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7. Kapitalverbrechen junger Täter
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Im Gegensatz zu den Raubdelikten, bei denen die Polizei- und Justizstatistiken phasenweise einen deutlichen Anstieg verzeichneten, zeigen Tötungsdelikte und Sexualverbrechen über viele Jahre hinweg gleichmäßig geringe Kriminalitäts-Belastungsziffern auf.[88] Dennoch sind es vor allem die Kapitalverbrechen Jugendlicher, die immer wieder Politiker und Medien nach einer Abschaffung oder Verschärfung des Jugendstrafrechts rufen lassen. So richtig und verständlich die Empörung über auch von Jugendlichen und Heranwachsenden begangene schwerste Straftaten sind, so unrichtig wäre es, aufgrund dieser schlimmen Taten das Jugendstrafrecht in seiner Existenz oder in seinen Grundzügen in Frage zu stellen.
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Sexual- und Tötungsdelikte, menschengefährdende Brandstiftung und andere schwerste Verbrechen sind weit davon entfernt, „jugendtypische“ Kriminalitätserscheinungen zu sein. Dennoch gilt es in den wenigen Fällen, in denen Kapitalverbrechen Gegenstand eines Jugendstrafverfahrens sein müssen, ihre Besonderheiten zu berücksichtigen:
Vor allem aus einer Gruppensituation heraus kann es durch die wechselseitige Beeinflussung unter der Vorherrschaft der Gruppennormen zu Überreaktionen kommen, die zu Tötungsverbrechen führen, die weder vom Anlass noch von ihrer Ausführung her sonst irgendwie verständlich wären. Die bei Gruppenstraftaten zu beobachtende Entwertung des jeweiligen Opfers baut dabei sonst bestehende Hemmungen ab.[89]
Viele Tötungsdelikte entstehen aber auch aus einer oft milieutypischen gewalttätigen Eskalation einer vorangegangenen geringfügigen Auseinandersetzung oder Beleidigung.[90]
Aber auch jugendtypische Ratlosigkeit kann zu schwersten Verbrechen führen. Man bezeichnet dieses Phänomen als „Flucht nach vorn“, wie es sicherlich auch bei Erwachsenen, aber typischerweise besonders bei jungen Tätern auftritt: Spontan wird eine Straftat begangen, erst bei oder direkt nach der Begehung dieser Straftat erkennt der junge Täter die Bedeutung und das Gewicht seines Verhaltens und reflektiert das Entdeckungsrisiko. Er meint sich nicht anders helfen zu können als nun „bis zum Ende“ gehen und das Opfer töten zu müssen.
Im Übrigen sind für Kapitalverbrechen junger Menschen oft Familientragödien verantwortlich, sei es, dass der tyrannische (Stief-)Vater Opfer wird, weil der Sohn sein Verhalten nicht länger erträgt oder der gequälten Mutter auf diese Weise meint beistehen zu sollen, sei es, dass Moralvorstellungen oder sonstige kulturelle Werte (Familienehre) aus der Sicht des Jugendlichen nicht anders verteidigt werden können.[91]
Robertz[92] hat eine Klassifizierung der Kapitaldelikte junger Täter versucht. Danach kommen folgende Ursachen in Betracht:
• | psychopathologische Faktoren (Schizophrenie, Psychose), |
• | neurobiologische Faktoren (Epilepsie), |
• | psychosoziale Faktoren (körperliche oder emotionale Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionaler Inzest), |
• | Entwicklungsschädigungen (schwächere Intelligenz führt leichter zu Kurzschlusshandlungen), |
• | Psychodynamik (Frustrations-, Aggressionssituationen, die zu einer partiellen Dehumanisierung führen), |
• | Gruppendynamik. |
In neuerer Rechtsprechung verlangt der Bundesgerichtshof bei von jungen Menschen begangenen Tötungsdelikten auch dann, wenn es bei laienhafter Betrachtung keine Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung, Alkohol- oder Drogeneinfluss oder aktuellen Affekt gibt, ein psychiatrisches Gutachten zur Schuldfähigkeit; dies erst recht dann, wenn sich die Tat als persönlichkeitsfremd darstellt oder zumindest soziale Auffälligkeiten, Alkoholisierung und gruppendynamische Einflüsse festzustellen sind.[93]