Читать книгу Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen - Max Herrmann-Neisse - Страница 5

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Eines Morgens wurde Paula von ihrer Mutter besonders adrett hergerichtet und dann zur Schule gebracht. Die alte Bernert, die rechtzeitig an ihre Arbeitsstelle zu kommen trachtete, überließ das Kind, nach einigen Ermahnungen zu Folgsamkeit und artigem Betragen, bald sich selber. Paula war froh, daß sie endlich allein war. Sie fühlte sich erhaben über all den Muttersöhnchen und -töchterchen, die immer noch von ihren Gluckhennen behütet bänglich der Dinge harrten, die da kommen sollten. Manche heulten sogar und manche versuchten, auszureißen. Schließlich erschien ein bebrillter Mann, der zu einigen Erwachsenen viel zu demütig tat, doch allmählich die Elternschaft herauskomplimentierte, und nun war jedes Kind auf sich selbst und das, was es aus sich zu machen verstand, angewiesen. Daß ein paar Kinder schöne bunte Tüten mit Naschwerk geschenkt bekamen, das machte die Empfänger vor Paulas unerbittlicher Meinung nur minderwertig: daß sie sich nicht schämten, in so plumper Weise bevorzugt zu werden! Neben Paula saß ein schiefschultriger Junge, rothaarig, sommersprossig, mit hängender Unterlippe und zu großen Ohren, in lasterhaft saubrem Matrosenanzug. Er hatte eine besonders leckre Tüte erhalten und bot nun mit schüchterner, linkischer Höflichkeit seiner Banknachbarin daraus an. Paula ekelte sich vor ihm. Sie empfand es als eine besondre Unverschämtheit, daß der gepflegte Krüppel sich ihr gleichzusetzen wagte, riß ihm die ganze Tüte aus der Hand, warf sie auf den Boden und trampelte drauf herum. Der Knabe, der sowieso leicht zum Weinen zu bringen war, schluchzte hysterisch drauf los, verzweifelte an der Welt (und wurde später Lyriker, indem er, gleich Paula, nur auf andre Weise, aus seiner Körpernot eine Spezialität machte). Der Lehrer Timpel aber, wie die meisten Lehrer unfähig, den Sonderfall so oder so zu verstehen, hielt Paula eine lange Strafpredigt mit der kategorischen Moralvorschrift, daß man niemals einem andren sein Besitztum neiden oder gar entwenden dürfe. Dann fragte er sie nach ihren Eltern und schüttelte über den betrüblichen Bescheid bedeutsam den Kopf. Von da ab galt sie ihm als ein verwildertes, schwererziehbares Kind, mit dem bei Besichtigungen kein Staat zu machen wäre und mit dem es immer nur Verdrießlichkeit geben würde. Auch bei den andern Schulkindern hatte sie sich mit diesem Skandal schlecht eingeführt. Sie verübelten es ihr sehr, daß sie die köstlichen Süßigkeiten mit ihren schmutzigen Schuhen unbrauchbar gemacht hatte und versahen sich von ihrer gehässigen Mißgunst auch für die Zukunft nichts Gutes. Geselligkeit lag ihr ohnehin nicht. Da sie meist allein gewesen war und es abends in ihrer Gasse gewissermaßen mit Ausnahmefällen zu tun gehabt hatte, war sie den Umgang mit dieser Bande normaler Rangen nicht gewohnt. Gemeinsame Spiele, wie sie in der Schulpause gepflogen wurden, langweilten sie; es kam ihr läppisch vor, immer wieder mit stupider Begeisterung zu deklamieren: »Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann? Ich nicht!« oder »Es schlägt eins, er kommt nicht, es schlägt zwei, er kommt nicht . . .«, Spielregeln sklavisch zu befolgen und eine simple Annahme ernsthaft für längere Zeit zu ästimieren. So klar war sie sich natürlich über diese Dinge nicht, aber gefühlsmäßig widerstrebte sie ihnen. Früher hätte man gesagt: das Kind Paula Bernert ist eine rebellische Natur. Heut heißt es: ein unkollektives Geschöpf – auf alle Fälle ist so ein Wesen jeder Art Masse unangenehm, weil für ihre Zwecke nicht zu gebrauchen. Die Masse merkt das auch sofort: hier ist ein Stück, das will nicht so, wie wir wollen müssen. Dann ist jedes Mittel gegen das unbotmäßige Mitglied recht, und Kinder sind ja noch weniger wählerisch und fein als die Hammel einer parolefrommen Erwachsenen-Herde. Paula trieb es auch wirklich verwerflich, fing mitten im Spiel an, mit ihrer Nachbarin zu plauschen, oder, wenn sie ihrem Partner den Ball zurückwerfen sollte, sah sie einen Vogel auf der Hofmauer sitzen, der reizte sie so, daß sie den Ball in diese Richtung feuern mußte – ja, auch sie war ein Aas, aber ein sehr eigenwilliges, individualistisches! Kinder wählen noch hemmungsloser als Erwachsene die billigste Art, einen Gegner lächerlich zu machen und zu verunglimpfen. Paulas Mitschüler also, gepflegt und wohlgewachsen, hielten sich an das körperliche und gesellschaftliche Manko der Bernerttochter, schimpften sie »Puckelpaula« und wurden in Bosheit schöpferisch mit dem Spruch: »Die Bernert ist ein Tausendsassa, sie hat einen Puckel und keinen Papa!« Paula wurde dadurch in ihrer Menschenablehnung bestärkt, die der Vorfall mit der Mutter gefestigt hatte. Sie war fast froh, daß die Ereignisse ihrer ersten Vermutung so sehr recht gaben, und zog sich wieder ohne Groll in sich selbst zurück.

Nun fing sie zu lesen an. Nicht nur das von der Schule Gewünschte und Genehmigte. Sie mißtraute diesem Institut in jeder Beziehung. An jedem Sonnabend bekam man ein Buch aus der Schülerbibliothek, das eine Woche später gut erhalten, ohne Tinten- und Fettflecke an den nächsten im Alphabet weitergegeben werden sollte. Paula sah sich die Titel an: »Edelinde«, »Deutsche Jugend«, »Aus Tagen der Not«, »Das kleine Dummerle«, malte der Heldenjungfrau auf der farbigen Einlage einen Tintenschnurrbart, machte in die Seiten 66 bis 70 große Eselsohren und lieferte den Schmöker ungelesen ab. Dafür wußte sie sich unabhängige Lektüre zu verschaffen.

Ihre Mutter schneiderte damals grade beim Veterinär Pickert. Dieser Pickert, der eine besondere Erzählung verdiente, war der Freund des berühmten Schriftstellers, der zufällig in der gleichen Stadt wohnte. Berühmte Männer haben meist subalterne Freunde, weil die ihr geistiges Überlegenheitsgefühl nicht in Frage stellen und ihnen am wenigsten widersprechen. Pikkert war auch mit der Elendsgasse verbunden: er hatte sich mit der minderjährigen Tochter des Straßenkehrers Budich soweit eingelassen, daß er sie heiraten mußte – nachher dichtete er sich freilich die erzwungene Mesalliance in ein absichtliches Abenteuer um. Wenn die alte Bernert nun bei Pickerts schneiderte, verfiel die Frau Veterinär bald in den Jargon der Gasse. Paula wurde, sobald sie frei war, dahin mitgenommen, um die Anfangsgründe der Schneiderei zu erlernen, mit kleinen Handreichungen auszuhelfen und zu einer Gratis-Vesper zu gelangen. Sie fühlte sich auch ganz wie zu Hause, hörte sie von den beiden Weibern den ihr geläufigen Gassentratsch. In den Regalen lockte Herrn Pickerts Bibliothek, die vorwiegend aus den abgelegten Rezensionsexemplaren des berühmten Schriftstellers bestand, und Paula nahm aufs Gratewohl bei passender Gelegenheit irgendein Buch zu heimlicher Lektüre mit nach Haus. Da tat sich ihr eine andre Welt auf; aber wo die wohl gelegen sein mochte, wurde ihr nicht klar. Ein Mensch männlichen Geschlechts warb um ein Wesen weiblichen Geschlechts, das war eine schwierige Sache; manchem freilich glückte es, er heiratete, und dann begaben sich Possen von seltsamer Pikanterie. Oder Damen führten ohne Heirat ein teils verachtetes, teils beneidetes Lasterleben, dessen jähes Ende mit Schrecken ebenso unbegreiflich blieb wie, was vorher daran so vergnüglich gewesen war.

Paula sah sich in ihrer Gasse um und fand, daß auch diese Dinge in Wirklichkeit handfester und eindeutiger geschahen. An den Bretterverschlag der Geflügelhändlerin hatten unnütze Hände gewisse primitive Inschriften und Zeichnungen angebracht. Mittags klebten im Hofe zwei Hunde aneinander, man grinste, machte seine Bemerkungen dazu, bis die alte Gallus mit einem Kübel Wasser kam. Vor dem Kaffeeschank standen Soldaten, schnalzten mit der Zunge und formten mit den Fingern eine nicht mißzuverstehende Geste nach den Mädeln, die im Fenster lagen, und abends drückte sich in den Torwegen allerlei Gepaartes, das keine andre Gelegenheit hatte, japsend aneinander. Und von den Kindern schliefen die meisten mit Eltern, Geschwistern, Kostgängern in ein und derselben Stube und konnten sehr aufgeklärt erbauliche Einzelheiten berichten. Paula war in dem Alter, es verständnisinnig zu genießen.

Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

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