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Opfer für die Tradition

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Rita hatte ihr Handy zum Einkaufen nicht mitgenommen. Gewöhnlich vergisst sie es nicht, irgendjemand vom Verlag könnte sie schließlich anrufen, eine wichtige Nachricht für sie haben oder eine Änderung ansagen. Wenn sie in dem Fall nicht abnimmt, sieht es so aus, als schlafe sie noch oder als habe sie den besten Job von allen Verlagsleuten (was sie ja für sich durchaus so sieht).

Sie war kaum eine halbe Stunde außer Haus. In dieser Zeit sind drei Nachrichten eingegangen.

Lisa, Freundin und Stylistin ihrer neuen Frisur, hat wieder einmal einen kleinen Tratsch, den sie loswerden will. Kein Bock auf den Tratsch von Lisas Kundinnen. Ralf, ein alter Freund, bittet per SMS um einen Rückruf und die Nummer eines der Anrufe in Abwesenheit stammt von ihren Eltern. Eine vierte kennt sie nicht. Es ist eine Handy-Nummer, die man regional nicht zuordnen kann. Was ist, wenn Nils Hegau ihre neue Nummer herausbekommen hat? Geht das überhaupt?

Und wenn, er kann nicht wissen, wo sie ist. Sie ist ja noch nicht einmal umgemeldet. Mark Hellmann ist gerade dabei zu prüfen, ob rechtlich die Möglichkeit besteht, einen Wohnsitz unter Pseudonym anzumelden. Sie hatten ein eher liebenswertes Streitgespräch und das hatte mit ihrem Roman zu tun, der nach seiner Meinung genau in dieser Sache unkorrekte Fakten enthalte. Abgesehen davon, dass es entweder Fakten oder Unkorrektheiten sein können und dass ein Journalist diesen Unterschied kennen müsste, haben sie miteinander gewettet, und nun hofft sie auf seinen Anruf. Aber Marks Nummer ist nicht dabei. Mark Hellmann ist ein toller Typ und er hat deutlich Interesse an Rita gezeigt, aber gebranntes Kind scheut das Feuer.

Als alle Lebensmittel im Küchenschrank verstaut sind, denkt sie noch einmal daran, wer es gewesen sein könnte. Sie brauchte nur die Rückruftaste zu drücken… Sie lässt es sein. Für diesen Tag will Rita nicht mit außergewöhnlichen Ereignissen rechnen. Sie will im Online-Archiv nach alten Artikeln suchen, die schon zu dem Thema in der Spree-Rundschau erschienen sind, das sie am Nachmittag in die nahe Kreisstadt treibt.

Draußen wird es immer trüber, immer ungemütlicher. Der Winter beißt sich ziemlich fest und bringt in annähernd allen wirtschaftlichen Bereichen unvorhergesehene Schwierigkeiten. Sie selbst hatte sich vorgenommen, zu dieser Zeit längst rund um das Haus Ordnung zu haben. Aber die Erde ist festgefroren, die Bäume stöhnen unter der spitzen Kälte aus gefrorenem Reif und steifem Wind, und keiner ihrer Freunde zeigt Lust, unsinnige Schinderei auf sich zu nehmen. Wenigstens im Haus ist alles neu und wohnlich frisch.

Im Zimmer ist es gemütlich warm, aber sie zieht es vor, mit ihrem Laptop in der Küche zu bleiben. Die Heizung unter dem linken Fenster wärmt den Essplatz wohlig auf und außerdem hat sie von hier aus einen guten Blick auf die Straße, die zugegebenermaßen geradezu verwaist anmutet. Manchmal fährt ein Trecker vorbei, manchmal zieht er einen Schneepflug nach sich, und hin und wieder kommt ein Auto diese unbedeutende Kreisstraße entlang geschlichen. Drei Dörfer durchzieht sie. Zusammen ergeben sie die Gemeinde Zechau.

Ihr ist aufgefallen, dass jeder, der diese Straße entlang kommt — egal mit welchem Gefährt — gefährlich seinen Kopf zu ihrem Hof hin verdreht. Was ist so anders hier? Sobald sie Zeit hat, schaut sie sich unauffällig die anderen Höfe an. Es kann doch nicht sein, dass es dort schon frühlingshaft grünt?

Rita öffnet mit einem Klick den Zugang zum Online-Archiv der Spree-Rundschau, gibt ihr Passwort ein, das sie zur Benutzung berechtigt, und findet sich kaum zurecht in den verschiedenen Rubriken, die alle auf ihr Thema zutreffen könnten: Lieblos erzogene, vernachlässigte oder misshandelte Kinder.

Bei der Schlagworteingabe filtert das System bereits sieben redaktionelle Beiträge heraus, die in relevanter Zeit erschienen sind. Nachrichtenbeiträge lässt sie unbeachtet, davon gibt es eine ganze Menge mehr. Nur nicht diesen Dennis-Fall aufrühren, denkt sie bei sich. Nur so etwas Furchtbares nicht. Nicht jetzt.

Sie gibt noch weitere Schlagworte ein und ist überrascht, wie viel allein bei der Spree-Rundschau über dieses Thema geschrieben wurde. Einige davon liegen Jahre zurück und es wäre allemal interessant, was aus den Kindern geworden ist. Neu ist das Problem schließlich nicht, und das ist das eigentlich Bestürzende.

Bei den meisten Artikeln kommen Menschen zu Wort, Erwachsene, die sich in verschiedenen Einrichtungen mehr oder weniger erfolgreich um Problemfälle kümmern. In keinem der Beiträge kommt ein Kind selbst zu Wort.

Wie leicht es doch heute ist, über ein Thema zu recherchieren, denkt sie. Wie zeitsparend. Genau dieser Umstand war es, der sie zum Schreiben ihres ersten Romans verleitet hat. Bei einer dienstlichen Recherche war sie auf Fälle von Korruption gestoßen, in die auch Staatsdiener verwickelt waren. Je länger sie recherchierte, desto größer wurde der Drang, über Schicksale von Menschen zu schreiben, denen aus Gründen von Korruption nicht zu ihrem Recht verholfen wurde.

Auch wenn sie bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber bedeutend mehr Zeit dafür gehabt hat, auch wenn damals noch kein Gedanke an Hausbesitzerpflichten bestand, so weiß sie auch, dass nicht nur viel Zeit für Recherchen vor Ort nötig ist, es ist auch das gewisse Gefühl vonnöten, von wem man brisante Auskünfte bekommt, ohne die kein Romanheld erlebbar gemacht werden kann.

Die Leute mögen die Zeitungsschreiber nicht, haben kein gutes Gefühl, einen von denen in ihr Herz blicken zu lassen und danach ganz andere Wortgebilde zu lesen. Wenn man sie als Buchautorin wahrnimmt, könnte es leichter werden. Jetzt kann sie ihren Namen Riana Gora benutzen und Rita Georgi nur noch unter ihre Zeitungs-Kolumnen schreiben.

An diesem Tag geht es um den Bericht der Rita Georgi über eine lobenswerte Initiative. Es gibt noch keinen Veröffentlichungstermin, aber da er von gewisser Brisanz ist, wird er nicht auf Halde landen. Es geht um Kinder von Familien, die wahrscheinlich schuldlos ins Elend stürzten, die von der wirtschaftlichen Misere überrollt wurden oder jeglichen Antrieb verloren haben, weil sie chancenlos sind. Wer ändert daran etwas? Auch das gilt es anzuklagen und den Lesern plausibel zu machen, ohne das Los der Kinder aus den Augen zu verlieren.

In knapp einer Stunde hat sie siebenundzwanzig Artikel heruntergeladen, die sie alle gar nicht sofort studieren kann, dafür aber hat sie die Struktur für ihren Beitrag beinahe im Kopf, und die ersten Fragekomplexe notiert. Zumeist ergeben sich vor Ort ganz neue Ansatzpunkte, sofern es interessante Gesprächspartner sind.

Gerade will sie sich ausloggen aus dem Archiv, als ihr Blick auf einen Artikel über einen Jungen fällt, der vor einigen Jahren als nicht unschuldig am Tod seiner Mutter angesehen wurde. Ein nettes Gesicht mit sehr wachen, eigentlich treuen Augen, wie sie meint.

Mehr Zeit, darüber nachzudenken, ist ihr jetzt nicht vergönnt. Am Hoftor erscheint gerade die Alte von gegenüber, die sie schon einmal vergrault hat und für die ihr im Moment gar keine passende Abfuhr einfällt. Es fällt ihr nur noch ein, dass sie am Fall dieses Jungen dranbleiben will. Irgendwann einmal wird sie weiter recherchieren. Sie legt die Online-Seite auf ihre Favoriten und schließt den Zugang zum Archiv, als es auch schon an der Außentür läutet. Rita geht hinaus und öffnet die Tür. Fast form- und gestaltlos steht sie vor ihr, die Alte. Sie hat jetzt ihre Arme unter die Schürze geschlagen, die über dem dunklen Filzrock geknotet ist. Oben herum eine warme Jacke, ein Schoßrock, wollig zwar, aber kaum über den Schürzenbund reichend. Die watteweich umwickelte Alte hat das Kopftuch weit ins Gesicht gezogen, seitlich staucht es faltig auf die Schultern, genau, wie es Oma Frieda immer getragen hat.

»Ich will keinen Ärger nicht, aber Kuno, was mein Mann ist, und ich, wir haben jedacht …«

Rita atmet tief durch und schaut der Alten kläglich ins Gesicht. Es ist nicht leicht auf dem Dorf. Nicht mit dem Abstand und nicht mit der Nähe.

»Was dachten Sie beide denn, Frau Kalauke.«

Sowie die Alte ihren eigenen Namen hört, erhellt sich ihr Gesicht, die Arme rucken unter der Schürze hervor und sie fragt Rita, ob sie nun Fräulein sagen soll oder Frau.

»Riana, sonst nichts. «

»Riana , ja doch …« Die Alte fährt mit der Hand durch ihr Gesicht und zieht die Falten glatt, die ihren Mund einengen. »Ja doch«, wiederholt sie, als besinne sie sich auf den Grund ihres Besuches. Es sei wegen dem Heischegang, sagt sie und vergisst wie stets alle Artikel zu sprechen. Dafür vergisst sie nicht — wie stets — zu erwähnen: »Bei uns lebt sich ordentlich.« Am Sonntag kämen junge Leute auf die Höfe und wenn man nichts im Hause habe, würden die Zamperer keinen Spaß verstehen. Die könnten ganz rappelig werden, Mülltonnen ausräumen … oder umschupsen eben.

Rita hat nur Heischegang verstanden und dass die Jugend rappelig wird, aber den tiefen Sinn, der Lenka Kalauke zu ihr getrieben hat, den erkennt sie noch immer nicht.

Was geht mich der Heischegang an?, denkt sie genervt. Mit der Kirche hatte sie nie etwas im Sinn, warum sollte sie hier so tun, als sei sie dem lieben Gott für etwas dankbar.

»Frau Kalauke, ich habe jetzt wirklich keine Zeit für diesen Humbug!«

»Bist halt nicht von hier«, sagt die Frau verdammt abschätzig. Sie verschluckt dabei — wie schon Tage zuvor — das H., was dem Satz einen komischen Sinn verleiht: Bist alt nicht von ier.

Und weil sie nicht von hier sei, könne sie getrost auf die Alten vertrauen.

»Wenn es etwas zum Vertrauen gäbe, dann wäre es etwas Anderes, aber Kirchgänge aller Art sind wirklich nicht mein Ding. Ehrlich.«

Rita drückt die Tür schon gegen den Körper der Lenka Kalauke, doch der rückt Zentimeter für Zentimeter immer weiter in die Diele vor und es scheint, dass Lenka Kalauke ihr Ziel noch lange nicht erreicht hat. Schon ist sie um die Tür herum und drückt jetzt unmerklich von innen gegen das Holz, bis die Tür beinahe wieder geschlossen ist.

Langsam nimmt der Klang ihrer Stimme einen verschwörerischen Ton an. Die Zamperer hätten früher immer Speck, Schnaps und Eier verlangt. Heute würden sie auch mit Geld zufrieden sein.

Rita denkt, dass es wohl heute nur noch um Geld geht, aber eine Strategie für den endgültigen Rauswurf der aufdringlichen Frau fällt ihr nicht ein. Sie schüttelt ihren Kopf und steht perplex vor der Alten, die sie noch immer belehrt. Ihr sei es egal, was sie macht, aber sie solle sich nicht beschweren, wenn die Leute im Dorf sie danach schneiden würden. Und dann sagt sie noch einmal den Satz: »Bei uns lebt sich anständig. «

Ja, zampern, das kennt Rita doch. Was redet die Alte vom Heischegang, wenn sie das Zampern meint? Und was ist eigentlich die Zapust? Egal, die Leute ziehen durch das Dorf und wollen den dunklen Winter vertreiben, Gefahren und Dämonen vom Dorf fernhalten und den Frühling begrüßen. So ungefähr hat es Oma Frieda erzählt, aber das kann sie der Alten nicht auf die neugierige Nase binden, nicht das von Oma Frieda. Und wenn sie eine Fremde bleiben will, darf es sowieso nie jemand wissen.

Also bittet sie Lenka Kalauke in ihre Küche, bietet ihr sogar einen Stuhl an und lässt sie die Sache vom Zampern in Ruhe erzählen und von der Fastnacht eine Woche danach, die die Alte prompt die Zapust nennt. Und nun wird alles irgendwie logisch.

Doch dann sagt sie, Rita habe damit zu rechnen, dass ihr zur Zapust das Zapuststräußchen angesteckt wird, wenn sie beim Zampern nicht kleinlich ist. Zur Zapust halte man Ehrenbesuche ab und drehe mit besonderen Honoratioren im Dorf eine Ehrenrunde. Auf ein Tänzchen mit dem Bürgermeister oder dem Vereins-Chef, müsse sie sich als Neue schon einrichten, wenn sie möchte, dass das Dorf ihr zuwachse.

Dieses Zuwachsen ist ein selten schönes Wort für das, was es ausdrücken soll, denkt Rita. Sie wird es einmal benutzen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Oma Frieda hatte ähnlich schöne Worte, die nicht im Duden stehen und wenn, dann in anderer Bedeutung. Hemdig, wenn Opa im bloßen Hemd über den Hof lief. Heimzu, wenn sie auf dem Weg nach Hause waren.

Rita ist auf wundersame Weise mit der Alten versöhnt.

Das würde sie schon tun, sagt sie sanft, aber jetzt müsse sie zur Arbeit. Rita erhebt sich rasch und hält der Frau die Küchentür auf.

Als Lenka Kalauke endlich versteht, warum Rita nun wirklich keine Zeit mehr hat, geht sie ohne ein böses Wort zu verlieren. Vom Küchenfenster aus schaut Rita hinterher und sieht hinter Nachbars Gartentor einen Hund mit dem Schwanz wedeln, der dann der Alten brav zurück zu deren Haus folgt.

Zwei merkwürdige Todesfälle

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