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Vor der Loretto-Höhe

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7. Juni 1915

ort drüben der kahle Hügelrücken, der zur Rechten, nach Nordwesten hin, in einen scharf ansetzenden Waldstreifen übergeht, — das ist sie: „Höhe 165“, oder wie die Welt sie heute besser kennt, die Loretto-Höhe“. Dicht vor dem Kamm des ansteigenden Plateaus, kaum mehr sichtbar, liegen die Trümmer der kleinen Kapelle von Notre Dame de Lorette, einst ein Mittelpunkt frommer Wallfahrten und kirchlicher Übungen, heute und seit langen Monaten schon das Zentrum blutigster, wildester Kämpfe.

Es war, wie die alten Abbildungen erzählen, ein Kirchlein im Baukastenstil. Ohne besondere Schönheit. Aus rotem Ziegelwerk und weißen Werksteinen errichtet. Hoch oben im offenen Giebel hing die Glocke, deren freie Silhouette von weitem schon sichtbar gewesen sein muss, wenn man zur Höhe hinaufstieg. Einsam grüßte der Bau von dünnbewachsener Heidefläche. Nur ein großer Baum stand als Wächter zur Seite.

Nichts als ein Steinhaufen bezeichnet jetzt noch die Stelle, wo bis zum Schicksalsjahre 1914 das kleine Gotteshaus die Gläubigen zu sich rief. Auch der Baum ist gefallen. Ein wenig unterhalb sind die Stellungen der Franzosen. Deutlich überblicke ich, vom hohen Eisengerüst eines verlassenen Fabrikbaus her, der mit unzähligen Splittern zertrümmerter Scheiben fußhoch angefüllt ist, die weiteren Partien des Schlachtfeldes: am Südosthang der Loretto-Höhe, der schroff abfällt, die von den 21 Feinden besetzte „Kanzel“, nördlich davon die Talsenkung, die unsere Militärs die „Schlammulde“ nennen, und weiter links näher zu mir her, nach Südosten sich ziehend, die Höhe von Vimy, die von den Unsern besetzt ist.

Dorf Vimy selbst liegt im prallen Sonnenschein. Seine rotbraunen Dächer funkeln. Denn es ist ein Tag himmlischster Sommerwonne — „ein Tag, von Gott dem Herrn gemacht zu süßerm Ding, als sich zu schlagen“. Wäre der alte Kottwitz Kleistischen Angedenkens gestern im nördlichen Frankreich gewesen, er hätte gewiss seine Worte vom Fehrbelliner Morgen wiederholt. Aber was ist das? Am tiefblauen Himmel wird plötzlich ein weißes Wölkchen sichtbar. Noch eins! Noch eins! Zehn. Zwanzig. Fünfzig. Hallo, es geht los. Schrapnells steigen in die Luft, um ihr eisernes Feuerwerk zu verstreuen. Warum? Was gibt‘s? Aber da ist schon die Erklärung: ein französischer Flieger will unsere Reihen überschweben. Ihm gelten die Grüße. Jetzt ist es ein schwarzer Punkt, und jetzt — er muss eine Wendung gemacht haben steht mit einem Male die Sonne so glitzernd auf dem Metall seiner Maschine, dass es rötlich zu schimmern und zu glühen scheint. Wie ein Blutkörper, losgelöst vom endlosen Leid der Völker, treibt es, scheinbar ziellos, in der Höhe, durch den Äther, und die Wattebäusche der Schrapnellwölkchen wollen ihn aufsaugen. Ein unheimliches medizinisches Symbolspiel in den Lüften, ohne dass Menschenhände sichtbar werden, die es treiben.

Da — zur Seite links, ein neuer schwarzer Punkt. Noch einer! Zwei deutsche Flieger sind zur Begrüßung des Gegners aufgestiegen. Sie streuen Raketenzeichen aus, die wie Kometen mit langen dünnen weißen Schweifen durch das Blau ziehen und irgendwo im Weltall hängen bleiben. Da macht der Franzose kehrt, und wie er die Linien der Seinigen erreicht, schießt er eine Leuchtkugel ab, einen dunkelrot funkelnden Stern, der wie ein Meteor aufflammt und verlischt.

Nun wird die Erde auf die Luft eifersüchtig. Auch sie will sich mit dem dritten Element, dem Feuer, einlassen. Und aus den Schlünden der Kanonen donnert es. Unter grässlichen Wehen werden fauchende Granaten ans Licht der Welt getrieben, um ihr Unheil wirkendes Sekundenleben zu erledigen. Man hört den dumpfen Klang des Abschusses, zählt ein paar Zahlen und vernimmt den Schall des Aufschlags jenseits der Höhen, hinter denen die feindlichen Batterien stehen. Gelblich-weiße Wolken steigen dort wirbelnd über dem Höhenrand auf. Und von drüben kommt die Antwort. Nun gibt es auf unserer Seite aus dem Boden steigendes Gewölk; dunkle schwarzbraune Erdmassen, aus träger Ruhe aufgewühlt, stäuben wild empor. Dann erst erreicht uns der Schall des krepierenden Geschosses. Das Duell ist im Gange. Nach dem erregenden Fliegerkampf brüllen sich die feindlichen Batterien an wie reißende Tiere, die in weit voneinander entfernten Käfigen herumrasen, ohne sich zu sehen.

Das war gestern Vormittag. Es war vorläufig noch nichts anderes als das seit dreiviertel Jahren gewohnte tägliche Lied. Der Fremde, der es zum ersten Mal hört, erschauert. Aber die Offiziere, und Mannschaften, die hier Monat um Monat ausgehalten, betrachten es fast als eine Erholung nach de n furchtbaren Kämpfen des Mai und den ihnen folgenden Angriffen der letzten Wochen und Tage. Erst allmählich erfährt man Einzelheiten über die ungeheure Wut und Verbissenheit dieser Schlachten, die zusammen wieder nur einen Teil dessen ausmachen, was später wohl unter dem Namen der riesenhaften „Schlacht bei Arras“ fortleben wird.

Die unbändige Gewalt dieses Ringens, so erzählte mir ein Regimentskommandeur, ist unbeschreiblich. Ein Artilleriefeuer, wie man es nie erlebte, machte den Auftakt. Am 9. Mai dauerte das sinnverwirrende Bombardement der Franzosen von morgens sieben Uhr bis halb zwölf, ohne die geringste Unterbrechung. Die ganze Höhe war nichts als eine einzige schwarze Rauchwolke. Eigentlich hätte man annehmen müssen, es könnte in unseren vorderen Stellungen kaum mehr jemand am Leben, geschweige denn kampffähig sein — da warfen unsere Truppen, bei dem nun plötzlich und schnell hervorbrechenden Offensivstoß des Feindes, die enorme Übermacht der Angreifer trotz alledem mit sausenden Gegenschlägen zurück. Den moralischen Eindruck eines so kolossalen Feuers zu überwinden, sich von ihm nicht unterkriegen und einschüchtern zu lassen, und dann noch zu felsenfester Abwehr bereit zu sein, das deutet, fuhr der Oberst fort, auf eine übermenschliche Fähigkeit, seine Nerven in Zucht zu halten, kaltes Blut zu bewahren, und auf eine Siegesüberzeugung, wie sie einfach noch nicht da war. Das Heldentum dieser Leute ist nicht geringer als das der Glücklicheren, die auf anderen Kriegsschauplätzen im Siegeslauf vorwärtsstürmen dürfen.

„Bedenken Sie,“ sagte er, „dass unsere Mannschaft oft weniger in Schützengräben stand als in Granatlöchern, dass neu hergestellte Befestigungen der Stellung, an denen man einen ganzen Tag gearbeitet hatte, mitunter in zwei Stunden wieder zerstört waren. Es war eine Hölle. Seine ganze Kraft hatte der Gegner hier zusammengeballt. Und dennoch diese Unerschütterlichkeit unserer Truppen, deren Stimmung durch nichts zu deprimieren war! Auch in den Kämpfen der Wochen nach dem 9. Mai ließ die Heftigkeit der feindlichen Angriffe nur wenig nach. Oft standen die Linien sich so nahe, dass sie nicht weiter als fünf Meter voneinander entfernt waren, dass man bei einer Distanz von fünfundzwanzig Meter schon sagte: ,Das ist nicht schlimm, da sind ja die Gräben sogar fünfundzwanzig Meter auseinander!!“

Unermüdlich pries der Kommandeur seine Leute. Auch ihr unerschütterliches Ausharren im Winter. „Ich sage Ihnen: bis zum Bauch standen sie oft tagelang im Morast, und wenn sie einmal herauskamen, in Reserve oder in Ruhestellung rückten, sahen sie überhaupt nicht mehr menschenähnlich aus.“ Nach diesen endlosen Strapazen einen Angriffsversuch von solcher Wucht doch aufhalten, doch zum Stehen bringen, das sind Leistungen, die über jeden Begriff groß und ruhmvoll sind.

Ein winziges Stück, hundertfünfzig bis zweihundert Meter tief, konnte der Feind gewinnen. Das war alles. Ein Nichts gegen den großen Durchbruch, den er erhofft hatte. Eine Bagatelle im Vergleich zu den Opfern, die er dafür bringen musste.

„Aber es war verflucht hitzig“, sagte mir einer von den Leuten, die dabei gewesen. Die Knallerei sei so toll gewesen, dass einmal sogar ein französischer Offizier, der es einfach nicht mehr aushalten konnte, überlief und sich gefangen gab, „ganz verdreht im Kopf“. Ihnen aber hätte es nichts gemacht. Nur manchmal hätten sie zwei oder sogar drei Tage keine warme Kost bekommen, weil der Feind alle Straßen der rückwärtigen Verbindungen von morgens bis abends und abends bis morgens unter Feuer nahm und die Gulaschkanone ihren Segen nicht bis in die vordersten Linien entsenden konnte. „Na, da hilft man sich eben mal mit der eisernen Ration durch. Geht auch.“ Na ja, wenn es so losballert — „was man sich da oft für Gedanken macht, das kann man gar nicht sagen. Aber man muss ja drüber weg, und dann vergehen die Gedanken.“ Einer hatte das Eiserne Kreuz erster Klasse. Wofür er‘s habe? Ach, er hatte eine schwere Patrouille, war gefangengenommen worden, hatte aber seine Wächter erschießen, schnell zurückkehren und die befohlene Meldung bringen können.

Alle aber waren vor allem darin einer Meinung: So ‘was haben wir denn doch noch nicht mitgemacht. Auch Leute, die vorher im Osten standen, die in Flandern, in der Champagne gekämpft hatten, waren sich darüber einig. Auch die gefangenen Franzosen, die sich in der Kaserne von Douai — in einer einst französischen Kaserne — auf dem Hofe rekelten, meinten: Das war das Tollste.

Doch nun ist ein unverrückbar fester Riegel vorgeschoben. Gestern, am 6. Juni, nachmittags haben die 26 Franzosen das aufs Neue erfahren. Wieder eröffneten sie ein sinnloses, atembeklemmendes Feuer, dass man weit im Umkreise mit Herzklopfen hinüberlauschte. Dann folgte wieder ein ungestümer Angriff. In dichten Scharen stiegen die Feinde aus ihren Schützengräben und liefen gegen die Unseren an. Auf diesen Augenblick aber hatte die deutsche Artillerie gewartet. Und nun feuerte sie mit so erstaunlicher Präzision und so furchtbarem Erfolge in die Anstürmenden, dass sie in wüsten Knäueln in Blut und Staub zusammensanken. Gerade weil die französischen Stellungen auf der ansteigenden Höhe liegen, ließ sich die Angriffsbewegung so gut übersehen und im rechten Augenblick niederkartätschen. Wieder waren an diesem 6. Juni enorme Verluste des Feindes sein einziges Ergebnis.

Die Franzosen glaubten, der Besitz der Stelle, auf der das Kirchlein Unserer lieben Frau von Lorette stand, und an der ihr Glaube und Aberglaube hängt, sei ihnen Bürgschaft des „succés final“! Aber sie taumeln auch hier, wie so oft, in das gefährliche Netz einer phantastischen Vorstellung und verbluten sich.

Drei Straßen des Krieges

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