Читать книгу Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen - Max Herrmann-Neisse - Страница 12
IX
ОглавлениеZwischen Elfriede und ihrer Mutter war bis zum Tage von Casatis Beerdigung äußerlich eine Art schweigend vereinbarten Waffenstillstandes innegehalten worden.
Am Tage nach dem für Casati tödlichen Stelldichein erwachte Elfriede mit einem großen Katzenjammer. Langsam erinnerte sie sich an das Zusammensein mit dem Schauspieler. Ach, der hatte sie schmählich enttäuscht; sie wollte ihn nicht wiedersehen. Aber wo war Paula geblieben? Sie glaubte, ihre zärtliche Hand noch zu spüren – sie möchte Paula nie mehr missen. Ja, wie war das gestern eigentlich ausgegangen? War Mama noch nicht zurückgekehrt? Hatte Paula den widerlichen Komödianten rechtzeitig aus dem Haus gebracht? »Wie bin ich überhaupt ins Bett gekommen?«
Da ging draußen der feste Schritt der Mutter, wurde die Tür aufgerissen, stand die Alte bedrohlich an der Tochter Bett. Sie hatte schon ein paarmal nachgesehen, ob das Luder seinen Rausch noch nicht ausgeschlafen hätte. Jetzt endlich, um 12 Uhr mittags, geruhte das Biest zu erwachen! Wenigstens wurde für heut auf diese Weise wohl das Mittagessen gespart! Elfriede hatte ein ganz schlechtes Gewissen und keine Ahnung, wie die Dinge standen und wie sie sich verhalten sollte. Also machte sie verlegen unschuldsvolle Augen und flötete versuchsweise mit süßem Mäulchen: »Guten Morgen, Mama!« Frau Kausch aber hatte in der Zwischenzeit einen festen Plan gemacht, und sein Grundzug war: keine Aufregung, eiserne Ruhe, Undurchdringlichkeit, gründliche Vorbereitung einer Reparatur, die endgültig durchgreift und die Zukunft sicherstellt. Bald würde die Mißratene für immer unschädlich gemacht sein – »So wahr mir Gott helfe!« schwor sich die Alte, die gestern an den Fundamenten ihrer Lebensauffassung gereizt worden war. Die Abrechnung würde von einer gewissen Monumentalität sein, es kam auf Kleinigkeiten nicht mehr an, man konnte auf die Lappalien einer landläufigen Schimpferei und Züchtigung verzichten. Umgekehrt wie im Falle Bernert, war hier das Übergewicht, die Erkenntnis der unüberbrückbaren Entfremdung bei der Mutter. Sie antwortete auch nur mit der Feststellung: »Es ist 10 nach 12«, und aus ihrer Stimme vermochte Elfriede nicht zu entnehmen, ob ihre Mama nun eigentlich etwas von dem gestrigen Abenteuer wußte und wieviel. So fragte sie unsicher weiter: »Hattest du eine angenehme Fahrt? Bist du gut nach Haus gekommen?« Ungerührt entgegnete die Mutter: »Um 11 Uhr 15, mit dem fahrplanmäßigen Zuge, wie ich’s beabsichtigt hatte.« Da ist Elfriede vollends verwirrt. Wenn sie sich nur erinnern könnte! War sie zu so früher Stunde denn schon schlafen gegangen? Sie las doch sonst mindestens bis Mitternacht. War der Besuch, der vermaledeite Mannsbesuch, und Paula, die sich plötzlich als so brauchbar, zuverlässig und zärtlich erwiesen hatte, um 11 Uhr 15 verschwunden, waren alle Spuren des Geschehenen beseitigt? Und blöd entfuhr es Elfriedes Lippen, ohne daß sie es eigentlich wollte: »Schade, daß ich dich nicht mehr begrüßen konnte!« Die ruhige Replik: »Ja, das konntest du leider nicht mehr, denn du warst ja schon sternhagelmäßig besoffen!« wirkte um so verblüffender, weil sie mit äußerster Gelassenheit vorgebracht wurde.
Jetzt tat Elfriede das Dümmste, was sie tun konnte, indem sie kindisch den Spieß umdrehte, zum Angriff überging, unvermittelt ihrer Mutter Vorwürfe machte. »Das kommt davon, daß du mich immer so knapp gehalten hast, daß ich garnicht gewohnt bin, etwas aus mir heraus zu gehen! Die Bielauer Baronesse oder die Landrat-Lotte dürfen alle Jahre einmal eine kleine Gesellschaft geben, nur bei uns geht es so lustlos zu, dabei sind wir doch reicher als die beiden zusammen genommen! Nun hab’ ich die Gelegenheit deiner Reise dazu benutzen wollen, mir auch mal ein paar Freundinnen einzuladen, damit du selbst wenigstens keine Schererei damit hast, und etwas vorsetzen mußte ich meinen Gästen doch auch, das siehst du doch ein! Aber weil ich eben niemals einen Schluck Wein oder ein Likörchen trinken darf, ist es mir recht übel bekommen, und nun hab ich mich vor meinen Mitschülerinnen arg blamiert.«
»Ich wollte dir sowieso nicht mehr länger zumuten, zur Schule zu gehen. Ich schrieb bereits an Fräulein Wolter und meldete dich ab.« Der Hieb saß. Und gleich, ohne den Gegner zu Atem kommen zu lassen: »Ich wußte ja gar nicht, daß Herr Casati mit der Baronesse und der Landrat-Lotte so gut steht! Übrigens ist er solchen Festivitäten noch weniger als du gewachsen.«
Alles das wurde ohne jede Erregung, mit herber Nüchternheit vorgebracht, daß Elfriede schwach in den Knieen wurde und eine Art Schwindelgefühl verspürte. Fassungslos glotzte sie Mama an, die Stimme war ihr in der Kehle erdrosselt und sie schnappte nach Luft wie ein aufs Land geworfener Fisch.
»Schade, daß es mir nicht mehr vergönnt war, seine werte Bekanntschaft zu machen. Donnerstag nachmittag ist die Beerdigung. Wir werden zusammen daran teilnehmen.«
Und Frau Kausch drehte sich, wie nach einer gleichgültigen Mitteilung, phlegmatisch um und ging gemächlich aus dem Zimmer, knallte die Tür nicht zu, sondern schloß sie so behutsam, wie man die Tür eines Krankenzimmers zu schließen pflegt.
Bis zum Beerdigungstage hatten dann Elfriede und ihre Mutter aneinander vorbeigelebt wie zwei feindliche Tiere, die durch des Menschen mächtigeren Willen in den gleichen Käfig gesperrt und gezwungen sind, sich wenigstens äußerlich zu vertragen. Elfriede schämte sich auszugehen: die Abmeldung war nun einmal im Lyzeum eingereicht, ihre Mitschülerinnen würden tuscheln, sie war nicht mehr ihresgleichen, Edith Hahn sollte gar studieren, die Landrat-Lotte wenigstens die Abschlußprüfung bestehen, Elfriede Kausch gehörte nicht mehr dazu, und auch die Tanzstundenpennäler würden sie kaum noch gelten lassen. Gern hätte sie sich bei Paula Trost und Rat geholt, aber die ließ sich nicht blicken, und Elfriede wagte zunächst nicht mehr, eigene Wege zu gehen, sie hatte das entsetzliche Gefühl, daß der Mutter kontrollierendes Augenpaar allgegenwärtig über ihrem Tun und Lassen wache.
Während der Trauerfeier jedoch waren, als Casatis Sarg in die Grube gelassen wurde, Mutter und Tochter einen Augenblick lang unwillkürlich eines Sinnes gewesen: jede dachte, wenn auch aus unterschiedlicher Erwägung heraus: »Geschieht ihm recht, geschieht ihm ganz recht!«
Aber sobald sie nachher zu Hause waren, gewitterte die Entscheidungsschlacht mitleidslos. Die Witwe wärmte den vom Frühstück übrig gebliebenen Kaffee auf. Man saß, um das Meublement der andern Räume zu schonen, am Küchentisch. Frau Kausch goß die Lake in zwei Tassen, auf der einen stand: »Bete und arbeite!«, der andren fehlte der Henkel. Die Mutter brockte in ihre Zichorienbrühe altbackene Semmelreste und schlapperte so gierig, daß es die Tochter ekelte. Elfriede zog einen Flunsch, schob angewidert ihre Tasse beiseite. Da fragte die Mutter – und mehr als das Gesagte, verdroß die Tatsache, daß die Alte mit vollem Munde sprach, den Backfisch: »Die Mahlzeit ist wohl dem Fräulein nicht fein genug? Prinzessin sind gar sehr heikel. Du hast es nötig, du dämliche Pute! Du wirst noch gar viele Löcher im Leben zurückstecken müssen! Das hätte dir wohl so gepaßt, immer nur aus dem Vollen heraus zu wirtschaften und niemals zu fragen, woher es kommt! Hättest nicht lange so weiter gemacht, du dummes Ding! Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, der Komödiant wäre am Leben geblieben und du hättest richtig durchgemacht, was es heißt, mit so einem Zigeuner verheiratet zu sein. Da wären dir wohl die Äuglein aufgegangen. Da wärst du noch einmal froh gewesen, wenn du solchen Kaffee gehabt hättest, über den du jetzt die Nase rümpfst. So üppig ist ein Komödienspieler nicht dran, daß es alle Tage Fettlebe gegeben hätte. Hast ja gesehen, wie er hier dreinhieb, konnte nicht genug kriegen, natürlich war er’s nicht gewohnt und fraß sich die Krätze an den Wanst! Und auch sonst hättest du wohl dein blaues Wunder an dem Hallodri erlebt. Wenn er besoffen nach Haus gekommen wäre, da hättest du nichts zu lachen gehabt, kurz und klein geschlagen hätte er das Bissel Gelumpe, was ihr euch eventuell mal angeschafft hättet. Weißt wohl noch garnicht, wie er sich hier aufgeführt hat, als er einen in der Krone hatte? Als ob die Wandalen in unsrem Salon gehaust hätten, sah es aus. Danke Gott, daß der Herr sich gleich beim ersten Rendezvous gründlich dekuvrierte und ebenso gründlich aus dem Staube machte. Friede seiner Asche!«
Elfriede sprang so heftig auf, daß sie ihre Tasse umwarf und sich den Kaffee aufs Kleid goß, das nun noch verferkelter aussah, als der Frau Mama besabbertes, fettig glänzendes Alltagsgewand, und schrie: »Ich habe ja alles demoliert, ich, nicht er war es! Weil ich den ganzen Plunder hier nicht mehr sehen kann – weil . . weil . . .« Sie fand nicht die nötigen schlichten Ausdrücke, sich verständlich zu machen, und wirkte schon durch ihre Exaltiertheit wenig überzeugend. Die Mutter vermutete eine Verschrobenheit in ihr, die allzu romantisch war und nur noch im Unterhaltungsteil des Generalanzeigers existierte, und fragte mitleidig: »Woher du nur wieder diese Überspanntheit hast? Wenn euch die Töchterschule solche Raupen in den Kopf setzt, dann ist es höchste Zeit, daß du dort rauskommst! Den Liebsten in Schutz nehmen, sich selbst bezichtigen, damit kein Makel auf ihn fällt: du lieber Gott, das ist ja wohl ganz hirnverbrannt.«
Elfriede verzweifelte daran, ihrer Mutter jemals die Zusammenhänge klarmachen zu können. Mit der größten Anstrengung und komisch sich überqiecksendem Tone kriegte sie grade noch heraus:»Er war gar nicht mein Liebster! Im Gegenteil . . .« Weiter kam sie nicht, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie der Alten alles das beibringen sollte, was an schwierigem Durcheinander sich begeben hatte. Übrigens schnitt Frau Kausch jede unfruchtbare Fortführung der Debatte mit der Feststellung ab: »Jedenfalls hast du nun einen Stich weg. Und vielleicht ist das auch ganz gut so, weil es deinen Hochmutsteufel etwas dämpft. (Mutter Kausch sprach so kurioses Bilderdeutsch!) Jetzt wirst du froh sein, wenn ein solider, anständiger Kaufmann dich noch zur Frau nehmen mag. Unser Geschäftsführer Goller hat mir schon vor einiger Zeit gestanden, daß er etwas für dich übrig hat. Natürlich mußte ich ihm gestern andeuten, daß du nicht mehr ganz so bist, wie er es hätte verlangen dürfen. Aber er hat nun mal einen Narren an dir gefressen und nimmt dich auch so.«
Elfriede wollte wieder aufbegehren, daß mit dem Mimen, dem unfähigen, leider gar nichts geschehen sei, da erinnerte sie sich des Spiels mit Paula und schwieg. Der Befund würde gegen sie sein. Und die letzte Mitteilung ihrer Frau Mama war ihr nicht einmal unlieb. Zumindest kam sie auf diese Weise aus der mütterlichen Gewalt und in eine gewisse Selbständigkeit. Der Geschäftsführer Fritz Goller war fünfundzwanzig Jahre älter als sie, hatte einen Bierbauch, kleine Schweinsäuglein, eine Kastratenstimme und weibisch weiche Patschhände. Er meinte die Fabrik, das Ansehn, das Kapital der Firma Kausch. Er war der günstigste Fall.
Frau Kausch fuhr fort: »Natürlich mußt du erst mal lernen, eine Häuslichkeit zu führen. Ich habe bereits mit Herrn Lubschick gesprochen, daß er dich in seinem Restaurationsbetrieb als Kochfräulein volontieren läßt. Morgen früh um neun wirst du dich dort melden, dann hat das Luderleben ein Ende.«
Elfriede muckschte nur noch um ihrer Selbstachtung und eines guten Abgangs willen etwas von »Vergewaltigung« und »Über meinen Kopf weg verfügen«, aber sie meinte es längst nicht mehr ernst.
Am nächsten Morgen trat sie zum Kochunterricht in den »Kulmbacher Bierstuben« an.
Es war das solideste Honoratiorenlokal der Stadt, und so gewiß die Frau Lubschick, ehrsame Bürgersfrau, in der Küche zuverlässig ihres Amtes waltete und auf Zucht und Sitte hielt, floß doch Ahnung und mehr als Ahnung des zweifelhaften Männerbetriebes, den jeder, auch der noch so brav geführte Ausschank darstellt, durch unfaßbare Kanäle in den Raum der Herdfeuer und Bratendämpfe. Der Hof war eng, das Pissoir gradeüber, wegen der Ofenhitze blieben die Küchenfenster offen, es war kaum zu vermeiden, daß verdächtiges Geriesel und saftige Latrinengespräche hörbar wurden.
Elfriede genoß derlei Dinge mit doppeltem Vergnügen: einmal aus Opposition gegen der Mutter sture Wohlanständigkeit, dann in der Freude, ihrer Freundin Paula durch eine ihr wohlgefällige Anrüchigkeit nahe zu sein. Denn endlich hatte sie den Verkehr mit Paula Bernert wieder aufgenommen. Wenn Elfriede eine Besorgung machen sollte oder ihr eine Pause im Küchenbetrieb gewährt wurde, lief sie rasch zu Paula, berichtete ihr erdachte und erlauschte Verfänglichkeiten, holte sich Trost und Stärkung, wurde, ohne daß sie es merkte, geneppt und zog, in der Opposition gefestigt, wieder ab.
Paula hatte ihr, wider Erwarten, zu der Heirat zugeredet. Schließlich fand die Hochzeit statt. Die Schneidefintochter nahm daran wenigstens als Serviermamsell teil und sah mit Genugtuung, daß der Bräutigam sich ganz ähnlich benahm, wie einst Herr Casati. Jedenfalls tat er mit Essen und Trinken auch des Guten zuviel, lief hochrot an und jappte nach Luft. Aber er konnte noch lebend zum Hochzeitslager abtransportiert werden; zumindest blieb er als Paravant erhalten.
Herr Fritz Goller hielt an dem Glauben fest, jener damals so plötzlich verstorbene Schauspieler hätte die Erstlinge seiner jetzigen Frau gepflückt. Im Grunde war er froh, einer unangenehmen Sache überhoben zu sein. Außerdem tat es ihm wohl, daß jener Vorläufer nicht mehr lebte. Obendrein war es auch ihm lieber, daß es sich um keinen Einheimischen handelte. Ein klein wenig war er sogar stolz darauf, daß seine Frau diese aparte Neigung zum Theater gehabt hatte und sich so von dem Durchschnitt der flanellenen Kaufmannsweiber phantastisch abhob.
Hätte er gewußt, daß seine junge Gattin mit einem so häßlichen und verdächtigen Gassengeschöpf wie Paula Bernert intim war, wäre er weniger beglückt und über die Irrwege weiblicher Neigungen kindlich erstaunt gewesen.
Paula erstaunte selbst immer wieder, wie ergeben seit dem Abend mit dem Schauspieler die Kausch-Tochter an ihr hing. Natürlich machte es ihr Spaß, von der eleganten Frau Goller über alle Vorgänge in der sogenannten guten Gesellschaft auf dem laufenden gehalten zu werden. Auch ergötzte es sie weidlich, wenn Elfriede ihre Schlafzimmergeheimnisse zum besten gab. Sie kannte Herrn Goller aus den liebevollen Schilderungen seiner Gattin nun schon genauer, als er sich vermutlich selber kannte, sah ihn in Unterhosen herumschlurfen, nach dem Nachtgeschirr angeln, bei ebenso lächerlichen wie vergeblichen Versuchen ehelicher Pflichterfüllung in Schweiß geraten. Es befriedigte sie sehr, wenn Elfriede ihren Mann verhöhnte, von ihm verächtlich sprach, ihn bösartig nachäffte, und sie verstand es, Elfriede geschickt zu immer ordinärerer, rabiaterer Ausdrucksweise aufzustacheln. Selbstredend profitierte sie auch finanziell von dieser Freundschaft, ließ sich Geschenke mitbringen, Geld zustecken, verwertete manchen Hinweis. Blieb immer kühlen Kopfes, in wohlweislicher Distanz, unmerklich spöttisch, lauernd, schadenfroh, konnte nicht hingerissen werden.
Im Grunde wurde diese ganze Geschichte ihr nachgerade schon lästig. Da bewirkten andre Ereignisse, daß die Beziehung zwischen den beiden so verschiedenartigen weiblichen Wesen noch mehr gefestigt wurde.