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Riana Gora

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Weiß schimmern die Mauern hinter dunkelgrünen Tannen, rot das Dach, das Oma Frieda vor einigen Jahren noch einmal hat decken lassen. Offenbar der Rest der roten Dachziegel krönt die kleine weiße Mauer rechts vom Tor, die ihren Hof vom Nachbargrundstück trennt. Zum Glück ist diese Mauer hoch genug, um neugierige Blicke abzuhalten. Nichts ist ihr mehr zuwider, als zu geringe Distanz. Nichts hatte sie an Omas Leben im Dorf mehr gehasst, als die Annahme, dass jeder über jeden alles wusste und dass man, noch ehe man einen Furz gelassen hatte, das ganze Dorf den Gestank schon riechen konnte.

Abgesehen davon ist es ein friedliches Stück Land, wäre da nicht in Sichtweite der Friedhof, der sie ein Leben lang an Oma Frieda erinnern wird.

Langsam fährt sie die letzten hundert Meter die Dorfstraße entlang. Am alten Haus rechts der Straße, dem ersten des Dorfes, wenn man aus Vorwerk kommt, scheint in den letzten zwanzig Jahren keine Erneuerung vorgenommen worden zu sein. Es gab kaum ein Gehöft, kaum ein Dach, kaum ein Zaun im Dorf, der nach der Wende nicht erneuert wurde, weil man plötzlich alles zu kaufen bekam. Plötzlich wurde den Leuten aufgeschwatzt, was sie früher nicht einmal im Traum zu brauchen glaubten. Inzwischen sind die Leute klüger.

Rita schaltet den Motor herunter. Je näher sie dem Körber-Hof kommt, desto unbehaglicher fühlt sie sich. In den letzten Tagen nach der Beerdigung der Großmutter hat sie an nichts anderes mehr gedacht, als an den Moment, in Oma Friedas leeres Haus zu kommen, aber das gute Gefühl zu vermissen, das sie früher stets gehabt hatte.

Am meisten belastet sie, dass dieser Glücksumstand mit dem beklagenswerten Tod einhergehen musste. Endlich ein eigenes Heim. Endlich unabhängig sein, quasi abzutauchen in die Welt der Anonymität, wo sie auch ein Nils Hegau nicht mehr findet.

Freilich sieht sie seit ihrem Artikel über das Sterben, den sie noch für den Wochen-Boten geschrieben hatte, die Dinge ein wenig nüchterner als zuvor, aber einen Menschen, den man liebt, kann man auch mit großer Nüchternheit nicht aus seinem Herzen reißen.

Sie öffnet das Hoftor und fühlt sich fremd. Ein leichter Schwindel überkommt sie, den sie noch niemals zuvor gespürt hat. Es ist wohl die Aufregung, denkt Rita. Sie schließt die schwere Haustür auf und glaubt, ein Eindringling zu sein. Es fällt ihr schwer, sich in Gedanken mit ihrer Oma hier zu sehen. Diese Rita, dieses schmale Mädchen in hautengen Jeans und Schlabber-Pulli, mit kurzem mittelbraunem Haar, mit stets bequemen Tretern an den Füßen, diese Mädchen gibt es nicht mehr. Vielleicht gab es dieses Mädchen ja nie, weil alle Welt hinter ihrer Lässigkeit bisweilen einen Jungen gesehen hat.

Das Erste, was sie tut, ist das Namensschild am Hoftor zu ändern.

Riana Gora.

Schon hört sie in Gedanken, wie die Leute hinter vorgehaltener Hand tuscheln, die sie die rothaarige Fremde nennen, so, wie Oma Frieda zuweilen Fremde benannte. Wenn die Leute von hier sie damals am Friedhofseingang nicht erkannt haben, dann wird sie jetzt erst recht keiner mit Frieda Körbers Enkelin in Verbindung bringen. Und das ist gut so. Einerseits besteht auf diese Weise keine Verpflichtung, aus reiner Pietät ihrer Oma postum keine Schande zu machen und artig zu tun, was das Dorf von ihr erwartet. Andererseits kann auch niemand dumme Auskünfte erteilen, falls ein gewisser Nils Hegau auftaucht und nach Rita Georgi fragt.

Sie geht durch das leere Haus, in dem es noch immer nach Oma Frieda riecht. Gar nicht penetrant, wie man es alten Leuten nachsagt, nur eben wie Oma Frieda, und das ist ihr nicht fremd und auch nicht unangenehm. Es bringt nur ein wenig Traurigkeit mit sich.

Die gute Oma Frieda, mit den vielen Spitzendeckchen auf allen Schränken, Tischen und Kommoden, mit gehäkelten Sofakissen und mit Blumentöpfen aus Ton, die auf den Deckeln von Einweckgläsern stehen.

Sogar die alte, gepolsterte Fußbank steht noch vor dem Herd, wo Oma früher so gerne die Geschichten vom sorbischen Schlangenkönig vorgelesen hat, den sie Serbski Kral genannt hat, von seinem Dasein als Räuber und Eroberer, aber auch von seinen edlen Taten. Auch an den Wody Muz, den Wassermann, kann sie sich erinnern und an den Drachen Plon. Am liebsten hat sie die Geschichten von den kleinen Lutkis gehört.

Die Lutken waren kleine freundliche Wesen und allen Menschen wohlgesinnt. Sie sprachen eine seltsame Sprache, die alles verneinte.

In der Nähe ihrer Häuser standen aus Lehm und Steinen gemauerte Backöfen. Sie buken ihr Brot allein. Feuerung lieferte der Wald. In einem runden hölzernen Backtrog wurde der Teig zubereitet, in strohgeflochtenen Backschüsseln ausgeformt und in der erhitzten Lehmkuppel des Ofens zu einem schmackhaften Bauernbrot ausgebacken. Die Lutkis waren arglose Leutchen, sie liebten Musik, Gesang und den Tanz und hielten mit den Menschen gute Freundschaft.

Ach, wenn doch hier noch immer Menschen wie die Lutkis wohnen würden …

Rita öffnet alle Türen, schaut in alle Ecken und sie entdeckt Dinge, die sie ein Leben lang bei Oma Frieda gesehen hat, von denen sie schon immer der Meinung war, sie müssten sich schon am gleichen Platz befunden haben, als ihre Mutter eingeschult worden ist. Es liegt noch ein steifes Häubchen in der Truhe, eine weiße Spitzenschürze und ein grüner Samtrock mit schwarzem Saum. Obenauf liegt das Umschlagtuch mit breiten weißen Spitzen und mit roten Rosen bestickt. Alles gehört zur Festtagstracht. Auch die hellblaue Schleife liegt in feinen Lagen säuberlich aufgereiht daneben.

Sie schließt die Truhe, geht durchs Haus, öffnet das hintere Tor, das zum Garten hinaus führt, und steht da, als staune sie über die Weite der Wiesen, die sich am Hochwald stoßen. Irgendwo da hinten schlängeln sich die vielen Arme der Spree, dort teilt sich der Fluss in unzählige Fließe, die das Land fruchtbar halten.

Sie braucht einen Moment, um sich zu sammeln – ein Moment, der ihr wie eine kleine Ewigkeit vorkommt. Es ist nicht in erster Linie die Weite, die ihr das Gefühl gibt, im Einklang mit der Natur zu sein, sich selbst intensiv zu spüren, auch wenn sie dieses Gefühl in ihrem städtischen Refugium seit Langem nicht mehr hatte. Es ist vielmehr die Frage, warum sie sich die Enge so lange zugemutet hat. Hier fühlt sie sich frei von der Umklammerung, in der sie sich befunden hat. Hier fängt ihr neues Leben an und diesmal wird sie alles richtig machen. Hier wird sie niemanden an sich heranlassen, hier kann sie ihren Frieden finden. Ihre momentane Verlorenheit ist deswegen nicht geringer.

Es dauert noch eine Weile, bis sie sich losreißen kann vom Anblick der Idylle. Langsam dreht sie sich um und nimmt den gleichen Weg, den sie gekommen ist: durch die Zwischentore des Durchgangs, der Haus und Scheunenanbau trennt. Der Wind hat das vordere Tor zugeschlagen und es ist duster in der Vorscheune, die rechts an das Wohnhaus stößt und links an das Nebengelass, in dem einst die Stallungen lagen. Der Durchgang ist ein Schwalbenparadies. Zwischen den Dachsparren unter dem Vorsprung zum Scheunenboden kleben ein paar Nester am Mauerwerk fest. Sie muss sich das gut merken. Wenn der Frühling kommt, muss sie den Einflug offen halten – Schwalben bringen Glück.

Erst nach und nach treten die Wände hervor aus dem Dunkel, zeichnet das Licht des Tages die Kontur des Scheunentores. Duster ist es noch, aber gar nicht so still, wie erwartet. Es ist wohl der Wind, der sie glauben macht, es rumore irgendjemand in den Stapeln ausrangierter Gegenstände herum.

Ein Schatten löst sich aus der Dunkelheit. Der Schreck fährt ihr in die Glieder und sie kann den Aufschrei nicht unterdrücken. Wie misstrauisch sie geworden ist, skeptisch gegen alles Unvorhergesehene. Liegt es an der Fremde, oder liegt es an ihrer noch jungen Vorsicht vor einem allzu aufdringlichen Liebhaber?

Vor ihr steht kein Liebhaber, vor ihr steht eine geduckte, fast devote Landfrau in weiten Röcken und gescheiteltem Haar. Oma Frieda en miniature. Ihr ebenförmiges Gesicht gleich dieser Herbstlandschaft – sanft liegende Felder, blitzendes Wasser zwischen stoppeligen Wiesen.

»Ich hab nirjends niemand nicht jefunden«, spricht sie freudlos umschattet. Nur ihre Augen funkeln, als habe ein Jäger sein Wild aufgebracht.

Rita versucht, auf diese Stimme zu lauschen, die ihr fremd und doch so vertraut vorkommt. Für einen Moment denkt sie an die alles verneinenden Lutkis, die nur in Omas alten Geschichten zum Leben erwachten. Doch dann weiß sie, dass alles wahrhaftig ist. Eine alte Frau aus Fleisch und Blut, nicht so alt wie Oma Frieda und mit lebendigem Gemüt. In ihrem Nacken hängt genau wie bei Oma Frieda ein Nest aus dünnen, geflochtenen Zöpfen.

Von irgendwoher kommt ihr die Alte bekannt vor. Ihre Witterung als Journalistin und ihre Unkenntnis einer Lebensflüchtigen mahnen Rita Georgi zur Vorsicht. Sie zupft ihr leuchtend rotes, halblanges Haar, das sie hinter das linke Ohr gesteckt hat, wieder ins Gesicht zurück.

»Hallo, ich bin Rita…äh... Riana Gora. Ich ziehe demnächst hier ein.

Die alte Frau beugt sich wie aus Gewohnheit etwas nach vorn, aber es muss eine sehr dumme oder eine verdammt alte Gewohnheit sein.

»Ich wohne gleich drieben, bei Kalauke«, sagt sie mit lang rollendem R und mit einem hörbaren W in der Mitte des Namens. Die Stimme der Alten ist schrill, irgendwie verzerrt, aber der Name Kalauke erinnert Rita sofort an ihre Großmutter und wie die ihr einst einen Buchstaben zeigte, den es im deutschen Alphabet gar nicht gibt. Es war ein L durchschnitten von einer gebogenen Linie: £. Und sie hört noch genau, wie Großmutter sagte, es sei das Kalauke-W. Man spricht Kawauke.

Inzwischen hat sie sich an die Düsternis gewöhnt und sieht, wie die Alte mit dem krummen Finger auf eine Stelle unter ihrer Bluse aus blauweißer Batik tippt. Sie strahlt dabei über ihr soeben noch fades Gesicht. »Lenka. «

Sofort spürt Rita eine starke Scheu davor, ihre angeborene Freundlichkeit erkennen zu lassen. Ihr schwant, so, wie die Alte sie gerade überrascht hat, so könnte es noch einige Überraschungen mehr geben, und die würden nicht nur angenehm sein.

»Lenka?«, ihr Lachen ist eine Melange aus Rücksicht, die fortwährend Platz macht für das eigene Wollen, und blanker Empörung, die angelernt und ausprobiert werden muss. »Wie der Autolenker? Namen gibt es hier.«

»In Dokument steht Helene, aber wendisch ist Lenka«, sagt die Frau und unterschlägt dabei das H am Anfang des Namens, als gäbe es diesen Buchstaben gar nicht. Dann erzählt sie in ziemlichem Kauderwelsch zwischen dem Wendischen und dem Deutschen von einem Kuno, der nur noch mit Stichbimboli rede, und von einem Juri spricht sie, der Georg heiße, was der aber gar nicht gerne höre.

Es scheint, als erfahre sie noch in der ersten Woche alle dreihundert Lebensgeschichten der Dörfler. Wie konnte sie nur vergessen, dass sie bald auf einem Kuhkaff wohnt.

Sie muss noch lernen, die Menschen erst zu testen, um zu wissen, was sie denken, wie sie urteilen, was sie erwarten. Auf so kleinen Dörfern ist man schnell vereinnahmt, und das kann sie gar nicht gebrauchen. Da hätte sie bleiben können, wer und wo sie war. Und dann denkt sie noch, dass sie es für dieses Dorf lernen muss, schon beim Denken nicht mehr Rita zu sein, sondern Riana, und dass diese Riana Gora kein braves Mädchen zu sein hat. Mit einer Kraft, die niemand in ihrem schlanken Körper vermuten kann, stößt sie das vordere Tor zum Hof auf und mit gleicher Kraft versieht sie ihre Worte, die sie selbst nicht in ihr vermutet hätte:

»Schön, Lenka, dann biegen wir mal wieder hart rechts zum Gehöft der Kalaukes ab. Okay?«

Das Licht des Tages macht das Gesicht der Alten noch fader, ihre Augen aber funkeln rötlich unterlaufen. Lenka Kalauke sieht plötzlich aus, als ringe sie nach Luft.

»Njedra«, schimpft sie mit den Armen fuchtelnd. »Mispagel!« hört Rita.. Aus dem Blick der Alten spricht auf einmal purer Hass und aus ihrem Mund kommen Worte, die Rita nicht versteht. Nur, dass sie über das Rot ihrer Haare wettert und dass es rot sei wie der leibhaftige Plon. Mit den Füßen stampfend und in abgetretenen Pantinen stolpert sie über den unebenen Hof, dreht sich vor dem Gartentor noch einmal um und hebt einen Arm, als wolle sie Rita mit ein paar fremdklingenden Worten drohen. Womöglich reimt Rita sich die Wortfetzen falsch zusammen, aber es klang so: So rotzige Leute hat es niemals nicht in Dorf gegeben?

Sie wird sich noch wundern, die Alte. Rita geht zum Haus und lächelt vor sich hin. Immerhin war das ein guter Anfang. Einen energischeren Einstieg in ihr neues Leben konnte es gar nicht geben. Janina wäre vor Staunen erblasst..

Das Wort Mispagel allerdings - und das wird sie ein paar Wochen später erfahren - heißt soviel wie Miststück.

Zwei merkwürdige Todesfälle

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