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Teil 1 Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht › IV. Die Effektivität des Jugendstrafrechts

IV. Die Effektivität des Jugendstrafrechts

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Studien haben erwiesen, dass die Existenz des Jugendstrafrechts und auch die Erfahrungen mit eigenen früheren Verurteilungen eine ausgesprochen geringe abschreckende Wirkung auf junge Täter haben. Soweit überhaupt vor Begehung einer Straftat eine Abwägung stattfindet, steht in erster Linie das Entdeckungsrisiko im Vordergrund, wobei die negativen Reaktionen aus der Umwelt (Eltern, Schule, Behördengänge, polizeiliche Vernehmungen) mindestens ebenso wichtig sind wie die Gefahr einer Verurteilung durch das Jugendgericht.[1] Gesetze, Strafen und Justiz sind für Jugendliche und Heranwachsende eine fremde Welt, die nur bei und nach gelegentlichen Polizeikontakten eine Rolle spielt. Nicht diese wenigen Erfahrungen bestimmen die Handlungen gefährdeter Jugendlicher, vielmehr sind konkrete Bedürfnisse, aktuelle Geschehnisse und konkrete Herausforderungen durch die Gruppe Faktoren, die zu kriminellem Verhalten drängen.[2] Viel wichtiger als die abschreckende Wirkung von Jugendstrafrecht oder drohender Bestrafung oder auch nur des Risikos des Entdecktwerdens ist für das Verhalten von Jugendlichen die Frage der Akzeptanz der jeweiligen Normen. Wo Normen akzeptiert und innerlich moralisch gebilligt werden, besteht ohnehin kaum eine Gefahr strafbaren Verhaltens. Das führt zu einem Paradox: Je größer die Normakzeptanz junger Menschen ist und je weniger sie strafrechtlich auffällig sind, desto eher akzeptieren sie Gesetze und Justiz; je öfter sie dagegen durch Straftaten aufgefallen und bestraft worden sind, desto geringer schätzen sie die Wirkung der strafrechtlichen Reaktion ein.[3]

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Nicht nur für den Jugendrichter, auch für den Verteidiger ist es deswegen umso wichtiger zu erfahren, welche jugendstrafrechtlichen Reaktionen nach kriminologischen Erkenntnissen spezialpräventiv die günstigste Wirkung haben. Die statistischen Zahlen erweisen, dass Jugendgerichte in deutlich mehr als der Hälfte aller Fälle[4] von der Möglichkeit informeller Erledigung im Rahmen der Diversion nach §§ 45, 47 JGG Gebrauch machen. Nur in den verbleibenden Verfahren kommt es zu einer formellen Erledigung durch Urteil. Betrachtet man den Charakter der Reaktionen, so stehen ambulante Maßnahmen (75 %) deutlich vor den stationären Maßnahmen Arrest und Jugendstrafe ohne Bewährung (25 %).[5]

Die Zurückhaltung bei der Verhängung von freiheitsentziehenden Maßnahmen ist durchaus rational, da die Rückfallhäufigkeit steigt, je mehr Freiheitsentzug erlitten wird:

Diversionsmaßnahmen nach §§ 45, 47 JGG: 36 %
Ambulanten Maßnahmen (Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel): 53 %
Jugendstrafe mit Bewährung: 62 %
Jugendarrest: 65 %
Jugendstrafe ohne Bewährung: 69 %[6]

Diese allgemein anerkannten Zahlen werden allerdings streitig diskutiert. Während die eine Seite die hohe Rückfallquote bei Freiheitsentziehung darauf zurückführt, dass „Erziehen durch Strafen“ eben zum Scheitern verurteilt ist, weil eine strengere strafrechtliche Disziplinierung die ohnehin durch Lebensgeschichte und äußere Umstände verletzte Persönlichkeit des jungen Menschen weiter schädigt und ihn den zusätzlichen schädlichen Einflüssen des Jugendarrest- und Jugendstrafvollzuges aussetzt, führt die Gegenmeinung die hohe Rückfallhäufigkeit darauf zurück, dass zu Jugendstrafe ohne Bewährung ohnehin nur die „mehrfach Auffälligen“ verurteilt werden, die hohe Rückfallhäufigkeit bei dieser Negativauslese also eigentlich nur zu erwarten ist und nicht gegen die nach wie vor angestrebte erzieherische Wirkung auch des Jugendstrafvollzuges spricht. Vergleichende Untersuchungen der Rückfallhäufigkeit bei gleichen Ausgangsdelikten, aber unterschiedlicher Strafpraxis haben aber gezeigt, dass bei der „liberalen“ Rechtsanwendung bei sonst vergleichbarer Sachlage die Rückfallhäufigkeit nicht höher, sondern eher geringer ist als bei der „strengeren“ Praxis.[7] Auch die Abschreckungshypothese hat sich nicht bewahrheitet.[8] Jugendstrafe soll gerade auch Mehrfachtäter, denen regelmäßig „schädliche Neigungen“ gemäß § 17 JGG attestiert werden, zu einem rechtschaffenen Lebenswandel führen (Gebot aus §§ 1 Abs. 2, 18 Abs. 2 JGG). Wenn eine Rückfallhäufigkeit von fast 70 % die Folge der Vollstreckung von Jugendstrafe ist, dann ist Jugendstrafvollzug auch bei dieser Tätergruppe wenn nicht kontraproduktiv, so doch zumindest weitgehend wirkungslos.[9]

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Der Verteidiger befindet sich also auf kriminologisch sicherem Boden, wenn er sich im Verfahren gegen seinen jungen Mandanten für die Geltung des Grundsatzes „im Zweifel für eine ambulante Sanktion“ bzw. „im Zweifel weniger“ ausspricht.[10] Rechtlich ist dies ohnehin durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das im Jugendstrafrecht geltende Subsidiaritätsprinzip geboten, wonach schärfere Maßnahmen nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn die eingriffsärmeren nicht ausreichend sind, um den Erziehungszweck zu erreichen (§§ 5 Abs. 2, 17 Abs. 2 JGG).[11]

Die wiederkehrenden, oft wahltaktisch motivierten – und teils gelungenen – Versuche konservativ regierter Bundesländer, das Jugendstrafrecht wenn nicht abzuschaffen, sondern doch erheblich zu verschärfen („Warnschussarrest“ parallel zur Bewährung, Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters, Erwachsenenstrafrecht für Heranwachsende), stehen nicht nur in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben,[12] sondern auch zu entwicklungspsychologischen und kriminologischen Erkenntnissen.[13]

Verteidigung in Jugendstrafsachen

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