Читать книгу Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen - Max Herrmann-Neisse - Страница 6

III

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Bald nahm sie auch praktisch daran teil. In diesem Stadtbezirk war man beizeiten mit von der Partie, schloß Unansehnlichkeit gottlob nicht vom allgemeinen Vergnügen aus. Paulas Bereitschaft drückte sich unwillkürlich in einem Blick aus, den man unverschämt zu schimpfen pflegt. Der erste, der ihn verstand, war der Militärmusiker Kusche, der im ersten Stock desselben Hauses bei der Witwe Finger logierte. Ihn reizte junges Gemüse, der kleine Körperfehler in dem Teil oberhalb des Gürtels kam dagegen nicht in Betracht. Man begegnete sich auf der dunklen Treppe, sie ließ sich in den Winkel drücken und erlaubte den Händen alles mögliche. Und einmal war seine Wirtin ausgegangen, er drängte Paula in sein Zimmer – nachher mußte sie sich gestehen, daß sie keinen Spaß dran gehabt hatte. Aber vielleicht lag es an dem ungeeigneten Partner.

Eine Art Respektsperson war in der Gasse der Herr Schuhmachermeister Hanke. Er hatte dort ein geräumiges Haus billig erworben, im Parterre sein Warenlager verstaut, im ersten Stock sich und seine Familie einquartiert – der Laden befand sich am belebteren Marktplatz. Natürlich machte man sich mit dem Gassenvolk nicht gemein, ging ins Geschäft, kam aus dem Geschäft, ohne viel nach rechts und links zu sehen, schloß das Haustor auf, riegelte es ab, war in seinen eigenen vier Wänden, dem saubren Heim des Handwerkers, der es zu etwas gebracht hatte. Da gab es einen Sohn, der nur Josef heißen konnte, aufgezogen in der Zucht und Ordnung eines christkatholischen Hauses, dennoch etwas aus der Art geschlagen, unbefangen, ohne Arg. Seine Eltern hatten vorher in Mährengasse gewohnt, dem eng benachbarten Dorfe, das allmählich zum Rang einer Vorstadt aufgerückt war. Als man jetzt hierher umzog, orientierte Josef, vierzehnjährig, sich in dem neuen Milieu – die alten Hankes hatten mit der Räumerei zu tun und achteten ausnahmsweise einmal nicht so streng auf ihn. Selbstverständlich umstand ein Kreis Neugieriger den Umzug, begutachtete, bewunderte oder bespöttelte die einzelnen Möbelstücke – das war hier ebenso gut ein Ereignis wie das Gegenteil, wenn eine Familie, die den Mietzins nicht zahlen konnte, auf die Straße gesetzt wurde. Mit ländlicher Verlegenheit lehnte der stramme Junge dabei an der Mauer des Hauses. Da erspähte ihn die Bernert-Paula, erfaßte instinktiv seine dämliche Besonderheit, Hilflosigkeit, Unverbrauchtheit, schob sich neben ihn, redete ihn an. War die erste, die ihn in dieser neuen Welt menschlich begrüßte und also auf dem ungewohnten Boden heimisch machte, veranstaltete mit ihm und der übrigen Jungmannschaft der Gasse Pfänderspiele, in deren Verlauf es ihr gelang, den wirklich keuschen Josef mehrfach zu verfänglichen Küssen zu veranlassen, tat, als ob sie fiele, griff ihm hierhin und dorthin. Er, an derlei nicht gewohnt, kicherte, quiekte, zappelte vor Lust, hätte vielleicht auch etwas gewagt, da kam sein Vater, der Umzug war beendet, der Sohn wurde ins Haus gerufen und folgte sofort, ohne sich von seinen Spielgefährten zu verabschieden. Die fingen nun an, auf ihn zu schimpfen, aber zu ihrer Verwunderung nahm Paula ihn in Schutz. Ihr gefiel Josefs Unterwürfigkeit und sie versprach sich das Beste von ihr.

Haukes versuchten dafür zu sorgen, daß ihr Sohn der Gassenjugend fernblieb. Sein Stundenplan war geregelt und überwacht, Schularbeiten, Aushelfen im Geschäft, Spaziergang im Stadtpark mit der Mutter. Desto brennender reizte ihn die verbotene Welt, und natürlich fanden sich Schleichwege, zu ihr zu gelangen. Eines Nachmittags sollte er mit seinem kleinen Bruder, dem vierjährigen Gustel, zum Kinderspielplatz der Flußpromenade gehen. Darüber war er sowieso empört, weil dieser Auftrag ihm unter seiner Schülerwürde schien und mehr als peinlich dünkte. Und während seine Mutter glaubte, er sei durch das verantwortungsvolle Aufsichtsamt genügend gebunden, nahm es ihn von vornherein gegen seinen Schutzbefohlenen ein. Gustel wurde ziemlich hart angefaßt, auf einen Sandhaufen geprellt: »Hier bäckst du Kuchen und rührst dich nicht vom Flecke, bis ich dich abhole!« und fort war Josef.

Mit Paula traf er sich auf dem Wagenplatz, wo die Geschäftsleute, die über keinen geräumigen Hof oder keinen Schuppen verfügten, ihre Fahrzeuge mietweise aufstellen durften. War man geschickt, gelang es einem, unbemerkt in den Planwagen der Hübnerbrauerei zu kriechen, und war man erst einmal drinnen, so hatte alles keine Schrecken und Bedenken mehr. Josef genoß die süße Sünde, froh, ihr nicht ins Auge schaun zu müssen, und Paula war es lieb, daß er im Dunkel der Wagenhöhle nicht durch ihren Körpermakel irritiert werden konnte.

Plötzlich ist draußen Tumult, Geschrei, Durcheinander und deutlich der Ruf »Josef« vernehmbar. Paula hört es zuerst, säubert sich von Wagenstaub und Stroh, schlüpft hinaus, während Josef noch in seliger Benommenheit liegt und sich aus Rückerinnerung und Gewissensbissen ein wollüstiges Gespinst macht. Draußen erfährt sie aus dem Lamento des Gassenklatsches, daß der Hanke-Gustel in die Neiße gefallen und ertrunken sei. Sie rast den kurzen Weg zur Promenade hinüber, schon fährt der Aufseher der Badeanstalt im Kahn und sucht mit einer Stange nach dem Leichnam. Am Ufer rennt die Frau Hanke, die sonst immer so aufreizend adrett aussieht und so unnahbar tut, zerrupft und schlampig, wie ein irres Huhn, auf und ab und wendet sich in klagendem und anklagendem Gejammer an die Volksmenge, die neugierig und wenig gerührt herumlungert. Manche nehmen sogar gegen die Schuhmacherfrau Partei: »Hätte der Geizkragen sich doch ein Kindermädchen gehalten!, hätte die Gnädige sich doch selber um ihren Jüngsten gekümmert!« Und auf einmal kommt das Gerücht auf, auch der andre Sohn, Josef, wäre ertrunken, als er sein Brüderchen zu retten versuchte.

Paula muß grinsen, sie rennt zum Wagen zurück und versucht, ihrem Liebhaber in sachlicher Form das Vorgefallene beizubringen. Da brüllt er häßlich auf, schlägt ihr ins Gesicht, stürmt hinaus.

Sie kamen nie mehr wieder zusammen. Josef jagte nach Haus, war auf bitterste Vorwürfe, Schläge, Verstoßung gefaßt, wollte das Ärgste auf sich nehmen, seine Schuld zu sühnen. Man empfing ihn als verloren geglaubten Sohn, alles ging unter in dem Glück, daß dieses Kind ihnen doch noch geblieben war, er wurde selbst noch getröstet und gehätschelt, und als er das begriff, machte er seinem katholischen Gotte zum Danke ein Gelöbnis und sagte für immer der teuflischen Paula ab, dem Gassenluder, das ihn zum Mörder gemacht hätte. Später studierte er Theologie, kniete sich mit dem ganzen Fanatismus, den keinerlei Anfechtung mehr ablenkte, in sein Fach, wurde ein berühmter Kanzelredner, schließlich eine Leuchte des rechten Flügels der Zentrumspartei, ein unerbittlicher Befürworter strengster Sittengesetze. Er ahnte nicht, daß die unbeträchtliche Fleckel-Schneiderin Paula Bernert in der schlesischen Provinzstadt seine rigorosen Reichstagsreden mit hemmungslosem Triumph las und sieghaft zynisch dabei trällerte: »Frau Wirtin hat auch ’nen Kaplan . . .«

Denn auch sie hatte sich inzwischen stilgemäß weiterentwikkelt. In der Schule war sie für den jeweiligen Lehrer das räudige Schaf geblieben; ihren perversen Reiz und das verständnisinnig zwinkernde Werben sah so ein Amtstrottel nicht, und hätte er etwas davon bemerkt, wäre eine ebenso hochnotpeinliche wie plumpe, völlig ahnungslose und überflüssige Affaire mit abgestempelter Entrüstung und Protokollierung daraus geworden.

Aber mit der andern Jugend kam Paula nach und nach ganz gut aus. Zuerst natürlich mit den Knaben, denen sie sich mit allerlei kleinen Diensten unentbehrlich machte. Auch rief sie in ihnen, ohne daß sie diese Neigung sich hätten genau erklären können, eine seltsame Erregung hervor, die als prickelnd verboten empfunden wurde. Und da Paula wegen ihres Gebrechens für den rohen Blick nichts Mädchenschönes hatte, bei jeder jungenhaften Ruppigkeit ungeniert mittat, garnicht zimperlich war, vor nichts zurückschreckte, was schmuddlig machte, Kleider zerriß, Hände und Gesicht verschmierte, galt sie bald als gleichberechtigter Kumpan der Flegelrotte, und keiner der Jungens, der Paula bei Spiel und Lausbüberei nahe war, konnte je in die peinliche Lage geraten, mit dem Schmähruf »Mädelhengst! Mädelhengst!« als verweichlicht bemakelt zu werden. Freilich machte Paula sich anfangs dadurch bei den Mädchen mißliebig, aber bald wußte sie sich auch deren Wohlwollen zu erwerben. Teils mit kleinen Geschenken: aus Mutters Schneiderabfällen stibitzten Seidenresten, Samtbändern, Spitzenstückchen, bunten Fetzen; teils mit einer Art Verbindungsdienst zum Lager der Knaben hinüber. Das begann mit geschäftlichen Transaktionen, dem üblichen Schulgekäuzel, Austausch von Federbüchsen, Abziehbildern, Murmeln, Bohnen, Feuerwerkskörpern, und wurde später Vermittlung und Begünstigung jugendlicher Poussaden, Zwischenträgerei kindischer Liebesbriefe, schlimmsten Falles Schmierestehen bei äußerst harmlosen Stelldicheins, wo es höchstens zu einem täppischen und völlig genußlosen Ehrenküßchen kam.

Paula selber war damals in ihrer Erfahrung schon viel weiter, sie belächelte überlegen das alberne Getue, aber sie beherrschte damit ihre ganze Klasse, wurde von Mädchen und Jungens gebraucht, geachtet, gefürchtet und trieb längst zu ihrem Privatvergnügen dreistere und gefährliche Dinge. Freilich klugerweise nie mit Klassengefährten und Mitschülern, sondern Leuten wie Kusche und Josef Hanke.

Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

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