Читать книгу Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen - Max Herrmann-Neisse - Страница 4
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ОглавлениеDies ist eine Geschichte, die man überall vorlesen kann und soll. Nicht, weil sie gut anzuhören ist und besondre künstlerische Vorzüge besitzt. Sondern weil ihr Inhalt von allgemeinem Interesse sein müßte.
Stellen Sie sich eine Gasse in einer schlesischen Provinzstadt ums Jahr 1900 vor! Die ärmlichste Gasse, die in so einer behaglichen Mittelstadt möglich war, wo es noch kein Verhungern gab, höchstens die peinliche Verschlagenheit Minderbemittelter, die darauf angewiesen blieb, die offizielle Mildtätigkeit zu umschmeicheln. Schließlich bekam jeder etwas ab. Der Fonds, der für derartige Zwecke zur Verfügung stand, reichte für alle aus. Aber es ging nicht nach der Bedürftigkeit, sondern nach der Würdigkeit.
Man sah in solchen Gegenden viel Bucklige, die den Rücken vom verkrümmenden Dienern nicht mehr grade bekamen. Das Schlimmste war, daß sich solche Figuren noch bemitleideten. Da war die Bernert-Paula eine andere Person!
Sie wohnte bei dem alten Krankenhause, das inzwischen geräumt und zu einer Volksküche umgewandelt worden war. Paula Bernert war eine sogenannte Fleckel-Schneiderin: aus abgelegten Resten, Fetzen, Stoffabfällen nähte sie, je nachdem, etwas Verwendbares zusammen. Das eine Mal einen Bettvorleger, das andre Mal ein Tischdeckchen, vielleicht sogar etwas Lustiges für ein Kostümfest. Nicht für einen offiziellen Maskenball, versteht sich, wo die Frau Amtsrichter und die Frau Medizinalrat sich wochenlang vorher überlegten, womit sie Aufsehen erregen könnten, und dann doch immer wieder als Tirolerin und Spanierin kamen. Sondern für die Maurerfête oder das Regiments-Jubiläum der Maschinengewehrabteilung, und die Lubschick-Liesl machte dann wirklich Furore als leibhaftiger Zement oder die Frau vom Sergeanten Pachnicka als Mitrailleuse.
Die Bernert nahm an diesen Festen natürlich nicht teil, beneidete aber auch ihre Kunden nicht: sie kannte andere, bessere, jedenfalls für sie ersprießlichere Vergnügungen.
Sie lebte mit ihrer Mutter seit Menschengedenken in diesem Parterre-Zimmer, das früher ein Viktualien-Laden gewesen und dann, nach Vermauerung der Straßentür, zu einem dunklen und unerfreulichen Wohnloch verwandelt worden war. Aber Paula fühlte sich da wohl, denn sie kannte nichts Besseres von Kindheit an, und sie schätzte die Möglichkeit, sofort, ohne Treppensteigen, im Hausflur und auf der Gasse zu sein. Ihre Mutter war Aushilfsschneiderin und gastierte rundum bei den Familien der Stadt je eine Woche oder länger zur Ausbessrung der Garderobe, gegen ein geringes Entgelt und bei freier Verpflegung, so daß Paula an jedem Wochentag fast bis zum Abend ganz für sich allein war. Ihren Vater hatte sie nie gekannt: die Mutter wußte nicht oder wollte nicht mehr wissen, wer von den feinen Herren ihrer Putzmädchenzeit sich da verewigt hatte. Auch andere Verwandten, Tanten oder Onkel, gab es nicht: Mutter war in jungen Jahren Waise geworden, aus dem Heimatdorfe nach der Stadt gezogen und für ihre Sippe ein für allemal verschollen.
Wenn die Mutter zur Arbeit ging, hatte sie die kleine Paula in der Wohnung eingeschlossen. So war einst das Malheur geschehen. Ein Hausierer hatte angeklopft und vor der versperrten Tür die Litanei seines Warenkataloges heruntergebetet. Es klang wie die seltsam gemurmelte Beschwörung einer Zauberformel. Das Kind drinnen verging vor Angst, alle Märchenschrecknisse von Menschenfressern und bösen Geistern fielen ihm ein, und die Furcht verlieh ihm die außergewöhnliche Kraft, sich hochzurecken und den schweren Riegel vorzuschieben. Als die Mutter zurückkehrte, war die Tür nicht aufzubekommen. Die Frau konnte sich das gar nicht erklären, stemmte sich dagegen, hämmerte mit den Fäusten ans Holz, rief nach Paula. Das Kind drinnen ahnte, daß es etwas Unrechtes getan hätte, und schwieg hartnäckig. Da bekam es die Mutter mit der Angst zu tun. Ihr Gezeter lockte die Nachbarn herbei. Ein Haufen Weiber und Halbwüchsiger schnatterte bald um sie herum mit allerlei schlimmen Befürchtungen und törichten Ratschlägen. Schließlich öffnete ein Schlosser die versperrte Wohnung. Alles löste sich in Wohlgefallen auf. In angeregter Heiterkeit über den kuriosen Zwischenfall verlief sich die Schar der Hausgenossen.
Die alte Bernert raste. Lächerlich gemacht worden war sie vor den Nachbarn und hatte die unnütze Ausgabe an den Schlosser zu bezahlen. Sie riß das Kind an den Haaren und gab ihm ein paar Ohrfeigen. Das war zuerst nur ihre Art, die ausgestandene Angst loszuwerden und sich für sie zu entschädigen. Als das Mädchen aber auf alle Fragen nach einem Grund für das Türversperren weiter schwieg, witterte die Mutter eine ganz verstockte Bosheit, die gleich im Anfang gründlich ausgetrieben werden müßte, und schlug hemmungslos auf das Kind ein. Ein Hieb traf so unglücklich, daß Paula zu Boden stürzte. Von da an hatte sie ihren Körperschaden und die völlige Fremdheit dieser Frau gegenüber, die sich ihre Mutter nannte. Es war kein Haß, sondern eine große, unüberbrückbare Gleichgültigkeit. Und frühzeitig entdeckte das Mädchen das Glück der Vereinsamung und lebte neben der Mutter, als sei sie garnicht vorhanden, sein eigenes Leben.
Die andern Kinder der Gasse ließen die verkrüppelte Kleine in Ruh. Die meisten von ihnen hatten ihre leichteren oder schwereren Betriebsunfälle hinter sich: der Schmied, der Quartalssäufer, pflegte seine beiden Knaben als Fangball zu benutzen, wenn er nachts im Rausch heimkam; natürlich krochen sie nun mit verbogenen Gliedmaßen herum. Der Sohn des Flickschusters war überfahren worden und humpelte mit einem Holzbein. Der Tochter des Zeitungsausträgers Kramer war durch eine Brandwunde die linke Gesichtshälfte entstellt. Und für ästhetische Bewertung hatte man in diesem Lebensbezirk sowieso weder Zeit noch Sinn.
Überdies kam Paula nur mit wenigen und desto seltsameren Kindern ihres Alters zusammen. Denn am späten Abend erst pflegte die Mutter heimzukehren und nach überstandner Mahlzeit und Tellerwäscherei die Tochter endlich für eine halbe Stunde auf die Gasse zu lassen. Dort trieben sich dann nur noch allerlei vernachlässigte, verwahrloste, elternlose Geschöpfe herum oder solche, die sich mit ihrem auffälligen Gebresten erst bei völliger Dunkelheit ins Freie wagten. Diese Kinder hatten weder die sinnlose Fröhlichkeit der normalen, noch den verspielten Ernst, der die einträgliche Wichtigtuerei der Großen so grotesk nachahmt. Sie lachten über wirklich Lächerliches und schätzten Respektables demgemäß ein. Wurde der Klor-Karle, weil er betrunken ist und vor allem weil kein Pfennig mehr aus seinen Taschen fällt, auch wenn man ihn auf den Kopf stellt, aus dem Kaffeeschank herausgeworfen, liegt er dann im Rinnstein und bellt ohnmächtige Flüche gegen die geschlossenen Fensterläden, so verzieht sich keine Miene zu schadenfrohem Grinsen. Aber drückt sich der Stadtrat Meisel, der bekannte Meisel, der den Brunnen im Cecilienpark stiftete, die Speisung für arme Wöchnerinnen und die Instrumente für die chirurgische Abteilung des Städtischen Krankenhauses, an der Mauer entlang und will unauffällig in der Nummer 24 verschwinden, so fangen die Bälger höhnisch zu brüllen an, ohne daß sie recht wissen, welcher Art Vergnügen oder Geschäft Herr Meisel dort nachgeht. Oder der Olbrichkutscher war eines Abends unerwartet zeitig von der Bierausfahrerei auf die Dörfer zurückgekehrt und hatte sein Weib bei Unerwünschtem erwischt, nun trug er sie wie ein Paket die Treppe herunter und vertobakte ihr den nackten Hintern, indes schreckensbleich der Primaner Hanke über den Hof flüchtete. Ohne Schadenfreude und Entrüstung fand die Schar der Satansrangen dies alles in Ordnung. Die Armenpflegerin, Frau Brauereidirektor Schick, pflegte zu sagen, die Kinder dieser Gasse sähen in ihrem Leben leider Gottes nicht viel Gescheites. Fest steht, daß sie das Gesehene recht originell aufzunehmen verstanden. Und Paula Bernert bezog von hier die Anfangsgründe ihrer Weltanschauung.