Читать книгу Verteidigung in Jugendstrafsachen - Matthias Zieger - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеMit der hier vorliegenden 7. Auflage habe ich die Bearbeitung des von Christian Kahlert begründeten, durch Matthias Zieger ab der 3. Auflage fortgeführten und zu einem Standardwerk des Jugendstrafrechts entwickelten Werkes übernommen. Die Bearbeitung der aktuellen Auflage erfolgte noch in Abstimmung mit Matthias Zieger; sie bringt das Buch auf den Stand des Januar 2018. Ab der folgenden Auflage werde ich das Werk allein verantworten.
Die 7. Auflage erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem das Jugendstrafrecht in seiner erzieherischen Ausrichtung zunehmend unter Druck gerät: In der Rechtsprechung zur Verhängung von Jugendstrafe wegen Schuldschwere sind deutliche Tendenzen erkennbar, nach denen schon bei Straftaten aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität der Erziehungsgedanke mehr oder weniger gut verbrämt hinter den Strafzwecken des Schuldausgleichs, der Sühne und der positiven Generalprävention zurücktreten soll. Ungeachtet der kriminologisch erwiesenen erzieherischen Ungeeignetheit der Verhängung langjähriger Jugendstrafen wird aus dem durch jüngste Wahlergebnisse erstarkten rechtskonservativ ausgerichteten Lager der Ruf nach dem schnellen und längeren „Wegsperren“ jugendlicher und heranwachsender Straftäter lauter, wobei immer öfter mit dem „Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung“ argumentiert wird.
Zugleich wird Jugendstrafrecht zunehmend durch europarechtliche Vorgaben beeinflusst. Ein nicht unerheblicher Teil der Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes der letzten Jahre ging auf entsprechende nationale Umsetzungsverpflichtungen zurück. Die bis zum 11. Juni 2019 ins deutsche Recht umzusetzende EU-Richtlinie 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, führt diese europarechtliche Prägung des Jugendstrafrechts fort. Ungeachtet der Tatsache, dass durch solche europarechtlichen Vorgaben eine ganze Reihe überaus positiv zu bewertender Gesetzesänderungen bewirkt wurden, birgt die durch den europäischen Gesetzgeber beabsichtige Schaffung eines EU-weit einheitlichen Mindestschutzniveaus für jugendliche Beschuldigte die Gefahr, dass der nationale Gesetzgeber aus Kostengründen dort, wo das deutsche Recht bereits Verfahrensgarantien und Schutzvorschriften vorsieht, die über dem durch die europäischen Vorgaben festgelegten Mindestschutzniveau angesiedelt sind, entsprechende Einschnitte vornimmt.
Zudem tritt seit Ende 2015 die Gruppe der jugendlichen und heranwachsenden – teils unbegleiteten – Flüchtlinge verstärkt in den Fokus. Hier ist die jugendstrafrechtliche Praxis gefordert, erzieherisch sinnvolle Herangehensweisen zu entwickeln, welche die schwierige Lebenssituation solcher meist aus dem Familienverbund herausgerissener und durch die Flucht aus dem Heimatland geprägter Jugendlicher berücksichtigen. Weder die vorschnelle Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf heranwachsende Flüchtlinge noch die Verhängung freiheitsentziehender Sanktionen schon bei kleineren Delikten oder einer sich möglicherweise gerade erst entwickelnden kriminellen „Karriere“ können die Lösung sein: Vielmehr sind Politik und Praxis gefordert, passende ambulante Angebote zu schaffen, durch die nicht nur bestraft, sondern erzieherisch Einfluss genommen und unterstützt wird.
Die Relevanz des Jugendstrafrechts in der Verteidigungspraxis wird in den nächsten Jahren erheblich zunehmen: Die bereits angesprochene EU-Richtlinie 2016/800 verpflichtet den nationalen Gesetzgeber zu einer erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs der Pflichtverteidigung im Jugendstrafrecht – nicht nur durch die Absenkung der Schwelle der zu erwartenden Sanktionierung, sondern auch durch die Einführung des Pflichtverteidigers schon im Ermittlungsverfahren, des so genannten „Pflichtverteidigers der ersten Stunde“. Im Ergebnis wird die Anzahl der jugendstrafrechtlichen Mandate, die über eine Pflichtverteidigung aus der Landeskasse finanziert werden, erheblich steigen. Diese europarechtlich forcierte Entwicklung wird dabei allerdings nicht nur die Attraktivität des Jugendstrafrechts für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger erhöhen; sie begründet für die Verteidigerschaft zugleich auch die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die im Jugendstrafrecht tätigen Kolleginnen und Kollegen über entsprechende Kenntnisse verfügen, mit der erforderlichen Sorgfalt und Seriosität agieren und Jugendstrafverteidigung nicht als Verteidigung zweiter Klasse verstehen, durch die mit wenig Aufwand Honorare generiert werden können. Konsequent verpflichtet die EU Richtlinie 2016/800 den nationalen Gesetzgeber daher, für eine entsprechende Fort- und Weiterbildung von Verteidigerinnen und Verteidigern zu sorgen, die auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts agieren.
Die hier vorliegende Neuauflage bemüht sich – in der Tradition der Vorauflagen – allen am Jugendstrafrecht interessierten Kolleginnen und Kollegen, aber auch Referendarinnen und Referendaren und auch den Studierenden eine übersichtliche, an den Bedürfnissen der Praxis orientierte, aus der Sicht des im Jugendstrafrecht tätigen Verteidigers geschriebene Darstellung des Jugendstrafrechts und des Jugendstrafverfahrens an die Hand zu geben. Das Werk soll dabei nicht nur die gezielte Einarbeitung in dieses Rechtsgebiet ermöglichen, sondern auch dem erfahrenen Verteidiger als Hilfsmittel zur vertieften Problembearbeitung dienen. Ich habe mich daher bemüht, die bereits in den Vorauflagen vorhandenen Tipps zur Verteidigungstaktik zu erweitern und auf die besonders praxisrelevanten Problemkonstellationen des Jugendstrafrechts ausführlich einzugehen. Diese strikte Praxisorientierung beabsichtige ich auch in den Folgeauflagen fortzuführen, wobei insbesondere die Darstellung zum Jugendstrafvollzug ausweitetet werden soll, wo durch den Kompetenzübergang auf die Bundesländer in den letzten Jahren eine (landes-)gesetzliche Neureglung auf die nächste folgte.
Ich würde mich freuen, wenn dieses Buch weiter dazu beiträgt, bei vielen Kollegen die Begeisterung für das oft unterschätzte, materiell und prozessual aber anspruchsvolle Gebiet des Jugendstrafrechts zu wecken oder wieder zu entfachen. Das Jugendstrafrecht bietet dabei nicht nur rechtliche Herausforderungen; es fordert den Verteidiger oft auch in menschlich-moralischer Hinsicht, weil er – bei richtigem Verständnis seiner Aufgabe – nicht nur einseitig für die Interessen seines jugendlichen Mandanten eintritt, sondern diesem durch seine Tätigkeit auch den Wert eines unabhängigen, ihm gegenüber unvoreingenommenen und prozessualer Fairness verpflichteten Strafrechtssystems vermittelt. Nicht zuletzt ergibt sich durch die anwaltliche Tätigkeit auf diesem Gebiet damit auch die Möglichkeit, jugendliche Mandanten so zu unterstützen und – im positiven Sinne – erzieherisch zu beeinflussen, dass sie eine schwierige Lebensphase überwinden und in ein Leben abseits des strafrechtlichen Sanktionssystems zurückfinden.
Ich danke an dieser Stelle Frau Rechtsreferendarin Bußmann-Welsch, Frau Kathrin Rüdel und Herrn Markus Butz für ihre wertvolle Unterstützung bei der Bearbeitung der Neuauflage.
Zugleich darf ich um Verständnis dafür bitten, dass ich – wie bereits in den Vorauflagen – im nachfolgenden Text ausschließlich die männliche Form verwendet habe.
Abschließend würde ich mich freuen, wenn mich unter meiner Mailadresse kontakt@jugendstrafverteidigung.de Anregungen, Hinweise und Kritik für die Erstellung der 8. Auflage erreichen.
Berlin, im Mai 2018
Toralf Nöding