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Naked City „Torture Garden” (1992)

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Der urbane Schrecken hat einen neuen Namen. Es ist der einer Platte: „Torture Garden“ von Naked City. Die Musik bricht aus wie ein Vulkan. Wenn die glühende, böse Lava aufgehört hat zu fließen, ist man jemand anderes. Die Band heißt Naked City, und das ist wörtlich zu nehmen. Aller Fassaden und Leuchtreklamen entkleidet, bliebe von den monströsen Großstädten nur das: Lärm, Gewalt und Atemlosigkeit, Folter und Qual. Es bliebe das nackte, hässliche Skelett einer Stadt. „Torture Garden“ ist die Stimme dieses Skeletts. Musik wie ein Schlachtermesser, das sich in Eingeweide wühlt, wilde Stakkati, atemlose Lärmekstasen. Darin: Oasen der Harmonie, zu kurz, um in Sicherheit zu wiegen. Das längste Stück dauert 74 Sekunden. Stellt euch vor, ihr hättet ein Fernsehen mit 700 Kanälen und einen Finger immer auf der Fernbedienung. Jede halbe Sekunde ein anderer Sender. Und stellt euch vor, ihr wärt gefesselt wie Alex in „Clockwork Orange“, dicht vorm Bildschirm und mit abgeschnittenen Augenlidern. Stellt euch das vor. So klingt „Torture Garden“. Wer zu langsam hört, so könnte John Zorns Credo lauten, der sieht zu wenig fern. „Torture Garden“ hat eine „Sado-Side“ und eine „Maso-Side“, doch man kann sie nicht unterscheiden. 21 Stücke pro Seite, 42 insgesamt – in 29 Minuten. Das kürzeste Stück ist acht Sekunden lang. John Zorn ist der Kopf von Naked City. Er bekämpft ein Altsaxofon, er ringt es nieder, lässt es schreien wie ein Tier. Alles gilt. Verboten sind einzig Tabus. In „New Jersey Scum Swamp“ werden 33 Musikstile in 41 Sekunden abgehakt. Grindcore, Country, Swing, Noise, Punk, Metal, Hardcore – alles. Ohne Overdubs. „Torture Garden“ ist die Summe aller Stile. Doch sie mischt nicht, sie stellt nebeneinander, akribisch genau. Ein universales Puzzle, dessen Teile immer passen. Wie die surrealistischen Gedichte Raymond Queneaus: Man kann sie endlos umstellen, sie reimen sich immer. Unsere Augen sind den Ohren weit voraus: Sie sind schneller, trainiert von Videoclips und Werbespots, von den wilden Schnittfolgen eines David Lynch. Naked City beschleunigt die Evolution des Hörens. „Torture Garden“ ist Avantgarde. Sie nimmt eine Fähigkeit vorweg, die unsere Ohren erst noch erlernen müssen. Die Musiker heißen Fred Frith (Bass), Wayne Horvitz (Tasten), Bill Frisell (Gitarre), Joey Baron (Drums). Sie kommen aus New York. Dort werden pro Jahr zweitausend Menschen umgebracht. Die Platte muss mit 45 Umdrehungen abgespielt werden, doch versucht es auch mit 33: Sie wird sich immer noch anhören wie ein Formel-eins-Rennen. Zorns Urschreie klingen dann tiefer, animalischer: wie King Kong, als er sterbend vom Empire State Building stürzte. Nach Douglas Adams lautet die Antwort auf alle Fragen des Universums „42“. Das Label, das „Torture Garden“ verlegt, heißt Earache. Das Cover der Platte ist in den USA verboten. Mord auch.

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