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Im Spreewald

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Es hat geregnet in der Nacht. Warmer, geradefallender Regen. Jetzt fällt die Helligkeit aus den Wolken, die sich dunkel über dem Wald hinter dem Luch zurückziehen. Das Gesicht der alten Wendin Lenka Kalauke ist nicht hell und nicht dunkel. Wie sie so durch die Fensterscheibe in das verschlafene Dorf hinaus späht, über den dunstigen Atem der Wiesen, über die Landstraße hinweg bis zum Körberhof hinüber, scheint es, als ob sich Zweifel und Weissagung hinter ihrer Stirn jagen, wo die Gedanken verstaut sind.

Es muss wohl so sein, wie diese Nimcowarka sagt, diese Deutschsprecherin, die seit einiger Zeit da drüben auf dem Körberhof wohnt. Es braucht viel Erfahrung, wenn ein Mensch, der etwas sieht, auch gleich etwas riecht.

Lenka hat einen Riecher – schon immer gehabt. In ihrem langen von ländlicher Mühsal geprägten Leben hat sie immer gewusst, wann etwas brenzlig ist; und diesmal ist es brenzlig.

Auf der Fensterbank liegt das Fernglas von Kuno, ihrem Alten. Vor einiger Zeit hat Lenka entdeckt, wie nützlich Kunos Fernglas ist. Seit die alte Frieda Körber sich nun auch vom Acker gemacht hat – Gott hab sie selig - und der Hof von einer Fremden in Beschlag genommen wird, seitdem hat Lenka keine Ruhe mehr. Ständig muss sie wissen, was da los ist auf dem Körberhof.

Schriftstellerin ist die Rothaarige. Njedra, wie viel Fremdes doch in den Menschen umgeht. So viele Dahergekommene greifen nach unserem verschlafenen Nest. Das hier ist nicht das Land der Nemcowar, es ist wendisches Land. Seit Jahrhunderten. Noch leben wir, und man greift schon nach unserem letzten Hemd.

Ausspucken möchte sie. Weil das ihrem Fenster nicht gut tut, spuckt sie nur trockene Flüche heraus: Cart nizi! und Njedra. Njedra!

Früher war das Dorf wie eine große Familie. Jetzt gibt es die einen und es gibt die anderen.

Lenkas Grauhaar sträubt sich. Und in ihr drin stäubt sich alles, weil sie nicht weiß, was da drüben gerade los sein mag.

In den letzten Jahren war es auf dem Hof der Frieda Körber beängstigend still gewesen. Daran hatte sich Lenka gewöhnt. Aber inzwischen ist das anders geworden.

Lenka kneift die Augen zu und lauscht auf ein Geräusch hinter der Tür, wo Kuno noch im Bette liegt und Stichbomboli - der Hund - auf die Auferstehung seines Herrchens lauert.

Augen zu ist nun erstrecht Unsinn, denkt sie, und nimmt ihr Fernglas wieder vors Gesicht. Einen Atemzug lang überlegt sie noch. Es passt ihr nicht, jetzt da hinüber zu gehen und vielleicht das Pech zu haben, der Dame über den Weg zu laufen. Die hat womöglich doch den feurigen Teufel im Leib!

Lenka schüttelt sich, wenn sie an die Worte vom alten Sedlazcek denkt: Der rote Teufel funkelt bei der Fremden oben aus ihrem Kopf heraus. Sedlazcek hat Recht. Den braven Jens hat sie erst verhext und dann vergrault, der kommt seit Tagen nicht mehr zum Körberhof. Aber die beiden Kerle von gestern sind der Lenka viel weniger geheuer.

Sie richtet ihren Körper gerade und kneift ein Auge zu. Die Sache da drüben zu begucken ist nicht spannender als von hier hüben, denkt sie. Durch die Mauern kann niemand nicht blicken.

Im Grunde passiert wenig in ihrem Dorf. Lenka in ihrem Alter ist beinahe ohne jede Furcht vor den Menschen, aber wenn sie Sedlazceks Gerede bedenkt, fragt sie sich genauso, ob ein Mensch mit so roten Haaren nur ein Mensch ist?

Draußen ist es noch immer still, kein Bussard pfeift sein Pi-Äh über den Wiesen, keine Amsel singt im Baum. Nichts.

Drüben im Haus sind noch keine Lichter an. Wahrscheinlich hat das Frauenzimmer – und Frauenzimmer denkt sie erst seit gestern wieder - noch einen Kerl bei sich und die beiden finden nicht aus den Federn. Sie schüttelt ihren Kopf: Gleich zwei Mannsbilder, gestern am Abend.

Man kann wirklich nicht behaupten, dass sie neugierig ist, aber irgendwie gefällt ihr die Sache nicht. Selbst wenn das Stück Malheur – sie fuchtelt kreuzweise vor ihrem Gesicht herum, weil ihr immer klarer wird, wie sie jetzt wieder denkt. So hatte sie gedacht, als diese Rothaarige ins Dorf gekommen war – selbst wenn sie früher aufgebrochen ist als üblich, man hätte hören müssen, wie Frieda Körbers schwere Haustür ins Schloss fällt, wie das Gartentor quietscht. Das hat sie früher immer gehört und nach dem Rechten geschaut. Man hätte auch hören müssen, wie die Reifen des roten Autos über den Kies knirschen und wie der Motor auf der Asphaltstraße Antrieb nimmt.

Nichts hat sie gehört. Gar nichts …Nicht einmal, dass einer der Kerle nachts aufgebrochen wäre.

Irgendein böser Gedanke schleicht sich in Lenkas Kopf, und irgendwie zieht er durch ihre Glieder. Sie kann nicht sagen, ob es ein aufregender oder ein ängstlicher Gedanke ist. Sie spürt nur, wie ihre Knie weich werden, wie ihre Hände zittern, und das Zittern will nicht aufhören …

Was hat die Flut der Fremden so nah an sie heran gespült? Keinen Engel mit blondem Haar. Einen Teufel vielleicht, mit glühender Mähne?

Sie glaubt nicht an Teufel und nicht recht an Gott, aber sie ist immer voller Andacht, wenn irgendwo die Glocken läuten. Das muss reichen, um in den Himmel zu kommen.

Lenka tippt sich zuerst an die Stirn und dann auf die Brust und sie schaut in den Himmel: Danke für mein sittsames Leben. Danke für Speis’ und Trank und ein bisschen auch für den anständigen Kuno.

Sie sagt es nicht. Sie denkt es nur, und sie denkt es wendisch.

Lenka ist selten in der Lage, ihr Gefühl in deutsche Worte zu fassen, aber alles, was sie an diesem Morgen in ihren Adern spürt, erinnert an die deutsche Gefahr, die seit Jahrhunderten über wendischem Grund herrschte, die den aufrechten Wenden zu einem an sich selbst Verzweifelnden zusammenstutzte, aus Gehorsam.

Bei dem Gedanken an den Körberhof zieht ein Schauder über Lenkas Haut: Heute scheint da drüben etwas nicht zu stimmen.

Kaum gedacht, da klappt auch schon die Tür von außen ins Schloss und Lenka wackelt mit geschürzten Röcken den Kiesweg entlang bis zur Straße. Vornüber gebeugt und in großen Schritten trabt sie quer auf die andere Seite. Wie ihre Haut sich kräuselt. Wie ein Schauer von Widerwillen in ihr aufsteigt.

Das Tor ist nicht verschlossen, nicht einmal eingeklinkt ist es, grad so, als habe der Wind es heran geweht. Das Fahrrad, mit dem einer der beiden Kerle gekommen war, ist nicht zu sehen. Nirgends.

Lenka schleicht ums Haus, in ihrem Rücken ein sonderbar nacktes Gefühl. Nebenan der Fährmann Hinze rumort auf seinem Hof herum, aber die Hecke ist zu hoch geschossen, als dass seine Augen sie erwischen könnten.

Die Rollläden der Wohnung sind ordentlich nach oben gezogen. Eng an die Hauswand gedrückt gelangt sie zum Hof zurück und hebt ihren schweren Körper auf die Zehenspitzen, um über die Fenstersimse in die Zimmer blicken zu können.

»Njedra, njedra«, schimpft sie vor sich hin und weiter in gutem Wendisch: »Nicht gescheit und keine Dummheit. Nur gescheite Menschen können eine Dummheit begehen. Die anderen leben sie.«

Sie zerrt die weiße Gartenbank aus der Ecke hinter der Giebelwand hervor und ächzt vor Anstrengung. Das Monstrum über die bröckelnden Pflastersteine vor das Küchenfenster zu bugsieren ist Knochenarbeit. Sie hebt ihre Röcke mit beiden Händen an und steht plötzlich vor der schwierigen Entscheidung: Soll sie die Hände gebrauchen, um ihren schwerfälligen Körper am Fenstersims nach oben ziehen zu können, oder um die Röcke anzuheben, damit das Aufsteigen überhaupt gelingt?

Lenka gibt jeder Hand die Hälfte der Probleme ab und stöhnt vor Anstrengung und vor Angst, jemand könnte auf der Straße vorbeikommen und seine Witze machen: Die Miss Marple von Alt Zechau geht wieder um!

Beim Blick durch die Scheibe des Küchenfensters blockieren ihre Hände zu beiden Seiten des Gesichtes das einfallende Licht. Blankes Entsetzen lässt ihren Atem gefrieren. Blut. Überall Blut. Nur im Haus ist niemand zu sehen. Nirjends nicht.

Ein Schatten huscht über ihr Gesicht, nur für einen Moment, aber doch lang genug, dass er eine Erleuchtung nach sich zieht.

Mit zitternden Knien steigt sie von der Bank, spuckt in den Kies vor der Haustür, nimmt die Schürze vor ihr Gesicht und schnäuzt ihre Abscheu hinein.

Dann läuft sie Hals über Kopf ins Dorf zu Jens Jedro.

Zwei merkwürdige Todesfälle

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