über. Es kam öf­ter vor, dass je­mand verstirbt, und die Or­ga­ne dann wei­ter­ge­ge­ben wur­den. Bei­de ka­men aus Eu­ro­pa und an­hand der Ak­ten wa­ren sie pas­send für die Trans­plan­ta­ti­on.

Die Sta­ti­ons­lei­te­rin ließ die Ak­ten hin­ter sich und be­gab sich in ih­re Pau­se. Auf dem Flur zum Pau­sen­raum kam ge­ra­de Hek­tik auf als ein Not­fall ein­ge­lie­fert wur­de. Sie stell­te sich auf die Sei­te des Flurs, da­mit man den Pa­ti­en­ten so schnell wie mög­lich ver­sor­gen konn­te. Als sie war­tend an der Wand stand, kam Lern­schwes­ter Her­mi­nia Mo­li­ne­ro eben­falls über den Flur. Die ge­ra­de 18-jäh­ri­ge Kran­ken­schwes­ter war noch in der Aus­bil­dung, ge­hör­te aber schon fest zum Te­am ih­rer Schicht. Mit ih­ren jun­gen Jah­ren war sie nicht nur bei den Pa­ti­en­ten sehr be­liebt, son­dern hat­te auch sehr vie­le Sym­pa­thi­en bei den Kol­le­gen ge­won­nen. Sie lä­chel­te Pris­ci­la an, was ih­re Som­mer­spros­sen so rich­tig zur Gel­tung brach­te.

»Hal­lo Pris­ci­la, schön das du wie­der da bist«, lach­te sie mit breit aus­ge­streck­ten Ar­men.

»Her­mi­nia, ich dach­te, du wärst noch in der Schu­le«, sag­te die Sta­ti­ons­lei­te­rin fröh­lich und um­arm­te die Schü­le­rin.

Die bei­den wa­ren gut be­freun­det. Kurz nach­dem die Lern­schwes­ter be­gon­nen hat­te auf ih­rer Sta­ti­on zu ar­bei­ten, ver­brach­ten sie auch vie­le Pau­sen zu­sam­men. Pris­ci­la hat­te als Sta­ti­ons­lei­tung auch im­mer ein Au­ge auf die jun­ge Aus­zu­bil­den­de und er­laub­te ihr, auf­grund der gu­ten Ar­beit die sie leis­te­te, ein paar Frei­hei­ten. Es war auch nicht un­ge­wöhn­lich, dass Her­mi­nia mal eben einen Kaf­fee zu Pris­ci­la ins Bü­ro brach­te. Ob­wohl sie den ei­gent­lich nur kurz ab­stel­len woll­te, um dann wei­ter­zu­ar­bei­ten, be­hielt sie die Sta­ti­ons­lei­te­rin ein­fach mal in ih­rem Bü­ro und die bei­den quatsch­ten. Im­mer­hin wa­ren die bei­den al­ters­mä­ßig ge­ra­de mal acht Jah­re aus­ein­an­der und Schwes­ter Her­mi­nia ei­fer­te ih­rer Kol­le­gin nach. Sie woll­te auch in den jün­ge­ren Jah­ren schon hoch hin­aus, und das zeig­te sie im­mer wie­der. Oft saß sie wäh­rend ih­rer Pau­se über den Bü­chern und kau­te ihr mit­ge­brach­tes Brot.

»Willst du auch ge­ra­de Pau­se ma­chen?«, frag­te Pris­ci­la.

»Nein, ich hat­te schon vor ei­ner Stun­de mei­ne Pau­se. Hab dich nur ge­ra­de ge­se­hen, als ich von ei­nem Pa­ti­en­ten kam«, er­wi­der­te sie kopf­schüt­telnd.

»Dann wür­de ich sa­gen, ma­chen wir un­se­re Pau­se zu­sam­men«, lach­te Pris­ci­la.

Her­mi­nia schüt­tel­te den Kopf »Die war­ten doch im Schwes­tern­zim­mer auf mich, Pris­ci­la.«

»Gleich nicht mehr«, lach­te sie und zog ihr Dienst­te­le­fon aus der Ta­sche ih­res Ober­teils. Das Te­le­fon im Schwes­tern­zim­mer hat­te sie auf die Tas­te 5 ge­legt, die sie so lan­ge ge­drückt hielt, bis das Te­le­fon die Num­mer au­to­ma­tisch wähl­te. Als ei­ne Schwes­ter ab­nahm, sag­te sie nur, »Lern­schwes­ter Mo­li­ne­ro muss et­wa ei­ne Stun­de auf der In­ne­ren aus­hel­fen. Ich ha­be sie schon hin­ge­schickt, über­nehmt bit­te für die Zeit ih­re Auf­ga­ben.« Ei­nen kur­z­en Mo­ment hör­te sie noch die Ant­wort und trenn­te die Ver­bin­dung. Her­mi­nia stand grin­send da­ne­ben.

Sie schau­te die Lern­schwes­ter ver­schwö­re­risch an, »Frau Mo­li­ne­ro, die In­ne­re braucht sie nicht mehr, fol­gen sie mir bit­te.«

Lä­chelnd lie­fen die bei­den jun­gen Frau­en zum Pau­sen­raum am En­de des Flurs und setz­ten sich auf die min­der be­que­men Holz­stüh­le. Mo­li­ne­ro be­klag­te sich, »Das ist ge­mein Pris­ci­la. Jetzt sit­ze ich hier und muss dir beim Es­sen zu­se­hen.«

»Quatsch, du kannst dir doch auch was be­stel­len.«

»Nein, ich ha­be kein Geld. Das kann ich mir mit dem biss­chen, was ich be­kom­me, ein­fach nicht leis­ten«, murr­te sie.

»Setz dich hin und be­stell dir, was du willst. Ich über­neh­me das, wenn du mir ver­sprichst nicht das bil­ligs­te vom Bil­li­gen zu be­stel­len«, er­klär­te die Äl­te­re der bei­den.

»Das kann ich nicht an­neh­men, Pris­ci­la.«

»Ich be­ste­he dar­auf. Die paar Eu­ro in­ter­es­sie­ren mich nicht.«

Die Lern­schwes­ter strahl­te über das gan­ze Ge­sicht. Zu­sam­men such­ten sie sich aus dem Flyer ei­nes Lie­fer­ser­vice, der an der Pinn­wand hing, et­was zu Es­sen aus und be­stell­ten. Pris­ci­la be­stell­te für die bei­den noch ei­ne große Fla­sche le­cke­rer Li­mo­na­de und kram­te aus der klei­nen Kü­che zwei Glä­ser her­aus. Sie hielt sie ge­gen das Licht und schüt­tel­te nur den Kopf. »Die wur­den wohl seit Jah­ren nicht mehr ge­spült«, sag­te sie leicht an­ge­wi­dert und stell­te sie in das klei­ne Edel­stahl­spül­be­cken. Dann dreh­te sie das hei­ße Was­ser voll auf und gab von dem halb lee­ren Spül­mit­tel einen gu­ten Schuss in das hei­ße Was­ser. Wäh­rend sie die bei­den Glä­ser mit ei­nem Tuch pe­ni­bel rei­nig­te, un­ter­hiel­ten sie sich über Her­mi­ni­as Aus­bil­dung und wie weit sie schon ge­kom­men war. Pris­ci­la trock­ne­te die Glä­ser mit Pa­pier­ser­vi­et­ten ab und stell­te sie auf den Tisch. Auch das Be­steck aus der An­ge­stell­ten­kü­che konn­te man nicht wirk­lich ver­wen­den. Al­les sah aus, als wä­re es seit meh­re­ren Wo­chen nicht ge­spült wor­den. Nach Ab­spra­che mit der Lern­schwes­ter ver­zich­te­ten sie auf Tel­ler, die schon einen schlei­mi­gen Rand an­ge­setzt hat­ten.

»Ent­we­der muss ich mal ei­ne Schwes­ter hier vor­bei­schi­cken, die das gan­ze Zeug sau­ber macht, oder ich brin­ge in Zu­kunft mei­ne ei­ge­nen Sa­chen mit. Das darf man ja kei­nem er­zäh­len, wie es hier aus­sieht. Das ist ein Kran­ken­haus, aber im Pau­sen­raum sieht es aus wie in ei­nem Schwei­ne­stall. Man muss sich fra­gen, warum kei­ne Schwes­ter halb tot auf der Sta­ti­on liegt«, schimpf­te Pris­ci­la.

»Ich nehm mir mor­gen ei­ne Stun­de Zeit und mach hier sau­ber«, er­klär­te die Lern­schwes­ter.

»Das lässt du schön blei­ben. Du sitzt hier je­den Tag mit dei­nem Bröt­chen in der Hand. Das lass ich die ma­chen, die es auch an­ge­rich­tet ha­ben«, sag­te die Sta­ti­ons­lei­te­rin be­stimmt.

Sie ver­trö­del­ten noch et­wa zehn Mi­nu­ten, bis der Pfört­ner an­rief. Ihr Es­sen war ge­lie­fert wor­den und ein Azu­bi der Pfor­te wür­de es ih­nen in den Pau­sen­raum brin­gen. Kurz dar­auf stand ein großer schlak­si­ger Typ in der Tür, der zwei damp­fen­de Plas­tik­tü­ten in der Hand hat­te, und ei­ne Li­ter­fla­sche des Er­fri­schungs­ge­tränks. Pris­ci­la nahm ihm die Sa­chen ab, stell­te sie auf den Tisch und gab dem Azu­bi das Geld, was die Pfor­te für das Es­sen vor­ge­streckt hat­te. Dann ver­schwand der jun­ge Mann wie­der und die bei­den be­gan­nen zu es­sen. Wäh­rend sie aßen, un­ter­hiel­ten sie sich über die Aus­bil­dung, die Her­mi­ni­as ge­ra­de durch­lief. Sie schau­te zu Pris­ci­la auf, weil sie ih­re Aus­bil­dung mit sehr gut ab­ge­schlos­sen hat­te und dann wei­te­re Lehr­gän­ge be­sucht hat­te, um dann da zu lan­den, wo sie jetzt war.

»Bis wann musst du denn heu­te ar­bei­ten?«, frag­te Pris­ci­la.

»Ganz nor­mal 22 Uhr hof­fe ich, es sei denn, es kommt noch et­was da­zwi­schen, dann kann es auch was län­ger wer­den.«

»Wann fährt dein Bus?«

»Frag mich nicht. Wenn ich nicht um 10 nach an der Hal­te­stel­le ste­he, muss ich ei­ne Stun­de war­ten, bis der Nächs­te kommt«, jam­mer­te die Aus­zu­bil­den­de.

»Wo musst du denn hin?«

»Nach Ti­ro de Línea. Da fährt der Bus nur je­de Stun­de«, be­schwer­te sie sich.

»Das ist ja bei mir um die Ecke. Du ar­bei­test ja im­mer die glei­che Schicht wie ich, au­ßer wenn du Schu­le hast, dann nehm ich dich ein­fach mit«, schlug Pris­ci­la vor.

»Du wohnst doch in San Vi­cen­te, das ist ge­nau die an­de­re Rich­tung«, sag­te sie ver­wirrt.

Pris­ci­la lach­te. »Da ha­be ich ge­wohnt. Ich bin letz­te Wo­che um­ge­zo­gen und hab jetzt ein Ap­par­te­ment in Ti­ro de Línea.«

Her­mi­nia mach­te große Au­gen, »Das wür­dest du ma­chen, mich ein­fach mit zu­rück­neh­men?«

»Nein«, schüt­tel­te Pris­ci­la den Kopf, »ich nehm dich mit hier hin und auch zu­rück. Macht es für dich wohl viel ein­fa­cher.«

Die Aus­zu­bil­den­de fiel ihr um den Hals und be­dank­te sich tau­send­mal für das wahn­sin­nig tol­le An­ge­bot. Ihr wür­de das je­den Ar­beits­tag fast zwei Stun­den Frei­zeit spa­ren, die sie zum Ler­nen ver­wen­den könn­te. Noch da­zu hät­te sie je­den Tag die bes­te An­sprech­part­ne­rin an ih­rer Sei­te. Zu­sam­men spül­ten sie bei­den ih­re Glä­ser und das be­nutz­te Be­steck ab, und leg­ten es zu­rück. Nach et­was mehr als ei­ner Stun­de mach­ten sie sich wie­der an die Ar­beit. Sie ver­ab­re­de­ten sich für die Schicht­über­ga­be­ge­sprä­che im Schwes­tern­zim­mer. Dann mach­te sich die Sta­ti­ons­lei­te­rin wie­der an die Ar­beit.

In ih­rem Bü­ro fühl­te sie sich nie­der­ge­schla­gen, als sie den Berg der Ak­ten sah, die sie noch be­ar­bei­ten muss­te. Ihr nächs­ter Blick ging zur Uhr, die sehr lang­sam mit den Zei­gern über das Zif­fern­blatt schweb­ten. Pris­ci­la hat­te noch fast drei Stun­den Ar­beits­zeit vor sich. Der ers­te Ar­beits­tag nach dem Ur­laub zog sich im­mer wie Kau­gum­mi. Sie hat­te mit der jun­gen Aus­zu­bil­den­den ih­re Pau­se schon um über ei­ne hal­be Stun­de über­zo­gen, um Zeit von der Uhr zu neh­men, und trotz­dem war noch so viel Ar­beits­zeit üb­rig. Ei­ne Stun­de vor ih­rem Fei­er­abend ent­deck­te sie auch die drit­te Ak­te, der Herz­trans­plan­ta­ti­on, die Dr. Al­can­ta­ra wäh­rend ih­res Ur­laubs durch­ge­führt hat­te. Sie wun­der­te sich, dass die­ses Or­gan eben­falls aus den Nie­der­lan­den kam, dach­te sich aber nicht mehr viel da­bei.

Als es end­lich kurz vor Fei­er­abend war, be­gab sie sich ins Schwes­tern­zim­mer, in der sich be­reits die Ar­beits­kräf­te der be­gin­nen­den Nacht­schicht nie­der­ge­las­sen hat­te. Auch die Aus­zu­bil­den­de war­te­te be­reits dort und mach­te ein fröh­li­ches Ge­sicht. Sie dach­te zu­rück an die Stun­de ex­tra Pau­se und das war­me Es­sen, die sie be­kom­men hat­te. Die Aus­sicht, mit ih­rem Vor­bild nach Hau­se fah­ren zu dür­fen, tat sein Üb­ri­ges für die gu­te Lau­ne. Da den gan­zen Tag über nicht viel pas­siert war, und der Ober­arzt in sei­nem Bü­ro blieb, fiel das Über­ga­be­ge­spräch sehr kurz aus. Pris­ci­la und Her­mi­nia gin­gen zur Um­klei­de und wech­sel­ten sie Ar­beits­klei­dung mit ih­ren kur­z­en Sa­chen für die Heim­fahrt. Das, was dann kam, war et­was völ­lig Neu­es für die 18-jäh­ri­ge Lern­schwes­ter. Zum ers­ten Mal fuhr sie mit dem Auf­zug zur Tief­ga­ra­ge, wo Pris­ci­la ih­ren Wa­gen ge­parkt hat­te.

Sie staun­te nicht schlecht, als Pris­ci­la ih­ren Au­di RS Q8 mit dem Smart­pho­ne auf­schloss und sie bat auf dem Bei­fah­rer­sitz Platz zu neh­men. Der wei­ße SUV war mit al­len mög­li­chen tech­ni­schen Spie­le­rei­en aus­ge­stat­tet. So­gar star­ten konn­te sie den Wa­gen, nur weil ihr Han­dy auf der Mit­tel­kon­so­le in ei­ner Scha­le lag. Die Sta­ti­ons­lei­te­rin star­te­te den 600 PS star­ken Bo­li­den, und das dump­fe Dröh­nen des Trieb­werks hall­te von den Be­ton­wän­den der Tief­ga­ra­ge wie­der.

»Was kos­tet so was?«, frag­te die Aus­zu­bil­den­de, als Pris­ci­la sich in den Stadt­ver­kehr ein­fä­del­te.

»Der hier? So knapp 200.000 Eu­ro muss­te ich da­für auf den Tisch le­gen.«

»Du mei­ne Gü­te, so teu­er ist der?«, staun­te sie.

»Den rich­tig teu­ren ha­be ich heu­te zu Hau­se ge­las­sen«, lach­te sie, »mein klei­ner ro­ter Flit­zer hat mich noch mal 150.000 Eu­ro mehr ge­kos­tet.«

»Bis da­hin muss ich noch ein paar Hun­dert Jah­re spa­ren«, lach­te die Aus­zu­bil­den­de bit­ter.

Die Sta­ti­ons­lei­te­rin setz­te Her­mi­nia zu Hau­se ab und fuhr dann wei­ter bis in ih­re Tief­ga­ra­ge, ne­ben dem ro­ten Sport­wa­gen. In ih­rer neu­en Woh­nung setz­te sie sich auf das So­fa und schau­te noch ein biss­chen das Nacht­pro­gramm, be­vor sie dann ge­gen halb eins mor­gens mü­de ins Bett ging und bis acht Uhr schlief.

Spur der Todesengel

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