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IV.2.1. Die Rhetorik der EntwürdigungEntwürdigung

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Inhaltlich umkreist der Hessische Landbote die Würde des Menschen, ihre Bedrohung, VerletzungMenschenwürdeverletzung und Behauptung. Sprachlich benutzen die Autoren die Bibelreferenzen als rhetorisches Vehikel, als Verpackung des eigentlich naturrechtlichen Würdebegriffs. Eine politische, philosophische oder juristische Argumentation hat der Bürgersohn BüchnerBüchner, Georg den einfachen Bauern offenbar nicht zugetraut.

Dies zeigt sich bereits am Anfang des Textes; hier wird mit Pathos auf die SchöpfungsgeschichteSchöpfung verwiesen. Im Hessen des Jahres 1834 wird „die Bibel Lügen gestraft“. Nicht der Mensch als solcher erscheint als die ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘, sondern nur die „Fürsten und Vornehmen“; die Handwerker und Bauern hingegen, wie das „Getier“ und das „Gewürm“ am fünften Tag erschaffen, werden von jenen beherrscht (MA 40). Die dem Schöpfungsbericht entlehnte Vorstellung der GottebenbildlichkeitGottebenbildlichkeit des Menschen als Grund seiner Würde – dem einfachen Volk ohne Zweifel geläufig – scheint für die unteren Schichten nicht zu gelten. Der vermeintlich herausgehobene menschliche Status wird den Bauern durch zahlreiche eindringliche Bilder abgesprochen: Sie werden metaphorisch zu Tieren, zu bedauernswerten Kreaturen degradiert. Die Bauern werden „mit den Ochsen am Pflug [getrieben]“ (MA 40) und „zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht“ (MA 42). Verantwortlich für diese EntwürdigungEntwürdigung sind der Großherzog und die Beamten: „Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder“ (ebd.).1 Als vertierte Subjekte sind die Bauern der physischen GewaltGewalt der Regierung ausgesetzt: Man „schinde[t]“ sie (MA 44), „[]züchtigt“ (MA 50) sie mit der „Zuchtrute“ (MA 54), mutet ihnen „Armut und Erniedrigung“ zu (MA 44).

Die Sprache der KreatürlichkeitKreatürlichkeit verdeutlicht das Ausmaß von EntwürdigungEntwürdigung, Erniedrigung und GewaltGewalt. Der Text nennt Körperflüssigkeiten, die als Folge von Angst, Trauer und VerletzungMenschenwürdeverletzung auftreten.2 Verben, die sich auf schwere körperlicheKörper Arbeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Gebrechen beziehen,3 zeigen an, wie die Bauern bis an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung ausgenutzt werden. Schließlich werden Körperteile erwähnt, um zu suggerieren, dass die Regierung in die Privatsphäre des Einzelnen eindringt und ihm die Verfügung über den eigenen Leib entzieht.4 Die körperliche Integrität der Bauern wird in diesen ‚Gleichnissen‘ radikal bedroht; ihre Existenz ist bestimmt von Angst, Terror und Leid. Dieses Schreckensbild wird an einer markanten Stelle durch eine Metaphorik des EkelhaftenEkel, Ekelhafte noch gesteigert: Von den „Herren“ heißt es, dass sie ihre mit dem Brot der Bauern gesättigten „Bäuche[]“ mit „schönen Kleidern“ bedecken, „die in ihrem [i.e. der Weiber und Kinder; MG] Schweiß gefärbt“ wurden, dass sie sich mit „zierlichen Bändern“ schmücken, „die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind“, dass sie in „stattlichen Häusern“ wohnen, „die aus den Knochen des Volks gebaut“ wurden, dass sie schließlich „Lampen“ benutzen, „aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert“ (MA 50). Die Bauern sind bloße ObjekteObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit, Menschenmaterial, das von den „Herren“ restlos und zum eigenen Profit verwertet wird. Sie werden zu bloßen Mitteln zum Zweck herabgewürdigt. Darauf laufen auch die vielen statistischen Daten letztlich hinaus: Das Volk wird als Mittel, den Staat – genauer: die Regierung – zu unterhalten, missbraucht.5 Da es nicht einmal über den eigenen Leib verfügen kann, ist es „willenlos“ (MA 64) der „Willkür“ (MA 62) der Regierung unterworfen. Der Staat ist auf der Missachtung der Würde seiner Untertanen aufgebaut.

Der Text will nun insinuieren, dass die Bauern an diesem unhaltbaren Zustand eine Mitschuld tragen, da sie die kontingente Würde der Herrschenden allzu kritiklos akzeptieren.6 Der revolutionäre Aufruf zur Gegenwehr wird daher rhetorisch unterstützt durch die Delegitimierung der kontingenten Würde:7 Da die Tiermetaphorik, die Metaphorik des EkelhaftenEkel, Ekelhafte und die Sprache der KreatürlichkeitKreatürlichkeit auch auf den Großherzog und sein Gefolge bezogen werden, nur in einem deutlich schärferen, anklagenderen Ton, entsteht wieder eine Gleichheit zwischen den entwürdigtenEntwürdigung Bauern und der Regierung; dem gesamten Herrscherapparat wird ebenfalls – allein durch die sprachliche Präsentation – die Würde abgesprochen:

Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren […] sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. Das L. was unter seinen Verordnungen steht, ist das Malzeichen des TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, das die Götzendiener unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen – mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. (MA 50)8

An einer zentralen Stelle prallen zwei unterschiedliche Definitionen des Menschen aufeinander:

Im Namen des Großherzogs sagen sie [i.e. die großherzoglichen Diener; MG], und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverän, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf {eurem} Nacken […]. (MA 48; m. H.)

Hier wird paradigmatisch zwischen einer kontingenten, sozialen Würde einerseits und einer Würde, die in religiös gefärbte Sprache gekleidet („Sehet“, „Menschenkinde“), letztlich aber naturrechtlich begründet ist, andererseits differenziert. Letztere ist jedem Menschen eigen. Die dahinterstehende (politische) Aussage ist folgende: Alle Menschen sind prinzipiell gleich; Ausbeutung, GewaltGewalt, Unterdrückung und HerabwürdigungEntwürdigung beruhen auf künstlich hergestellten Hierarchien und verstoßen (in der suggerierten biblischen Deutung) gegen GottesGott Willen.

Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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