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Das Dorf

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Eigentlich ist der Hof viel zu groß für eine Person, und die Hinterlassenschaften von Oma Frieda — die sich in den fünfzehn Jahren angehäuft hatten, seit Opa August Körber nicht mehr lebt — werden allein auch nicht zu bewältigen sein.

Dass trotz ihrer Tarnung Nils Hegau eines Tages bei ihr aufkreuzen könnte, schließt sie nicht aus, aber es wird nicht das größte Übel werden. Seit der Begegnung mit der Alten glaubt Rita, an sich selbst gewachsen zu sein — das heißt, an Riana Gora.

Wenn sie imstande war, die unschuldige Alte vom Hof zu weisen, kann sie Nils Hegau erst recht Paroli bieten. Nicht einmal eine handfeste Auseinandersetzung fürchtet sie noch. Zum Glück liegt das Grundstück am Rande der Dreihundert-Seelen-Gemeinde. Hier wird nicht gleich das halbe Dorf miterleben, wie sie ihre Probleme löst. Nur das Haus dieser Lenka Kalauke steht auf der anderen Seite ihrem Hof gegenüber, ehe sich die Straße in den Wald hinein bohrt. Die Wiesen rechts und links des Weges werden schon lange nicht mehr bewirtschaftet, so, wie hier fast nichts mehr bewirtschaftet wird, weil es keine echten Bauern mehr gibt. Das einstige Bauern-Dorf lebt beinahe nur noch vom Tourismus, und eigentlich wäre auch Riana Goras Haus groß genug, um im Obergeschoss zwei Ferienwohnungen einzurichten, aber dann wäre es mit ihrer lang ersehnten Freiheit und mit der Ruhe, deretwegen sie hier ist und die sie für ihren nächsten Roman dringend braucht, wieder vorbei. Der Hauptgrund ihrer Freude ist allein die Anonymität, die sie erhofft und warum sie ihren Künstlernamen an alle Türen geschrieben hat.

Noch vor ein paar Wochen war sie felsenfest davon überzeugt, sie sei den Schritt in eine neue Identität nur gegangen, weil sie sich in die Enge getrieben fühlte. Dieses Gefühl hat sie nicht mehr. Im Gegenteil. Tief in ihrem Inneren ist sie froh darüber. Alles um sie herum ist neu und aufregend. Sogar in ihrem Job hat sie es trefflich verstanden, den Vorteil des neuen Wohnortes auszunutzen. Wenn eine Gesellschaft Probleme hat, dann gibt es diese überall. Also kann sie auch im Spreewald den prekären Dingen mit ihrem unbestechlichen Gespür auf den Grund gehen. Und dafür ist Rita Georgi bei ihren Lesern und beim Verlag bereits bestens bekannt. Inzwischen ist es ihr sogar, als sei Rita Georgi ihr Pseudonym, wenn ihr Name unter den größeren Zeitungskolumnen erscheint. Bei kleineren Artikeln erscheint das Kürzel ri-go, das nur selten jemand mit ihrem Geburtsnamen verbindet.

Sie wacht, wie jetzt gewöhnlich, schon früh auf, was ihr zu Hause bei ihren Eltern nur selten gelungen ist. Die Frühjahrssonne kämpft sich durch den Morgendunst, und von irgendwo dringt ein Krächzen durch die Stille des jungen Tages. Sie reißt das Fenster ihres viel zu großen Schlafzimmers auf, in dem jetzt ein neues, viel zu großes Bett steht. Vom Westen strömt kalte Luft in das Zimmer, kriecht über die Dielen und breitet sich zum Wohnzimmer aus. Noch ist sie nicht daran gewöhnt, so nah über dem Erdboden zu wohnen, andererseits hat sie gerade hier, wo sie nichts als pure Natur umgibt, das größere Gefühl von Sicherheit.

Im Wohnzimmer gleich nebenan zieht sie die Rollläden nach oben. Hier, wo das breite Fenster nach Süden zeigt, könnte sie den Friedhof sehen, versperrte nicht die hochgeschossene Hecke die Sicht.

Rita schlüpft aus dem Pyjama, wirft ihn über die neue, weiße Ledercouch und huscht barfüßig und splitternackt zum schmalen Badezimmer. Das übrige Haus bedarf noch immer einiger grundlegender Renovierungen, aber die geräumige Diele und die Einrichtung ihrer Wohnung treffen jetzt beinahe schon ihren Geschmack. Keine Deckchen mehr, keine klumpigen Sofakissen, keine durchgesessenen Möbel, aus denen die Federkerne hervortreten. Alle Möbel sind neu und schnörkellos, wenn auch alles noch ein wenig kahl anmutet. Nach und nach bringt sie von ihren Touren über Land kleine Accessoires mit, die zu ihr passen und die den langen Atem von Oma Frieda ein wenig vertreiben.

Eigentlich war es nur logisch, dass sie hierhergekommen ist, und es war leicht, zu leicht vielleicht, als dass sie ihr Glück gebührend zu schätzen vermag. Und sie hatte Glück — mehr als Janina sogar. Noch vor einer Woche hat sie mit ihr telefoniert und weiß nun, dass Janina ziemlich unglücklich ist. Im Winter, als sie gemeinsam den Plan von der neuen Identität ausheckten, war Janina schon schwanger gewesen — schwanger von ihrem beträchtlich älteren Chef. Klar, dass er sie nicht heiraten kann. Fortan leben sie in wilder Beziehung, wie es Janina ausdrückt, und sie hat versichert, sie würde ihn auch nicht mehr heiraten wollen, nach all dem, was inzwischen passiert ist. Was genau passiert ist, wollte sie am Telefon nicht sagen, nur, dass sie Rita um ihr neues Leben beneidet und dass der Tipp, den sie ihr damals gegeben hatte, ihr eigener Plan gewesen war, noch bevor der Vater ihres Kindes etwas von seiner künftigen Vaterschaft erfahren sollte.

Arme Jani. Rita ist nicht dahintergekommen, warum es soweit hat kommen müssen, und warum sie nicht die Reißleine gezogen hat. Es gibt so viele Möglichkeiten, nicht Mutter werden zu müssen, wenn man es nicht will.

Rita genießt es, endlich so freizügig in ihrer Wohnung herumzulaufen, wie sie nur mag. Sie fühlt sich gut in ihrer Haut, wenn auch der Blick in den Spiegel ihr sagt, dass sie in das Gesicht einer Fremden schaut. Noch splitternackt föhnt sie ihr rotes Haar und zieht die halblangen Enden unter dem Kinn zusammen. Schon jetzt zeigt ihr Gesicht nicht mehr die Blässe, die sie in der Stadt meistens aufzuweisen hatte. Obwohl die Sonne noch fehlt, tönt allein die Landluft ihre Haut.

Sie schaltet den Fön ab und legt ihn auf das Schränkchen unter dem Waschbecken. Irgendwie ist ihr schwindelig und das passiert ihr in letzter Zeit ziemlich oft. Heute wird sie es mit ihrer Schönheit nicht übertreiben. Sie will schließlich nur im Dorfladen einen kleinen Einkauf machen. Weil sie erst am Nachmittag zu einem Termin aufbrechen muss, wird sie erst sehr spät von der Reportage zurück sein. Und wenn es schon im Dorf einen Laden gibt …die Leute hier wollen auch leben.

Als Journalistin hat sie gelernt, nichts dem Zufall zu überlassen, und seit sie gehört hat, dass es einen sehr netten jungen Mann geben soll, der den Dorfladen führt, will sie sehen, was es dort zu erfahren gibt. Die Dorfläden sind besser als jedes Boulevardblatt. Zwar will sie nicht mit der Tür ins Haus fallen. Auf keinen Fall will sie dahin gehen und sagen: Hey, ich bin die Neue vom Körberhof. Oder: Hey, mein Name ist Riana Gora, ich bin Buchautorin und wohne jetzt hier.

Nein, sie will einfach hingehen, wie ein Tourist einkaufen, was der Laden bietet. Schließlich kann jeder Tourist kommen und wieder gehen, warum sollte sie sich im Dorf vorstellen müssen?

Vor sich hin summend und sichtlich zufrieden, dass der kleine Schwindel rasch überwunden ist, noch zufriedener mit sich und mit ihrem Gesicht verlässt sie das Badezimmer. Vom Küchenfenster aus, das nach der Dorfstraße hin zeigt, sieht sie, wie die Alte von gegenüber, die ihr schon einmal einen Schrecken eingejagt hat, an ihrem Gartenzaun entlang schleicht und auf die Lebensbäume schielt, die wahrlich über den Winter gelitten haben und anscheinend von Thuja-Larven befallen sind. Das jedenfalls war Mark Hellmanns Meinung — keine Ahnung, woher er so etwas weiß. Solange Oma Frieda lebte, waren die Bäume nicht so braun und so trostlos.

Vielleicht wird sie sie entfernen müssen, um nicht als völlig unbeleckt zu gelten, was sie in Pflanzenkunde allerdings tatsächlich ist.

Während der Kaffee durchläuft, reibt sie ihren Körper, der noch immer kaum bekleidet ist, mit Lotion ein. Freilich weiß sie, dass die Alte sie dabei beobachtet, aber es macht ihr nichts aus — im Gegenteil. Sie ist ja kein braves Mädchen. Außerdem läuft die Alte schon entsetzt zurück zu ihrem Kalauke-Hof.

Solange sie frühstückt, blättert sie im Telefonbuch herum und notiert sich alle Nummern, die sie vor ihrem Termin am Nachmittag noch brauchen könnte. Sie kann es für den Tod nicht ausstehen, auf gewisse Eventualitäten unvorbereitet zu sein. Ein paar Anrufe, und sie hat intus, was ihr eigenes Wissen nicht abdeckt

Eine Stunde später durchquert Rita das verschlafene Dorf. Je näher sie dem Ortskern kommt, desto langsamer wird ihr Tempo. Wenn sie bedenkt, dass man früher mit dem Kahn von Haus zu Haus fuhr, als der Nordumfluter das Dorf noch nicht vom ausgedehnten Netzt unzähliger Fließe abschnitt, ist der Fortschritt zwar wenig romantisch, aber sehr bequem.

Der Laden ist in einem einfachen Haus untergebracht, keines von den Bauernhäusern mit gekreuzten Schlangenköpfen und hölzernen Fensterläden, wie man noch einige im Ort findet. Ein einfaches Ziegelhaus mit schmucklosen Fenstern und mit drei Betonstufen vor der doppelten Tür, dem einzigen Indiz für Großräumigkeit, die man von einem Laden erwartet.

Wahrscheinlich ist es noch dasselbe Gebäude, in dem früher der KONSUM untergebracht war. Wie sie von einer Recherche über das Leben in einem der Dörfer weiß, waren es früher die LPG — die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften — die auf den Dörfern die Immobilien besaßen, die sie den Konsumgenossenschaften zur Nutzung bereitstellten. Freilich waren es schlichte Bauten, zweckdienlich und nicht komfortabler als das Angebot.

Noch bevor sie die Betonstufen nimmt, atmet sie tief durch und zieht die langen Spitzen ihres Vorderhaares unter ihrem schmalen Kinn zusammen. Ihr Blick schweift durch den Raum, der kaum dem gleicht, was man Laden nennen kann. Mit Regalen vollgestopft, scheint er nicht größer als ihr eigenes Wohnzimmer zu sein, doch das kann täuschen, weiß sie. Die Waren sind dieselben, wie in jedem anderen Laden auch, dabei sitzt man hier an der Quelle und könnte den Vorteil der ländlichen Frische bieten.

Rita schlendert umher, nimmt etwas aus einem Regal, stellt es wieder zurück, während ein junger Mann im blauen Kittel mit einer dicken Frau in weiten Röcken spricht. Die alte Kalauke ist es gottlob nicht, aber der Mann könnte jener sein, den man als nett bezeichnet hat. Aus schrägem Winkel und Unlust vortäuschend schaut sie sich ihn genauer an, und muss zugeben, dass er gut aussieht. Glattrasiert seine tadellose Haut, die noch Sommerbräune gespeichert hat. Das etwas gespaltene Kinn und die aufmerksamen Augen erinnern an einen Mann der Tat. Ansonsten wirkt er weich und gutmütig …

»Njedra«, sagt die Alte gerade und holt Rita aus ihren ungewollten Gedanken. Die Worte der Frau hören sich an, wie damals bei der Alten Kalauke auf ihrem Hof, »ein Unglück könnte gestern bei uns passieren

Ja, was denn nun? So hat sie den Konjunktiv noch niemals gehört. Ist nun ein Unglück passiert. Hat sie etwas verpasst? Welches Unglück? Oder hätte eines passieren können? Manchmal muss sie höllisch aufpassen, dass die vielen Gedanken, die ständig ihren Kopf durchziehen, sie nicht aus dem wahren Leben kicken. Nun hat sie verpasst, welchen Grund zur Befürchtung die Alte hat.

»Aber wenn ich in Stadt fahre, ich muss nemska hotowac anlegen«, schnalzt sie geradezu durch ihre blubbernden Lippen.

»Es wird dir auch in deinen Röcken niemand etwas Böses tun«, sagt der Mann und trägt der dicken Alten den Einkaufskorb noch bis zur Tür.

Rita ist schon geschlagene fünf Minuten im Laden, aber der angeblich so nette Mann denkt gar nicht daran, sie nach ihren Wünschen zu fragen. Stattdessen dreht er ihr sogar den Rücken zu. Vor Frust nimmt sie einen Korb aus der Ablage und stapelt hastig hinein, was ihr unter die Finger kommt. Zu guter Letzt nimmt sie aus dem Brotregal drei Tüten heraus, in denen sie frische Brötchen vermutet, obwohl sie zum Henker nicht weiß, wer die alle essen soll. Der Mann dreht sich um und nimmt wortlos zwei der Tüten wieder aus ihrem Einkaufskorb. Erst als Rita zum Protest ansetzt, sagt er maulfaul:

»Mehr gibt’s nicht …«

Weich und gutmütig? Hat sie das wirklich gedacht? Seine Stimme ist alles andere als das. In ihre Verwirrung hinein, die stark genug ist, um eine vorgefasste Meinung zu korrigieren, antwortet sie mit gespielter Dickfelligkeit:

»Das sagt mein Arbeitgeber am Gehaltstag auch immer.«

»Einen Arbeitgeber hat die Dame also.«

Rita stellt sich taub, schaut sich gelangweilt im Laden um, wartet eine Weile und murmelt dann vor sich hin:

»Ich glaube, ich muss mir einen größeren suchen.«

Der Mann bleibt stumm. Womöglich überlegt er, ob sie einen größeren Laden oder einen größeren Arbeitgeber meint.

»Haben Sie keinen Arbeitgeber?«, fragt sie wie lustlos, dabei amüsiert sie sich gerade prächtig.

»Nee. «

»Sie sind also selbstständig?«

»Logisch. Oder?«

»Oh, die Konversation mit Ihnen ist die anregendste, die ich in meiner ganzen Laufbahn als Journalistin je hatte.«

Verdammt! Warum sagt sie Journalistin?

»Ich mag Journalisten nicht«, mault der Mann prompt.

»Aber Sie möchten doch Zeitung lesen?«

»Ich mag auch Steak, aber deswegen muss ich den Schlächter noch lange nicht mögen.«

Rita sieht, wie ihm Schweißperlen auf der Stirn wachsen, obwohl der Morgen recht frisch daherkam und es auch jetzt kaum zehn Grad sind, die das Thermometer zeigt. Hier drinnen ist es nicht viel wärmer. Also, warum schwitzt der Kerl. Der will es der Fremden zeigen. Das ist es.

»Ich dachte doch wirklich, der Kunde sei König«, sagt sie mit einem wütenden Blick auf die Tüten, die er ihr wieder abgenommen hat. Mit derber Wucht landet der zerschrammte Einkaufskorb aus durchlöcherter Plastik auf dem ebenso abgenutzten Ladentisch. Am Phlegma des Mannes, den man als sehr nett bezeichnet hat, ändert sich nichts. Er schaut sie nicht einmal an, antwortet aber stur auf ihre Frage.

»Hier ist niemand König. Wir im Osten haben was gegen die Monarchie.«

»Wir im Osten …?«

Jetzt muss sie lächeln und würde ihm zu gerne Recht geben, aber das hat sich diese Dorfdogge von Schnapsbewacher, dieser Ladenhüter, gar nicht verdient.

»Sind Sie …« Der Mann beginnt mit fahrigen Händen die Preise der Waren aus Ritas Korb in den kleinen Rechner einzutippen, »ledig?«, vollendet er nach einer Pause, als habe ihn das Tippen so sehr in Anspruch genommen. Natürlich hat er sich die Frage völlig neu überlegt. Natürlich wollte er eigentlich wissen, ob sie vom Westen kommt, und das freut Rita ganz ungemein. Er hätte nicht das Recht, sie danach zu fragen, will er auf Toleranz machen. Gerade im Osten beklagt man sich gerne über die Intoleranz der Westler, die ganz genau zu wissen vorgeben, was die Ostler falsch gemacht haben. Aber so gestellt hört sich die Stakkato-Frage des Händlers in der Tat an, als habe Rita kein Anrecht auf so viele Waren in ihrem Korb. Und das wiederum ist nur lächerlich. Heute entscheidet der Geldbeutel alles. Ausnahme bildet nur die Unvernunft.

»Und wenn ich nein sage?«

Der Mann schaut sie kurz an, schüttelt seinen Kopf beinahe unmerklich, um gleich wieder mit der Tipperei fortzufahren.

»Dafür hab ich `n Riecher, glauben Sie mir.«

»Dann wird es wohl so sein, wie einer meiner Freunde behauptet hat.«

Sein abschätziger Blick spricht Bände. Also war es das erste große Missverständnis.

»Man sagt, ehe man hier einen Furz lässt, riecht ihn schon das halbe Dorf. « Es ist nicht ihre Art zu reden, aber es ist offenbar die Art, die zu dem ganzen Dilemma passt, aus dem das Dorf besteht. Für ihren Geschmack verfehlt der Mann gerade das Ziel, seinen zweiten Gesichtsausdruck hinzubekommen, aber dann sagt er:

»Wenn Sie Brötchen bestellen, bekommen Sie auch welche. Ich fahre sie sogar morgens bis vor die Tür.«

So weit sind die Wege hier nun wirklich nicht, will sie ihn belächeln, aber dann fällt ihr ein, dass ein frisches Brötchen am frühen Morgen noch angenehmer wäre, müsste man dafür das Haus gar nicht erst verlassen.

»Und es macht Ihnen nichts aus, sich zur rothaarigen Fremden auf den Hof zu wagen?«

Der Mann hebt die Schulter, prüft noch einmal, ob der eingetippte Preis auch stimmt, und gibt sich gelangweilt.

»Ich fahre praktisch bei Ihnen vorbei.«

»Praktisch«, sagt sie mit blitzenden Augen und denkt schon wieder an den Furz, den der Mann schon gerochen hat, noch ehe sie ihn gelassen hatte.

Der Mann, der Jens Jedro heißt, wie sie auf seinem Namensschild lesen kann, nickt nur, während die Tüten im Regal direkt neben Rita plötzlich einen ländlich frischen Hefeduft verströmen. Es ist genau der Duft, den sie noch von ihrer Kinderzeit in der Nase hat. Damals war ein frisches Brötchen wie ein kleines Geschenk der Natur, und genau so rochen sie auch — sie hielten nur nicht so lange frisch, wie die heutigen. Innerlich wird sie ein wenig wütend, weil es tatsächlich Brötchen von einem ländlichen Bäcker sein müssen, der noch nach altem Rezept backt. Und die stehen wohl einer Fremden nicht zu?

»Sie denken wohl, bei einer Schriftstellerin ist alles nur Theorie – einschließlich Brötchen ausfahren?« Rita hebt ihr Kinn und spielt mit ihren Augen den geborenen Vamp.

»Also wollen Sie nun, oder wollen Sie nicht.«

Dieser Platz ist sein Thron, dieser miefende Laden sein Reich, in dem er regiert. Nett muss er nicht sein, kein Herrscher ist je in Nettigkeit erstickt.

»Geht das praktisch auch in nett?«, sagt sie nun doch, nickt unmissverständlich und zeigt mit zwei Fingern die Anzahl der Brötchen an, die sie quasi per Handschlag bestellt.

»Täglich? «

»Täglich, sofern …? «, sie zieht das Portmonee aus der Tasche und hält es so, dass der Mann es bemerken muss. »Ich meine, heute hat eine Tüte Milch aus dem Supermarkt mittlerweile eine längere Haltbarkeit als ein Versprechen. «

»Außer sonntags«, sagte er ohne besondere Regung, nennt ihr die Summe, die sie zu zahlen hat, wechselt das Geld und lässt sie mit ihrem Korb stehen, dabei hat sie weder eine Einkaufstasche dabei, noch liegen irgendwo Plastiktüten herum.

Zu der Frau, die mit einem geflochtenen Einkaufskorb gerade den Laden betreten hat, ist dieser Jens plötzlich super nett …

Auf dem Rückweg zu ihrem Haus spürt sie den spitzen Wind noch intensiver als zuvor. Er kommt jetzt von vorn, piekt wie Nadelstiche im Gesicht und dringt durch die Knopflöcher ihrer Jacke bis auf die Haut. Kein Wunder, dass sich in ihrem Kopf schon wieder ein kleines Mühlenrad dreht. Sie sollte schneller laufen, den Kreislauf ankurbeln, aber der Einkauf ist in ihrer Rage wohl doch etwas zu üppig ausgefallen.

Den Selbstbedienungskorb, den sie einfach mitgenommen hat, wird sie heute nicht zurück zum Laden bringen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Für heute hat sie genug Demütigungen erfahren.

Trotzdem geht ihr der Händler, dieser Jens, nicht aus dem Kopf. Sie fragt sich beim Gehen, was an dem Manne echt war und was gespielt. Sie könnte es von sich selbst auch nicht beantworten, obwohl die Hälfte von allem an ihr schließlich auch nicht echt war. Aber welche Hälfte es war, das weiß sie schließlich auch nicht so genau. Trotzdem wird sie diesem Ladenbehüter nicht aus dem Wege gehen können. Sie braucht ein geeignetes Sprachrohr, um dem Dorf ihre Unnahbarkeit zu vermitteln, und dieses Sprachrohr ist mit ziemlicher Sicherheit der Dorfladen mit diesem Jens Jedro an der Tete.

Auch wenn sie seines Namens grantig gedenkt, im Nachhinein ist es ihr fast, als hätte sie etwas an ihm erkannt, was sie an Männern mag, was er jedoch mit aller Macht verborgen hält. Ob er es nur vor ihr verbirgt, oder ob er — verdammt noch mal — total verklemmt ist, das kann sie nicht beantworten.

Nicht einmal der Schöpfer ist unfehlbar. Eine so passable Hülle um ein so störrisches Stück Dorftölpel ...?

Sie wünscht, sie könnte ihre garstigen Worte als wahre Empfindung begreifen, aber davon ist sie weit entfernt. Natürlich weiß sie, dass ihre eigene Rolle auch keine liebenswerte ist. Aber es ist ja nur eine Rolle, bis man sich daran gewöhnt hat, dass sie unnahbar ist, und bis man sie fortan von all der dörflichen Aufdringlichkeit verschont und sie in Ruhe lässt. Ihm hätte sie getrost ihre Schokoladenseite zeigen können, ohne Gefahr zu laufen, vernascht zu werden.

Zufrieden mit sich und dem kalten Februar-Morgen, noch zufriedener mit ihrer eigenen Erklärung für diesen Morgen, geht sie die letzten hundert Meter zurück zu ihrem neuen Zuhause. Je weiter sie sich von der Dorfmitte entfernt, desto klarer wird die Erkenntnis, dass man auch von ihr so denken wird, wie sie von Jens Jedro denkt.

Zwei merkwürdige Todesfälle

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