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Kapitel 9 Kroatien, Pula

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Das Ers­te, was sie mit­be­kam als sie er­wach­te, war ein küh­ler Luft­zug auf ih­rer schweiß­nas­sen Haut, der sanft über ih­ren Kör­per strich. Ein leicht muf­fi­ger Ge­ruch lag in der schwü­len Hit­ze, der sich wie ein dich­ter Pelz um sie leg­te. Ihr Kopf dröhn­te, und das leich­te Licht ei­ner ver­staub­ten Glüh­bir­ne über ih­rem Kopf brann­te wie Feu­er in den Au­gen. Lu Peiz­hi hat­te einen schmie­ri­gen me­tal­li­schen Ge­schmack im Mund, als sie wie­der zu Be­wusst­sein kam. Ih­re Glie­der wa­ren noch zu schwer, als sie ver­such­te, sich zu be­we­gen. In ih­rem Kopf er­ho­ben sich die ers­ten Ge­dan­ken aus ei­nem grau­en Brei. Wo bin ich, frag­te sie sich selbst. Es war si­cher nicht ihr Bett und selbst bei kei­nem ih­rer Freun­de roch es nach al­tem Schim­mel in der Woh­nung. Es dau­er­te lan­ge, bis sie ih­re man­del­för­mi­gen brau­nen Au­gen end­lich öff­nen konn­te. Erst nach und nach zeich­ne­ten sich ei­ni­ge Um­ris­se ab, die sie noch nicht zu­ord­nen konn­te.

Noch ein­mal ver­such­te sie, sich zu be­we­gen. Ih­re Ar­me wa­ren schwer wie Blei und nicht zu be­we­gen, nur ih­re Bei­ne konn­te sie leicht an­he­ben. Als sie ver­such­te, sich zu dre­hen, durch­zuck­te sie ein ra­sen­der Schmerz, der sich in Wel­len von ih­rem Be­cken über ih­ren ge­sam­ten Kör­per aus­brei­te­te. Lu muss­te sich wie­der in die Aus­gangs­po­si­ti­on brin­gen. Vor­sich­tig ver­such­te sie, den dröh­nen­den Schä­del zu be­we­gen. An­he­ben konn­te sie ihn nicht, sonst sah sie Stern­chen, die in ei­nem po­chen­den Schmerz ex­plo­dier­ten. Aber sie konn­te ihn lang­sam zur Sei­te dre­hen und die Au­gen öff­nen. Was sie sah, ließ sie frös­teln. Ne­ben ihr wa­ren ver­staub­te Lie­gen aus Edel­stahl, die in ei­nem wil­den Durchein­an­der her­um­stan­den. Die Wand war, über­sät mit halb zer­bro­che­nen hell­blau­en Flie­sen, die ih­re bes­ten Zei­ten schon seit Jah­ren hin­ter sich hat­ten.

Auf der an­de­ren Sei­te er­kann­te sie ei­ne Abla­ge mit ver­schie­de­nen me­di­zi­ni­schen In­stru­men­ten auf ei­nem ver­wa­sche­nen grü­nen Tuch. Sie er­starr­te als sie das mit ge­trock­ne­tem Blut ver­schmier­te Skal­pell er­kann­te. Was war mit ihr pas­siert? Lu ver­such­te, sich zu er­in­nern, wie sie in die­se Si­tua­ti­on ge­ra­ten sein könn­te. Das letz­te, was sie aus ih­rer Erin­ne­rung re­kon­stru­ie­ren konn­te, war ei­ne klei­ne Par­ty mit Freun­den in ei­nem Lo­kal. Sie blieb zu­sam­men mit ei­nem jun­gen Mann zu­rück, der sich sehr für sie in­ter­es­sier­te. Die­se Erin­ne­rung er­zeug­te ein leich­tes Lä­cheln auf ih­rem Ge­sicht. Lu Peiz­hi hat­te es schwer mit jun­gen Män­nern in Kon­takt zu kom­men. Sie sprach nur ru­di­men­tä­res Kroa­tisch, seit sie mit ih­rer Fa­mi­lie aus Chi­na ge­kom­men war. Lu war, auf­grund der ein Kind Po­li­tik die in Chi­na sehr lan­ge prak­ti­ziert wur­de ein Ein­zel­kind. Nach dem Um­zug nach Pu­la in Kroa­ti­en, di­rekt an der Adria ge­le­gen, brauch­te sie ei­ni­ge Zeit sich die Lan­des­s­pra­che an­zu­eig­nen. Zu Hau­se sprach sie mit ih­ren El­tern den tra­di­tio­nel­len Dia­lekt Man­da­rin. Hier in Kroa­ti­en hat­te sie es schwer. Die Spra­che war für sie schwer zu er­ler­nen und sie fiel auf wie ein bun­ter Hund. Ei­ne jun­ge Chi­ne­sin war hier im all­ge­mei­nen Stadt­bild doch et­was auf­fäl­li­ger, wenn nicht ge­ra­de Tou­ris­ten die Stadt be­such­ten.

Pu­la war die größ­te Stadt der Halb­in­sel Istri­en, und be­kannt für das Am­phi­thea­ter mit­ten in der Stadt. Auch zwei Tem­pel präg­ten die Ge­mein­de mit knapp 60.000 Ein­woh­nern. Berühmt war Pu­la auch für sei­nen Ha­fen, der über re­gel­mä­ßig ver­keh­ren­de Fäh­ren mit Ve­ne­dig ver­bun­den war. Auch Ri­mi­ni war nicht weit ent­fernt, konn­te aber durch ei­ne Fäh­re nicht er­reicht wer­den. Lang­sam kehr­ten im­mer mehr Erin­ne­run­gen zu­rück und sie be­merk­te, wie auch ih­re Kräf­te wie­der er­wach­ten. Noch ein­mal pro­bier­te sie den Kopf et­was an­zu­he­ben. Es kos­te­te sie ei­ni­ge An­stren­gung, die dump­fen Kopf­schmer­zen zu un­ter­drücken, aber es funk­tio­nier­te. Dann wur­de ihr be­wusst, dass sie völ­lig nackt auf die­ser Edel­stahl­bah­re lag. Et­was ober­halb ih­rer rech­ten Hüf­te, un­ter dem Rip­pen­bo­gen ent­deck­te sie ei­ne Naht in ih­rer Haut, die un­ge­fähr sechs Zen­ti­me­ter lang war. Lu ver­such­te die Nar­be mit ih­ren Hän­den zu er­rei­chen. Sie brauch­te ih­re gan­ze Kraft, um den rech­ten Arm von der Un­ter­la­ge an­zu­he­ben und zu ih­rem Ober­kör­per zu füh­ren. Mit schwa­chen Fin­gern fühl­te sie die Wulst der Haut un­ter den Fä­den.

Hat­te sie ei­ne Ope­ra­ti­on? Aber wes­halb soll­te man sie ope­rie­ren, ob­wohl sie, laut ih­rer Erin­ne­rung, gar nicht krank war, oder einen Un­fall er­litt? Noch ein­mal kram­te sie in ih­rer Erin­ne­rung, aber nach dem net­ten Ty­pen in der Bar war da nur noch un­durch­dring­li­cher Ne­bel. Erst die letz­ten paar Mi­nu­ten er­leb­te sie wie­der be­wusst. Ih­re Ge­dan­ken kreis­ten um die Fra­gen, wie sie hier­her ge­kom­men, und was mit ihr pas­siert war. Ein nor­ma­les Kran­ken­haus konn­te die­ser schwü­le Raum auf kei­nen Fall sein. Der Ge­ruch, und das gan­ze Am­bien­te pass­te nicht in ih­re Vor­stel­lung ei­nes Kran­ken­hau­ses. Und selbst wenn es ein Kran­ken­haus wä­re, wo war dann die Klin­gel um die Schwes­ter zu ru­fen. Ih­re Keh­le war staub­tro­cken und die­ser me­tal­li­sche Ge­schmack im Mund woll­te ein­fach nicht ver­schwin­den. In­stink­tiv such­te sie die nä­he­re Um­ge­bung nach et­was Was­ser ab, konn­te aber nichts au­ßer ei­nem al­ten ver­ros­te­ten Was­ser­hahn ent­de­cken, der über ei­nem halb ab­ge­bro­che­nen Por­zel­lan­be­cken an­ge­bracht war. Auch kein Glas fand sich in ih­rer Nä­he.

So gut sie konn­te, ver­such­te sie sich von der Lie­ge zu er­he­ben. Es kos­te­te sie ei­ne Men­ge Kraft und ihr wur­de schwin­de­lig. Völ­lig nackt saß sie auf der Sei­te der Edel­stahl­prit­sche. Ih­re Fü­ße bau­mel­ten wie Fremd­kör­per ei­ni­ge Zen­ti­me­ter über den grau­en, völ­lig ver­un­rei­nig­ten Flie­sen. Lu ver­such­te, sich zu stre­cken, aber so­fort mel­de­ten sich die Schmer­zen der Nar­be wie­der sehr stark zu­rück. Durch den Schweiß, der sich auf ih­rer Haut ge­bil­det hat­te, war es ihr mög­lich, über die Kan­te der Bah­re nach un­ten zu rut­schen. Als ih­re Fü­ße auf dem küh­le­ren Bo­den auf­setz­ten, muss­te sie sich ab­stüt­zen. Sie lehn­te sich weit über die Lie­ge und setz­te einen Fuß vor den an­de­ren, um zu dem Was­ser­hahn zu kom­men. Ih­re Bei­ne zit­ter­ten un­ter ih­rem ge­rin­gen Ge­wicht. Sie muss­te schon ei­ne gan­ze Wei­le in die­sem Raum ge­le­gen ha­ben. Ih­re Mus­keln hat­ten ein­fach nicht mehr die Kraft sie auf­recht zu hal­ten. Die paar Me­ter die sie, ge­stützt auf die roll­ba­re Lie­ge, hin­ter sich brach­te, wa­ren äu­ßerst an­stren­gend. Nun stand sie in Reich­wei­te des al­ten Was­ser­hahns. Mit zit­tern­den Fin­gern dreh­te sie die Lei­tung auf. Es er­goss sich ei­ne stin­ken­de brau­ne Brü­he in das zer­bro­che­ne Be­cken dar­un­ter.

Die Fra­ge war jetzt, ob sie die übel rie­chen­de Flüs­sig­keit trin­ken soll­te, oder eben nicht. Sie ent­schied sich, in An­be­tracht ih­res Was­ser­man­gels da­für, auch wenn sie sich da­durch viel­leicht noch ei­ne schlim­me­re Krank­heit ein­fan­gen wür­de. Mit ge­rümpf­ter Na­se hielt sie ih­ren Mund na­he an den fal­len­den Strahl. Je län­ger sie war­te­te, um­so hel­ler wur­de das Was­ser vor ih­ren Au­gen. Auch der Ge­stank ließ et­was nach. Vor­sich­tig sog sie ei­ni­ge Trop­fen ein. Durch den me­tal­li­schen Ge­schmack in ih­rem Mund be­merk­te sie nichts von dem ab­ge­stan­de­nen Was­ser aus der Lei­tung. Sie ließ die Vor­sicht au­ßer Acht und ver­grub ih­re sprö­den Lip­pen in dem Was­ser­strahl. Gie­rig sog sie die Flüs­sig­keit ein und schluck­te sie. Je län­ger sie trank, um­so bes­ser ging es ihr. Sie be­merk­te, wie ih­re Kräf­te lang­sam zu­rück­kehr­ten. Seit sie er­wacht war, fühl­te sie sich schlapp und kraft­los. Die­se übel rie­chen­de Flüs­sig­keit weck­te in ihr die Le­bens­geis­ter. Lu Peiz­hi fühl­te sich ge­stärkt, als sie den Hahn wie­der schloss und sich auf­rich­te­te.

Es war an der Zeit sich um­zu­se­hen und die­sen Ort so schnell wie mög­lich zu ver­las­sen. Das schwa­che Licht der ein­zel­nen Lam­pe tauch­te den Raum in ei­ne düs­te­re Mi­schung aus Hel­lig­keit. Es war nur der Platz, an dem sie auf­ge­wacht war et­was hel­ler er­leuch­tet, der Rest des Rau­mes lag in der Dun­kel­heit. Vor­sich­tig und dich im­mer noch fest­hal­tend lief sie den Raum ab. Sie fand kei­ne Klei­dung oder et­was, was sie ge­brau­chen könn­te. Am hin­te­ren En­de des Rau­mes fand sie ei­ne Tür. Der Weg in die Frei­heit kam ihr in den Sinn. Oh­ne nach­zu­den­ken, kämpf­te sie sich auf die in Grün ge­hal­te­ne al­te Öff­nung zu. Das Tür­blatt war von Krat­zern be­deckt und un­ter der grü­nen Far­be blit­ze das hel­le Holz her­vor. Die an­ge­lau­fe­ne fast ver­ros­te­te Tür­klin­ke drück­te sie nach un­ten, aber die Tür ließ sich nicht öff­nen. Dann ent­deck­te sie ge­gen­über der Tür meh­re­re lichtun­durch­läs­sig, schwarz ge­stri­che­ne Fens­ter un­ter­halb der De­cke. Gera­de so hoch das ein schlan­ker Mensch hin­durch krie­chen konn­te.

Lu be­weg­te sich so gut sie konn­te auf die Fens­ter zu. Lei­der war sie et­was zu klein, um an die Fens­ter ge­lan­gen zu kön­nen. Sie such­te die Wand nach Rie­geln ab, um die Fens­ter öff­nen zu kön­nen. Al­les, was sie ent­deck­te, wa­ren ab­ge­schla­ge­ne Ver­schlüs­se, oh­ne die sie die Rie­gel der Fens­ter nicht lö­sen konn­te. Un­ter­halb des Mitt­le­ren der fünf Fens­ter be­merk­te sie wie­der den Luft­zug, der ih­ren Kör­per auf der Lie­ge mil­de strei­chel­te. Sie ver­mu­te­te ein nicht ganz ge­schlos­se­nes Fens­ter. Aber um das über­prü­fen zu kön­nen, müss­te sie erst einen Weg fin­den, um auf die­se Hö­he zu ge­lan­gen. Sie sah sich die Lie­gen noch ein­mal et­was ge­nau­er an. Un­ten sah sie, dass die Stahl­stan­gen an Rol­len en­de­ten, die man mit ei­nem He­bel fest­stel­len konn­te. Lu lös­te die Brem­sen der Rol­len und schob die schmie­ri­ge Edel­stahl­lie­ge un­ter das mitt­le­re Fens­ter. Dort trat sie bar­fü­ßig die Brem­sen wie­der fest und klet­ter­te hin­auf. Die Nar­be an ih­rem Bauch schmerz­te, aber sie woll­te aus die­sem schwü­len und ver­schmut­zen Raum her­aus. Sie biss die Zäh­ne fest auf­ein­an­der und stell­te sich leicht ge­beugt auf die doch sehr wa­cke­li­ge Lie­ge.

Das Fens­ter war tat­säch­lich nicht ganz ver­schlos­sen. Ein klei­ner Spalt an der Gum­mi­dich­tung sorg­te für den mil­den Wind. Lu press­te ih­re schlan­ken Fin­ger in den Zwi­schen­raum und zog, so fest sie konn­te. Der Rah­men knirsch­te be­reits, gab aber nach. Zu ih­rem er­stau­nen war das Fens­ter aber nur auf der Kipp­stel­lung. Sie konn­te drau­ßen ho­hes Gras und ei­ni­ge ver­wil­der­te Sträu­cher er­ken­nen. Im Hin­ter­grund sah sie so­gar ein paar Häu­ser auf­ra­gen, die sie bis da­hin noch nie ge­se­hen hat­te. Aber so sehr sie auch an dem Rah­men zerr­te, war es ihr nicht mög­lich, die Öff­nung groß ge­nug zu ma­chen, um hin­durch­schlüp­fen zu kön­nen. Ihr fie­len die me­di­zi­ni­schen In­stru­men­te ein, die sie von ih­rer Lie­ge aus ge­se­hen hat­te. Lu dreh­te ih­ren Kopf vom Fens­ter weg und such­te mit ih­ren Au­gen den Raum da­nach ab. Hin­ter ihr, auf dem klei­nen roll­ba­ren Tisch lag die blut­ver­schmier­te Klin­ge des Skal­pells, Sche­ren und Klam­mern. Wä­re es da­mit mög­lich, das Fens­ter kom­plett zu öff­nen, um ent­kom­men zu kön­nen? Was blieb ihr an­de­res üb­rig als es zu ver­su­chen.

Sie setz­te sich wie­der an den Rand der Lie­ge. Er­neut glitt sie mit dem Po über das glat­te Me­tall auf den Bo­den hin­un­ter. Mit Tip­pel­schrit­ten, aber oh­ne sich fest­zu­hal­ten, hielt sie auf das klei­ne Tisch­chen mit den Werk­zeu­gen zu. Als sie es er­reich­te, fiel ihr Blick auf die dre­cki­ge Klin­ge des Skal­pells. War das ihr Blut dar­an? Wie fern­ge­steu­ert tas­te­te ih­re rech­te Hand nach der di­cken Nar­be an ih­rem Bauch. Reiß dich zu­sam­men Mäd­chen, schimpf­te sie sich selbst aus. Es gab kei­ne Zeit zu ver­lie­ren, aus die­ser Höl­le zu ent­flie­hen. Ne­ben den Werk­zeu­gen fand sie ein Blatt Pa­pier. Um zu er­ken­nen, was dar­auf stand muss­te sie es in das schwa­che Licht hal­ten. Es war ei­ne Zeich­nung des mensch­li­chen Kör­pers. Auf der Zeich­nung war, ex­akt an der Stel­le wo ih­re Nar­be war ein ro­ter Kreis ein­ge­zeich­net. Da­ne­ben stand mit Ku­gel­schrei­ber ei­ne Zah­len­fol­ge. Aber es gab dar­auf noch meh­re­re ro­te Krei­se. Di­rekt ne­ben­an links war ei­ner ver­zeich­net und un­ter­halb ih­rer Brüs­te eben­falls. Sie hielt einen Mo­ment in­ne, dann wur­de ihr auf ein­mal klar, was pas­siert war. Man hat­te ihr ei­ne Nie­re ent­fernt. Als ob das nicht schon ge­nug wä­re, woll­te man ihr die an­de­re Nie­re und das Herz her­aus­schnei­den. Pa­nik stieg in ihr auf und der Schweiß lief in Strö­men an ihr her­ab.

»Ich muss die­sen Zet­tel mit­neh­men«, flüs­ter­te sie sich selbst zu. »Da­mit kannst du be­wei­sen, was hier pas­siert ist.«

Sie fal­te­te das Blatt zu­sam­men, bis ihr auf­fiel, dass sie ja kei­ne Ta­sche hat­te, um ihn ein­zu­ste­cken. Egal, sie wür­de ihn ein­fach in der Hand be­hal­ten. Vo­rerst muss­te sie se­hen, wie sie mit dem vor­han­de­nen Werk­zeug das Fens­ter auf­be­kom­men wür­de. Lu griff sich das Skal­pell und zwei der Sche­ren. Krampf­haft hielt sie die Werk­zeu­ge, so­wie das Blatt Pa­pier in der Hand und mach­te sich wie­der auf den Weg zu­rück zum Fens­ter. Ihr Werk­zeug leg­te sie an den vor­de­ren Rand der Lie­ge und dreh­te sich um. Sie lehn­te sich mit dem Hin­tern an die Lie­ge und drück­te sich mit den Ar­men nach oben. Als sie wie­der auf der Kan­te saß, brauch­te sie ei­ne klei­ne Pau­se, um wie­der et­was Kraft zu tan­ken. Lu nahm sich ei­ni­ge Se­kun­den, um wie­der ge­nü­gend Kraft zu sam­meln. Die Auf­ga­be, die jetzt auf sie zu­kam, ver­sprach nicht leicht zu wer­den. Vor­sich­tig rich­te­te sie sich wie­der auf der wa­cke­li­gen Lie­ge auf. Das Werk­zeug ließ sie erst ein­mal lie­gen und sah sich den Holm an, der den Rah­men hielt, da­mit er nicht nach in­nen klapp­te. Sie er­kann­te ei­ne Schrau­be an der Sei­te. Wenn sie die her­aus­dre­hen wür­de, könn­te sie das Fens­ter ein­fach nach un­ten klap­pen und nach drau­ßen klet­tern. Sie nahm ei­ne der Sche­re zur Hand und ver­such­te, die Schrau­be zu lö­sen. Egal wie viel Kraft sie auch ein­setz­te, die Schrau­be dreh­te sich nicht. Flu­chend schimpf­te sie auf die Schrau­be ein. Lu brauch­te einen an­de­ren Weg, aber wel­chen?

Ihr Blick fiel auf den schma­len Wulst auf der In­nen­sei­te der Schei­be. Wenn sie das Glas zer­trüm­mer­te, wür­de das zu viel Lärm ver­ur­sa­chen und viel­leicht je­man­den auf sie auf­merk­sam ma­chen. Sie muss­te lei­se sein und mög­lichst schnell von hier ver­schwin­den. Dann kam ihr ei­ne Idee. Mit dem Skal­pell schnitt sie auf der In­nen­sei­te der Schei­be am Rand den Gum­mi her­aus, der die Schei­be in Po­si­ti­on hielt. Als sie ein­mal au­ßen her­um ge­fah­ren war, ver­such­te sie das Gum­mi­band her­aus­zu­zie­hen. Es ge­lang ihr nicht. Schein­bar muss­te sie das Skal­pell auch noch flach an der Schei­be durch­zie­hen, um es lö­sen zu kön­nen. Sie ritz­te mehr­fach in das wei­che Gum­mi und konn­te einen Teil da­von her­aus­lö­sen. An den an­de­ren drei Sei­ten tat sie das Glei­che. Nach ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit hat­te sie das gan­ze Gum­mi um den Rah­men ab­ge­löst. Ih­re Fin­ger wa­ren blu­tig und schmerz­ten, aber sie gönn­te sich kei­ne Pau­se. Die Pa­nik man könn­te sie ent­de­cken ließ sie weiter­schuf­ten. Die Schei­be hielt sich trotz des ent­fern­ten Gum­mis noch im Rah­men fest. Mit der Spit­ze der Sche­re, die sie in den ent­stan­de­nen Spalt press­te, zog sie noch ein­mal die Kan­te nach. Nach der drit­ten Sei­te konn­te sie die Schei­be am lin­ken obe­ren Rand vor­sich­tig nach in­nen kip­pen. Noch ein­mal ritz­te sie mit der Sche­re in den Spalt, um wei­te­ren Be­we­gungs­spiel­raum zu ge­ne­rie­ren. Es funk­tio­nier­te, wie sie sich das ge­dacht hat­te. Das Glas kam lang­sam aus dem Rah­men her­aus. Je wei­ter sie die Schei­be lös­te, um­so mehr hel­les Ta­ges­licht flu­te­te den dunklen Raum hin­ter ihr. Plötz­lich lös­te sich das kom­plet­te Glas mit ei­nem lei­sen Knir­schen aus dem Rah­men und kam ihr ent­ge­gen. Die schar­fen Rän­der schnit­ten ihr tief in die Hän­de, trotz­dem trau­te sie sich nicht sie ein­fach fal­len zu las­sen. Mit al­ler Kraft, die sie noch auf­brin­gen konn­te, hielt sie die Schei­be fest und setz­te sie vor­sich­tig auf der Lie­ge ab.

Das Son­nen­licht von drau­ßen blen­de­te sie und nahm ihr die Sicht, bis sich ih­re Au­gen an die Hel­lig­keit ge­wöhnt hat­ten. Sie sah noch leich­te blaue und grü­ne Punk­te vor ih­ren Au­gen, als sie die her­aus­ge­trenn­te Schei­be auf Kni­en auf den Bo­den glei­ten ließ. Vor­sich­tig lehn­te sie das Glas ge­gen die Wand, da­mit sie nicht zer­bre­chen konn­te, wäh­rend sie aus­brach. Sie griff sich das Blatt mit der Zeich­nung und schob es durch die Öff­nung nach drau­ßen. Das Werk­zeug leg­te sie auf ih­rer Lie­ge ab und rich­te­te sich auf. So fest sie konn­te, hielt sie sich am Rah­men fest und zog sich nach oben. Auf dem Bauch lie­gend, robb­te sie durch das Fens­ter hin­aus. Die ver­näh­te Wun­de jag­te ihr hef­ti­ge Schmer­zen durch den Kör­per. Je wei­ter sie her­aus­kam, um­so mehr schmerz­te die Wun­de. Ihr wur­de lang­sam schwarz vor Au­gen, trotz­dem gab sie nicht auf. Sie woll­te es un­be­dingt nach drau­ßen schaf­fen. Auf dem Bauch lie­gend schwan­den ihr die Sin­ne.

Als sie wie­der zu sich kam, steck­ten nur noch ih­re nack­ten Fü­ße in der Öff­nung ih­res Ge­fäng­nis­ses. Lu dreh­te sich vor­sich­tig, von Schmer­zen ih­rer Nar­be be­hin­dert, auf den Rücken. Sie muss­te sich auf­set­zen und Kraft schöp­fen. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten fühl­te sie sich kräf­tig ge­nug, um auf­zu­ste­hen. Gera­de als sie sich um­sah, um die bes­te Rou­te für ih­re Flucht zu fin­den, fiel ihr sie­dend heiß das Blatt Pa­pier ein. Sie hob es auf und lief vor Schmer­zen ge­beugt, durch die ver­wil­der­ten Sträu­cher im­mer wei­ter von dem Ge­bäu­de in dem sie ge­fan­gen war da­von. Vor ihr lag ein klei­nes Wäld­chen, das mil­den Schat­ten spen­de­te. Lu stütz­te sich an ei­nem Baum ab und blick­te zu­rück auf ihr ehe­ma­li­ges Ge­fäng­nis. Sie er­kann­te ein al­tes großes Ge­bäu­de, das sie schon ein­mal ge­se­hen hat­te. Die Gie­bel wa­ren be­reits ver­fal­len, aber das drei­stö­cki­ge Ge­bäu­de hat­te ei­ne große Grund­flä­che. Es war von wei­ßer ver­schlis­se­ner Far­be be­deckt und an der Vor­der­sei­te prang­te ein rie­si­ges ro­tes Kreuz. Ein al­tes ver­las­se­nes Kran­ken­haus et­was au­ßer­halb von Pu­la war ihr Ge­fäng­nis ge­we­sen. Lu Peiz­hi lief im­mer wei­ter von dem Ge­bäu­de weg, in­dem sie ei­ne Nie­re ver­lo­ren hat­te. Als sie das klei­ne Wäld­chen durch­quert hat­te, stand sie di­rekt vor ei­ner Land­stra­ße, die nach Pu­la führ­te. Am Ran­de der Fahr­bahn lief sie, so schnell sie konn­te wei­ter in Rich­tung der Stadt, in der sie leb­te.

Hin­ter ihr nä­her­te sich der klei­ne sil­ber­far­be­ne Wa­gen von Du­brav­ka Ma­tic, die auf dem Nach­hau­se­weg von ih­rer Ar­beits­stel­le in ei­ner Kon­ser­ven­fa­brik war. Sie ent­deck­te die nack­te jun­ge Frau am Stra­ßen­rand der Land­stra­ße und dach­te noch es wä­re ei­ne Tou­ris­tin im Bi­ki­ni. Aber oh­ne Hö­schen? Du­brav­ka brems­te so­fort und hielt vor der Frau die ge­beugt am Rand der Stra­ße lief. Sie schal­te­te die Warn­blink­an­la­ge ein und stieg aus. Ru­fend nä­her­te sie sich der un­be­klei­de­ten klei­nen Frau. Die­se rea­gier­te gar nicht auf ih­re Ru­fe, son­dern streb­te wei­ter der Stadt ent­ge­gen. Ma­tic rann­te ihr hin­ter­her und ver­such­te sie auf­zu­hal­ten. Erst als sie sich ihr di­rekt in den Weg stell­te er­kann­te sie die fremd­län­di­schen Zü­ge im Ge­sicht der Frau. Du­brav­ka hielt sie am Arm und re­de­te auf sie ein. Lu Peiz­hi rea­gier­te nicht auf die An­spra­che. Erst ei­ne schüt­zen­de Ges­te über­zeug­te sie dass von Du­brav­ka kei­ne Ge­fahr aus­ging. Die Wor­te die sie hör­te ver­stand sie nicht. In ih­rem Kopf war nur noch der Ge­dan­ke die Flucht fort­zu­set­zen, wäh­rend sie krampf­haft das Blatt Pa­pier an sich press­te. Du­brav­ka brach­te sie zu ih­rem Fahr­zeug und setz­te Lu auf den Bei­fah­rer­sitz. Vor­sich­tig bug­sier­te sie die nack­te Frau auf den Sitz und mach­te die Tür hin­ter ihr zu. Dann setz­te sie sich wie­der an das Steu­er des Klein­wa­gens und ras­te mit der Ver­letz­ten zum Kran­ken­haus in Pu­la. Als sie an­kam war Lu Peiz­hi be­reits ein­ge­schla­fen. Die Stra­pat­zen der letz­ten Stun­den wa­ren zu viel für sie ge­we­sen. Du­brav­ka hielt di­rekt an der Not­auf­nah­me mit quiet­schen­den Rei­fen und wild hu­pend an. Ei­ni­ge Mit­ar­bei­ter des Kran­ken­hau­ses eil­ten zu dem Fahr­zeug und brach­ten die jun­ge Chi­ne­sin auf die Not­fall­sta­ti­on.

Spur der Todesengel

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