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Gefangene Russen im Artois

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9. Juni 1915

ie Überschrift klingt sonderbar, denn Frankreich führt bekanntlich keinen Krieg mit Russland. Aber die Weltgeschichte, die im Allgemeinen wohl eine ernsthafte Angelegenheit ist, muss auch ihre Witze reißen. Das ist ihre alte Gewohnheit. Sie kann es nicht lassen.

So hat sie sich also den Spaß gemacht, eine Anzahl der russischen Gefangenen, von denen wir ja in Deutschland ein wohlassortiertes Lager haben, in die okkupierten Gegenden Frankreichs zu bringen, um sie hier nützlich zu beschäftigen. Man traut seinen Augen nicht, wenn man von der Eisenbahn her die vom östlichen Kriegsschauplatz vertrauten Gestalten plötzlich unter deutscher Bewachung auf französischem Boden erblickt. Und noch größer wird das Staunen, wenn man in eine der Kolonien geführt wird, wo mehrere Hunderte von Väterchens Kindern untergebracht sind.

Man muss sich wirklich erst zurechtfinden. Aus der Ferne Kanonendonner — die ewige Bassbegleitung, die zu sämtlichen Erlebnissen, Eindrücken, Stimmungen, Bildern herüberdröhnt. Zur Seite eine alte Scheune, mit zwei Inschriften; einer älteren: „Défense d‘entrer“, und einer jüngeren: „Gott strafe England!“ Geradeaus der Eingang in einen weiten umzäumten Bezirk: das Russenlager. Ein freundliches Gartenrevier, das ein umständliches Gebäude (wohl eine Fabrikanlage) umzieht. Bestes Klima, schönste Luft und Sonne. Die Gäste, will sagen die Gefangenen haben sich denn auch, gottlob, recht erholt und sehen prächtig aus. Jeder, der am Schluss seiner Ferienreise (in fernen vergangenen Friedenstagen) so wohl dreinschaute, war froh und stolz. Man sieht, wie wir unsere Gefangenen martern!

Es ist gerade Sonnabendnachmittag: da findet eine der beiden wöchentlichen ärztlichen Untersuchungen statt. So sitzt denn ein Teil auf einer Bank in der Sonne und treibt etwas, was man „Temperaturparade“ nennen könnte: sie haben, bei entblößtem Oberkörper, je ein Thermometer unterm linken Arm. Die andern sind eben zum Appell angetreten. In ihren grauen Uniformen, mit der breiten Mütze, die gern ein wenig schief auf dem Kopfe sitzt. Burschen der verschiedensten Rassen und Stämme. Einzelne sehen geradezu deutsch aus, wie gute Pommern oder Brandenburger. Andere haben den unverkennbaren Gesichtsschnitt des Slawen. Wieder andere führen unmittelbar ins Tatarische und Kalmückische. Weiß der Himmel, woher diese Herren Feinde stammen, aus welchen Steppendörfern und Lehmkaten sie ins sommerlich blühende Frankreich, auf dem Umwege über Deutschland, gekommen sind. Auch eine Anzahl unverkennbarer jüdischer Erscheinungen ist dabei. Sie können sich am ehesten, mit wenigen anderen Genossen, in deutscher Sprache verständigen.

Es zeigt sich, dass sie alle mit ihrer Lage außerordentlich zufrieden sind. Was nicht wundernimmt. Und dass sie ganz gut informiert wurden.

„Wisst ihr, wo ihr seid?“

— „Jawohl!“

„Dass die Deutschen tief in Frankreich stehen?“

— „O ja!“

„Wisst ihr, dass Przemysl von den Deutschen und Österreichern wieder erobert ist?“

— „Jawohl!“

„Dass die Russe n bald auch Lemberg räumen werden?“

— „Noch nicht!“

Man erkennt deutlich, dass den Leuten alles recht wahrheitsgetreu mitgeteilt wird. Einer, der sich wohl beliebt machen will, ein Bauer aus der Nähe von Kiew, der ein fürchterliches Kauderwelsch zusammenbringt, ruft in einer andern Gruppe auf die Frage, wo sie sich denn befänden, mit breitem Grinsen herüber: „In Neu-Deutschland!“ — und lacht dabei, dass seine zwei riesigen Zahnreihen leuchten.

An einer anderen Stelle fand große Baderei statt. Aber ich bitte ergebenst: nicht mehr jene solenne Entlausungsaktion, die sie wohl ursprünglich ausnahmslos nötig hatten — diese feierliche Handlung hatte man an den Söhnen des Ostens schon vorgenommen, bevor sie westwärts verschickt wurden. Heute handelt es sich lediglich um das schon von Wilhelm Busch klassisch besungene und gezeichnete „Bad am Samstagabend“. Es mag den Russen als ein Symbol dafür gelten, dass sie bis zum Ende des Krieges der bürgerlichen deutschen Gewohnheiten teilhaftig sein werden.

Für die Arbeit, die die Gefangenen leisten, werden sie bezahlt. Man hat sogar, um ihren Fleiß und Eifer anzuspornen, verschiedene Lohnklassen eingerichtet. Doch hat es anfangs, wie mir der Kommandant des Lagers erzählte, Mühe gemacht, die jungen Burschen zur Annahme des Geldes zu bewegen. Sie glaubten wahrscheinlich, sie würden sich für spätere Zeiten Unannehmlichkeiten in ihrer Heimat aussetzen, wenn sie sich von den Deutschen bar bezahlen ließen. Allmählich aber siegte die Erkenntnis, dass Geld Geld sei und immer irgendwie verwendet werden könnte. Also nahmen sie‘s nun. übrigens haben manche auch von Hause aus, über die Schweiz hin, von ihren Angehörigen Geld erhalten, das dann von der nächsten Etappe ausbezahlt wird. Auch diese pünktliche Erledigung so wertvoller Sendungen, die in ihrem Vaterlande leicht abhandenkommen, hat die Gefangenen in Erstaunen über ihre Wächter versetzt und ihr Vertrauen gestärkt.

Musterhaft ist die Unterbringung der Leute. Der Eßraum, eine große Holzhalle, sieht wie ein kolossales Dorfwirtshaus aus, blitzsauber, schmuck und blank gescheuert. Nicht minder die Schlafraume. Wenn die Herrschaften es zu Hause oder in der russischen Armee alle so gut gehabt hätten! Höchstens der Pelzhändler aus Kurland oder der jüdische Lehrer aus der Umgegend von Odessa haben noch bessere Tage gesehen. Aber auch sie erklären, dass sie glücklich seien, eine solche Gefangenschaft zu genießen. Auch sie denken wohl dasselbe, was die französischen Gefangenen so gern mit einem Seufzer der Erleichterung offen aussprechen: „Enfin loin de danger!“ oder: „Pour moi la guerre est finis.“

Die Franzosen schicken unsere braven und tapferen Leute nach Dahomey oder an andere Orte mit mörderischem Klima. Wir „deportieren“ gefangene Russen nach — Frankreich. Ist das nicht eine hübsche Gegenüberstellung?

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