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II. Verhältnis von deutschem und europäischem Kartellrecht
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In vielen Fällen mit Bezug zu Deutschland ist sowohl der Anwendungsbereich des deutschen als auch des europäischen Kartellrechts eröffnet. Dann stellt sich regelmäßig die Frage nach dem Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander. § 19 GWB entspricht inhaltlich im Wesentlichen Art. 102 AEUV. Die beiden Vorschriften unterscheiden sich aber insbesondere dadurch, dass der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im EU-Recht dazu geeignet sein muss, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dies erklärt sich aus der allgemeinen Zielsetzung des EU-Vertrages: Der Verwirklichung des gemeinsamen Marktes. Dieser sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel kommt eine Doppelfunktion zu. Als Tatbestandsmerkmal begrenzt sie den Anwendungsbereich der europäischen Missbrauchskontrolle auf Wettbewerbsbeschränkungen, die die Verwirklichung des Binnenmarktes behindern. Als Kollisionsregel dient sie der Abgrenzung des europäischen vom deutschen Kartellrecht, wonach Mitgliedstaaten die ausschließliche Kontrolle über solche Verhaltensweisen behalten, die nur Auswirkungen auf den innerstaatlichen Markt haben können. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel wird in der Rechtsprechung des EuGH weit ausgelegt. Danach liegt eine Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten vor, wenn eine Maßnahme unter Berücksichtigung „der Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit“ erwarten lässt, dass sie „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise beeinflusst, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteilig sein könnte.“[3]
Die Kommission hat im Jahr 2004 „Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags“[4] vorgelegt, die zwar die mitgliedstaatlichen und europäischen Gerichte sowie die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nicht binden, aber gleichwohl bei der Interpretation der Zwischenstaatlichkeitsklausel von großer Bedeutung sind, da diese sich eng an die in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte entwickelten Vorgaben für die Auslegung dieser Klausel halten.
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Die Anwendungsbereiche von Art. 102 AEUV und § 19 GWB lassen sich in der Praxis allerdings nur schwer voneinander abgrenzen. Die Praxis der deutschen Kartellbehörden lässt daher oftmals die Frage offen, ob im Einzelfall Art. 102 AEUV oder § 19 GWB Anwendung findet und wendet beide Normen parallel an.[5]
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Gem. Art. 3 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1/2003 kommt dem europäischen Kartellrecht eine Vorrangstellung gegenüber den Regelungen des GWB zu. Allerdings sind die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO (EU) Nr. 1/2003 befugt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere Vorschriften zur Unterbringung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen bzw. anzuwenden.
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Während die Kommission und die europäischen Gerichte ausschließlich europäisches Recht anwenden, haben die deutschen Kartellbehörden und Gerichte im Falle des Vorliegens eines zwischenstaatlichen Bezuges die Wahl: Sie können ausschließlich europäisches Recht oder parallel deutsches und europäisches Recht anwenden. Eine isolierte Anwendung nationalen Rechts im Falle eines zwischenstaatlichen Bezugs ist jedoch nach § 22 Abs. 3 GWB und Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 1/2003 nicht möglich. Kommt der deutsche Rechtsanwender zum Ergebnis, dass Art. 102 AEUV nicht verletzt ist, wohl aber § 19 oder § 20 GWB, so darf er das strengere deutsche Recht auch anwenden.[6]