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4. Junge Ausländer, Aussiedler und Flüchtlinge
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In der Kriminologie ist es eine Binsenweisheit, dass der sich aus den Polizeistatistiken ergebende Eindruck, ausländische Jugendliche seien generell stärker, nämlich zwei- bis dreifach mehr kriminell belastet als gleichaltrige deutsche Jugendliche, fragwürdig ist. Dies nicht nur deshalb, weil sich bereits in den Verurteiltenzahlen eine deutliche Nivellierung abzeichnet, sondern auch, weil die Vergleichsgruppenbetrachtung angesichts unterschiedlicher Zusammensetzung ungeeignet ist[34] und ein nicht unbeträchtlicher Teil der von der Polizeistatistik erfassten Straftaten solche sind, die nur von Ausländern begangen werden können (Verstöße gegen das Ausländerrecht).
Betrachtet man die Lebensumstände vieler junger Ausländer („Gastarbeiterkinder der zweiten oder dritten Generation“), ist festzustellen, dass bei ihnen strukturell eine Häufung solcher Umstände vorliegt, die nach aller Erfahrung eher dazu führen, dass junge Menschen in Straftaten verwickelt werden: unvollständige Familien (ein Elternteil lebt z.B. im Ausland), Pendelerziehung zwischen Angehörigen im Ausland und hier lebenden Elternteilen, manchmal Übersiedlung aus allein aufenthaltsrechtlichen Gründen erst kurz vor dem 16. Lebensjahr, enge Wohnverhältnisse für vielköpfige Familien, weitgehender Ausfall der Eltern als Erziehungspersonen, weil beide angesichts der wirtschaftlichen Notsituation berufstätig sein müssen, Überforderung der älteren Geschwister mit der Sorge für die jüngeren Kinder. Das Erlernen sozialer Muster nach dem Vorbild der erwachsenen Erziehungspersonen wird erschwert, weil junge Ausländer erleben, dass ihre Eltern ihrerseits den sozialen Anforderungen der hiesigen Gesellschaft nicht gerecht werden, sie beruflich oder in der Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Behörden oder Mitbürgern versagen. Junge Ausländer müssen sich mit verschiedenen Kulturen und Identitäten auseinandersetzen, zum einen den herkömmlichen Werten, wie sie meist noch in den Familien intern vertreten werden, zum anderen den Anforderungen der deutschen Gesellschaft, mit denen sie im Umgang mit Freunden, auf der Straße, bei Behörden und vor allem in der Schule konfrontiert werden. Damit ist oft verbunden, dass sie sich weder in ihrer Heimat- noch in der deutschen Sprache wirklich fehlerfrei verständigen können. Die Situation wird verschärft durch vielfach schlechte rechtliche Rahmenbedingungen, insbesondere wenn wegen der ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Situation Schwierigkeiten bestehen, eine Arbeitserlaubnis zu erlangen.[35] Ähnliche Problemkonstellationen sind bei jungen Aussiedlern festzustellen.[36]
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Mit der im Jahr 2015 einsetzenden Flüchtlingskrise und der „Grenzöffnung“ aus dem September 2015 trat die Gruppe der jugendlichen und heranwachsenen – oft unbegleiteten – Flüchtlinge verstärkt in den Fokus.[37] Bei dieser Gruppe stellen sich die oben angerissenen Probleme in besonderem Maße: In den meisten Fällen sind diese Jugendlichen familiär und kulturell entwurzelt, haben traumatische Fluchterlebnisse hinter sich[38] und leben hier bis zu ihrer (teils auch nur zeitlich begrenzten) aufenthaltsrechtlichen Anerkennung mit unklarer Perspektive in schwierigsten Wohnverhältnissen ohne erwachsene Bezugspersonen. Obwohl in der medialen Berichterstattung aus dieser Gruppe heraus begangene Straftaten teils überzeichnet, dramatisierend und manchmal auch schlicht falsch[39] dargestellt werden, zeigen aktuelle statistische Erhebungen, dass der Anteil delinquenter jugendlicher und heranwachsender Flüchtlinge – vor allem bei Rohheitsdelikten – überproportional zu sein scheint.[40] Berichte über entsprechende Straftaten – zum Beispiel nach den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 – und über die überproportionale hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler geben immer wieder Anlass zu erregten tagespolitischen Debatten und dem Ruf nach Verschärfungen im Straf- und Ausländerrecht. Bei den entsprechenden Diskussionen darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass die überproportionale statistische Präsenz der Straftaten solcher Flüchtlinge zum Teil auch darauf zurückzuführen ist, dass die Gruppe der männlichen 14- bis unter 30-Jährigen, bei denen (Gewalt-)Straftaten besonders häufig vorkommen, unter den Flüchtlingen deutlich überrepräsentiert ist. Bezeichnend ist darüber hinaus auch, dass Flüchtlinge aus Ländern, die hier keine Aussicht auf einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben oder deren Asylanträge bereits abgelehnt wurden, überproportional oft strafrechtlich in Erscheinung treten, während Flüchtlinge aus anerkannten Kriegsgebieten, die mit der Zuerkennung eines entsprechenden Schutzstatus rechnen können, deutlich seltener der Fall ist. Zu beachten ist schließlich, dass jedenfalls die Gewaltstraftaten sich zu einem großen Teil gegen andere (meist männliche) Flüchtlinge richten und ersichtlich auf in den beengten und emotional aufgeladenen Wohnverhältnissen der Flüchtlingsunterkünfte entstandene Konflikte zurückgehen.[41]
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Alle diese Faktoren müssen im Einzelfall bei der Würdigung des strafbaren Verhaltens eines jungen Ausländers Berücksichtigung finden. Die schwierige Lebenssituation junger Ausländer und ihre Auswirkungen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Möglichkeit adäquaten sozialen Lernens sind insbesondere bei der Verantwortungsreife, bei der Frage nach schädlichen Neigungen oder Schwere der Schuld, bei der Frage der Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende und natürlich bei der Bemessung der jugendstrafrechtlichen Reaktion zu berücksichtigen. Die rechtlichen Besonderheiten ihrer aufenthaltsrechtlichen Position dürfen dabei nicht aus den Augen verloren werden. Ein unzulässiger Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG ist es, wenn Straftaten von Ausländern wegen ihrer Ausländereigenschaft („Missbrauch des Gastrechts“) härter bestraft werden als solche von deutschen Staatsangehörigen – eine Praxis, die leider so häufig vorkommt, dass der Bundesgerichtshof sie immer wieder korrigieren muss.[42] Umgekehrt begründet natürlich auch die Ausländereigenschaft für sich noch keinen Strafmilderungsgrund,[43] allerdings können besondere Umstände (Verständigungsprobleme, wesentlich abweichende Lebensgewohnheiten, erschwerte familiäre Kontakte) zu einer bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Hafterschwernis führen.[44]
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Die ernsthafte Gefahr einer Ausweisung oder Abschiebung als Folge eines Strafurteils muss schon bei erwachsenen Ausländern als Strafzumessungsgrund zu ihren Gunsten berücksichtigt werden. Erst recht gilt das dann für junge Ausländer. Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG muss eine Ausweisung erfolgen, wenn eine Wiederholungsgefahr besteht und das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.[45] Das Ausweisungsinteresse wiegt dabei gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer oder mehrerer (beliebiger) vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren. Eine Jugendstrafe in Höhe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, reicht insoweit aus. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlich begangener Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder bei einer Straftat nach § 177 StGB. Bei serienmäßiger Begehung von Straftaten gegen das Eigentum wiegt das Ausweisungsinteresse dabei auch dann besonders schwer, wenn der Täter keine Gewalt, Drohung oder List angewendet hat. Auch hier reicht eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe von mindestens einem Jahr aus. Unter denselben Voraussetzungen wiegt das Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Jugendstrafe unter einem Jahr, wobei auch hier eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe ausreicht. Gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse zudem schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer oder mehrerer (beliebiger) vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr, wenn die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. An diesen hier nur überblickshaft dargestellten Ausweisungsregelungen imponiert vor allem die Inkohärenz des neuen Regelungssystems, nach dem bei zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen trotz positiver Legalprognose die negative Gefährdungsprognose bejaht wird.
Diese Rechtslage muss im Jugendstrafverfahren eingehend geprüft und gewürdigt und im Verfahren vorgebracht werden. Es dürfte kaum mit dem Gebot, wonach die Jugendstrafe so zu bemessen ist, dass sie erzieherisch wirken kann (§ 18 Abs. 2 JGG), zu vereinbaren sein, junge Ausländer durch eine entsprechende Jugendstrafe sehenden Auges in eine völlig unsichere, für die weitere Entwicklung schädliche Situation in das Heimatland zurückzuzwingen. Sie beherrschen die Heimatsprache oft nur teilweise, haben keinen Bezug zu Kultur und geltenden Regeln des Herkunftslandes, haben dort meist keine näheren Bezugspersonen und werden von ihren Landsleuten im Heimatland oft argwöhnisch bis feindselig betrachtet und als „Leute aus Deutschland“ diskriminiert.
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Bei jungen Flüchtlingen stellen die oft nicht ausreichenden Deutschkenntnisse eine zusätzliche – für sie ungünstige – Problematik da.[46] Diese führt in der Rechtspraxis dazu, dass niedrigschwellige ambulante Maßnahmen, die gute Deutschkenntnisse voraussetzen (Anti-Agressions-Training, Beratungsgespräche, Betreuungsweisung, soziale Trainingskurse) mangels entsprechender auf Flüchtlinge zugeschnittener Angebote seltener verhängt und stattdessen schnell mit stationären Sanktionen, wie z.B. Arrest, reagiert wird.[47] Viele ambulante Maßnahmen setzen die Zustimmung des Vormundes des jungen Flüchtlings voraus oder sind nur mit dessen Einbindung sinnvoll durchführbar, Vormünder sind jedoch oft (noch) nicht bestellt oder kurzfristig nicht erreichbar.[48]
Problematisch gestaltet sich bei heranwachsenden Flüchtlingen zudem in der Rechtspraxis zunehmend die Reifeentscheidung im Sinne des § 105 Abs. 1 JGG, wo es – neben den häufig auftretenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung des tatsächlichen Alters[49] – zu Fehlschlüssen kommt, bei denen aus der durch die Flucht aus dem Heimatland erzwungenen frühzeitigen Verselbständigung vorschnell auf das Nichtvorliegen von Reifeverzögerungen geschlossen und deshalb das Erwachsenenstrafrecht angewandt wird.[50]
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Ein Sonderproblem stellen bei jungen Ausländern solche schweren Gewalttaten, oft auch Kapitaldelikte, dar, die zur Verteidigung der Familienehre begangen werden. Manchmal gewinnt man im Strafverfahren den Eindruck, dass die Familie ihre Jugendlichen vorschickt („delegiert“), um den aus der Heimat tradierten, hier oft besonders hartnäckig verteidigten Moralvorstellungen zum Erfolg zu verhelfen, wobei in Deutschland die Schlichtungsinstanzen, die im Heimatland oft die schlimmsten Folgen abwenden können (Rat der Dorfältesten, Schlichtung durch einen angesehenen Mekkapilger oder einen im Recht des Koran versierten weisen Mann), fehlen. Das Vorschicken junger männlicher Familienmitglieder zur Verteidigung der Familienehre hat dabei zum Teil wirtschaftliche Gründe – der eigentlich zum Handeln berufene Vater ist der Alleinverdiener der Familie –, mag im Einzelfall aber durchaus auch zum Hintergrund haben, dass die Existenz eines eigenständigen, milderen Jugendstrafrechts bekannt ist. Der junge Ausländer wird sich dem Anspruch der Familie kaum entziehen können. Er steht in einem direkten Interessen- und Identitätskonflikt und wird zur Tat entweder angestiftet oder doch zumindest moralisch getrieben. Dass nicht er diese Entscheidung getroffen hat, sondern die erwachsenen Familienangehörigen, wird er niemals einem Gericht und selten einem Verteidiger offenbaren.
Dennoch ist zu versuchen, die Hintergründe, die Moral- und Rechtsvorstellungen des Herkunftslandes und die daraus folgende „Pflicht“ männlicher Familienangehöriger, die Ehre zu verteidigen, zu ermitteln und zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung ist schon bei Erwachsenen die Tatsache, dass sie aus einem fremden Kulturkreis stammen und noch nicht lange genug in Deutschland leben, um erkennen zu können, dass die eingewurzelten Vorstellungen im Widerspruch zu dem hier geltenden, für sie verbindlichen Recht stehen, zugunsten eines Angeklagten zu berücksichtigen. Die Tötung in Blutrache wird zwar als „niedriger Beweggrund“ i.S.d. § 211 StGB angesehen,[51] führt aber bei einem ausländischen Täter dann nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes, wenn der Ausländer noch derart stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht war, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte.[52] Eine Tat, begangen aus einem Kulturkonflikt heraus, kann zur Annahme eines minder schweren Falles führen oder die „Schwere der Schuld“ ausschließen.[53] In allen Fällen, in denen Kulturkonflikte, „Delegation“ bei der Verteidigung der Familienehre oder sonstige Verstrickungen in Straftaten aufgrund familiärer Abhängigkeitsverhältnisse oder Moralvorstellungen in Rede stehen oder nahe liegen, ist es zunächst angebracht, das Geständnis des jungen Mandanten auf seine Richtigkeit hin zu hinterfragen, denn in manchen Fällen nimmt ein junges Familienmitglied die Tat auf sich, um die älteren Angehörigen, denen höhere Strafen nach Erwachsenenrecht drohen, zu schützen.[54] Sonst aber ist es im Einzelfall durchaus angebracht, dass ein Sachverständiger für Ethnologie die im Heimatland und in der Herkunftsfamilie des jungen Ausländers geltenden Sitten, Gebräuche und Moralvorstellungen dem Gericht erläutert. Die Ergebnisse und ihre Bewertung durch diesen Sachverständigen können auch für den Psychologen oder Psychiater, der Aussagen zur Schuldfähigkeit machen soll, von Bedeutung sein.[55]
S. Muster 6 Rn. 273, Antrag auf Einholung eines ethnologischen Gutachtens.
Diese bei der Verteidigung junger Ausländer zu berücksichtigenden Besonderheiten sind nicht auf Kapitaldelikte beschränkt. Wenn ein Heranwachsender in Ausnutzung seiner Abhängigkeit von seiner türkisch-kurdischen Familie in den von dieser Familie betriebenen bandenmäßigen Betäubungsmittelhandel verstrickt worden ist, muss dies erheblich schuldmindernd berücksichtigt werden und rechtfertigt jedenfalls keine über fünf Jahre hinausgehende Jugendstrafe.[56]
Teil 1 Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht › III. Problemgruppen, Problemkonstellationen › 5. Mehrfach Auffällige, Intensivtäter