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Die Sache mit Lutz Wegener

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Lutz Wegener hat Wort gehalten. Als Rita auf den Schulhof fährt, steht er etwas abseits neben der Mauer und schaut zu, wie sie ihr Auto rückwärts einparkt, dort, wo sonst die Raucher stehen, sofern sie die vielen Kippen auf dem sorgsam gefegten Platz richtig deutet.

Lutz Wegener streckt ihr seine Hand entgegen und er ist auch nicht unfreundlich, aber irgendwie verändert erscheint ihr heute sein Blick.

Im Gebäude ist es still, kaum dass man glaubt, in einer Schule zu sein, wären nicht die langen Flure mit den vielen Kleiderhaken, wären nicht die Schauwände, an denen Schülerprojekte vorgestellt werden, klickte nicht die große Pausenuhr ihre Sekunden in die vorabendliche Stille.

Als sie den Raum betritt, in dem ein paar Jugendliche herumsitzen, zwingt sie sich eine Weile zu warten, ehe sie grüßt und sich als Besucher zu erkennen gibt.

Man ignoriert sie, redet ungestört weiter, lacht über irgendeinen Witz, den einer gerade macht, und dreht den beiden Ankömmlingen demonstrativ den Rücken zu. Sie drehen sich erst dann um, als

Minuten später die Projektleiterin hereinkommt und ohne Pause nach der Begrüßung über ein neues Video-Projekt zu sprechen beginnt, auf das die Schüler mit Spannung warten würden. Es ist jene Frau, die Rita von der Zusammenkunft beim Verein Soziale Vielfalt als wortkarg kennt. Jetzt redet sie hektisch und pausenlos.

»Bei dem Projekt lernen die Schüler vom Dreh bis zum Cut alles«, sagt sie und setzt auch gleich an, eine ganze Reihe Sponsoren zu loben.

»Es tut gut, dass unsere Arbeit jetzt auch von der Presse Anerkennung erfährt. Wissen Sie, Frau Georgi, Sie sollten wiederkommen, wenn der Bundestagsabgeordnete Reiche zu Besuch ist. Er hatte uns vor Kurzem zu einem Besuch des Bundestages eingeladen. Das war ein wirklich tolles Erlebnis für die Schüler«, etwas leiser fügt sie nach. »Aber ehrlich, ich hätte mehr erwartet, ich meine, mehr Teilnehmer an den Debatten. Da waren ja ganze Ränge leer. Wie kann man unter diesen Umständen ein ganzes Volk regieren? «

Über die Politik zu diskutieren, das hätte Rita jetzt gerade noch gefehlt. Politiker haben ihre Lobby - über Gebühr – und sie sorgen selbst für Öffentlichkeit – auch über Gebühr. Ihr geht es um jene, die im Schatten stehen, um nichts Anderes.

»Wissen Sie Frau …?«

»Dorman. Angelika Dorman. «

»Frau Dorman, es ist wirklich alles interessant, aber wir hatten vereinbart, dass ich mit den Schülern reden kann. «

»Selbstverständlich«, flötet die Frau, kann aber die kleine Enttäuschung nicht überspielen.

Lutz Wegener hat sich noch keinen Schritt von seinem Platz entfernt. Jeder andere junge Mensch wäre längst auf die Jugendlichen zugegangen. Lutz Wegener nicht. Der steht wie verklemmt und wartet darauf, dass Rita ihn auffordert. Das wird sie nicht tun.

Stattdessen müht sie sich, den Jugendlichen Fragen zu stellen, doch außer belanglosen Bemerkungen kommt keine Diskussion zustande. Im Gegenteil. Plötzlich verlässt einer nach dem anderen den Raum, manchmal mit einer fadenscheinigen Begründung, manchmal ganz ohne eine solche. Als nur noch vier ganz Phlegmatische sitzen, fragt sie direkt:

»Liegt euch nichts daran, wenn ein paar Leute über eure Wünsche, über eure Beweggründe Bescheid wissen? Je mehr ihr begeistern könnt, desto mehr Menschen werden eure Projekte unterstützen.«

Achselzucken, Kopfschütteln. Nichts sonst.

»Oder liegt es an mir? Wollt ihr mir nichts anvertrauen? «

»Sie kenn wa' nicht«, sagt der eine, der eine Jacke trägt, als habe er sie bei Malerarbeiten getragen und sei noch nicht dazu gekommen, die vielen verschiedenen Farben wieder zu entfernen. Er lehnt seinen Oberkörper, der bis jetzt auf der Tischplatte gelümmelt hat, weit zurück und zieht seinen Kopf zur Tür, wo Lutz Wegener steht: »Aber der da, den kenn wa…«. Und dann erhebt sich auch dieser junge Mann in Zeitlupe, den ein Mädchen Sebastian nennt. In seinem Schlepptau verlassen auch die anderen drei den Raum.

Es war also ein Fehler, diesen Lutz Wegener mitzunehmen. Aber warum?

»Ich kann nichts dafür«, sagt Lutz Wegener, als sie wieder draußen auf dem Schulhof stehen, wo der Hausmeister bereits das große Tor geschlossen hat, von dem sie nicht wissen, wie es wieder zu öffnen geht.

»Es muss schon einen Grund geben.« Obwohl sie am Tor rüttelt, versteht der junge Mann, was sie wirklich meint.

»Aber keinen berechtigten«, kommt es kleinlaut.

»Unberechtigtes hat auch einen Namen?«

Lutz Wegener starrt auf seine Fußspitzen. Beinahe lautlos lösen sich ein paar Worte aus seinem Mund, belanglose, wie es scheint:

»Die Eltern von dem Hunk haben früher im Hochhaus gewohnt, wo ich …«

Er schweigt wieder, aber Rita will keine Pause zulassen.

»Der Junge heißt, wenn ich es richtig verstanden habe, Sebastian, nicht Hunk? «

»Ach, Hunk heißt Idiot.« Lutz Wegener winkt resigniert ab und trabt wortlos zum Schulgebäude zurück.

Warum sich der Junge in ihre Reportage hinein gedrängelt hat, bleibt ihr ein Rätsel, so wie der ganze Junge noch ein Rätsel ist. Immerhin ist es sehr aufmerksam von ihm, den Hausmeister zu verständigen, denkt Rita. Der kommt auch sofort mit einer devoten Entschuldigung auf den Lippen aus dem Haus und über den Platz gelaufen.

»Manchmal stellen Touristen ihre Autos einfach hier ab. Ich wusste ja nicht, dass die Presse …Mir sagt man ja nichts. «

»Keine Ursache. Ging ja noch mal gut. «

Der Mann hält das Tor auf und Rita steigt in ihr Auto. Durch den offenen Spalt des Fensters sagt sie zu Lutz Wegener: »Irgendwann reden wir einmal, okay? Ich hab gleich noch einen anderen Termin.«

Die Geste des Jungen ist kein Ja und kein Nein. Es ist ein verständnisloses Zucken, ein eher skeptisches: abwarten.

Wie es aussieht, hat sich Hannah Noack vom Jugendnotdienst viel Arbeit mitgebracht für diese Nacht. Es könnte auch für sie eine nervig lange, eine vertane Nacht werden. Zum Glück hat Rita ihre Arbeitsutensilien immer dabei. Ihren Kopf, das Telefon, etwas Papier und einen Stift.

So vertan, wie sie befürchtet hat, ist die Zeit nicht. Der erste Anruf kommt gegen zwanzig Uhr von der Kriminalpolizei.

»Ein Notfall. Wir müssen prüfen …«, sagt Hannah Noack.

Unterwegs erzählt sie Rita, der leibliche Vater eines kleinen Jungen habe Anzeige gegen den Freund seiner Exfrau erstattet. Verdacht auf Kindesmissbrauch. Die Beamten wollen sich möglichst sofort ein Bild von der Situation machen. Unangemeldet. Da müssen wir mit, um sofort Entscheidungen zum Wohle des Kindes zu treffen.

»Kommt so etwas häufig vor? «

»Das ist sicher ein Grenzfall. Schwierig, von einem Mal hinsehen gleich zu urteilen. «

Nachdem sie das Kind, um das es ging, vorsichtshalber in Obhut genommen haben, sagt Hannah Noack zu Rita:

»Kinder sind Engel. Wenn sie größer werden, schrumpfen die Flügel allmählich, aber ihr Beinen wachsen. «

Wenige Augenblicke später ertappt sich Rita dabei, wie sie von einem jungen Mann spricht, der wohl auch einmal ein kleiner Engel gewesen sein müsse. Sie habe ihn in einer Runde von Experten kennen gelernt, in die er gar nicht recht passe, obwohl er großes Interesse an den Projekten gezeigt habe, die der Verein Soziale Vielfalt initiiere.

»Ach, Sie sprechen von Lutz Wegener, nicht wahr?«

»Kann sein. Kennen Sie ihn? «

Obwohl ihr das Zögern der Hannah Noack nicht entgangen ist, lässt sie sich nichts anmerken.

Zurück im Büro schweigt das Telefon zunächst. Irgendwie scheint es Hannah Noack unangenehm zu sein, so neben Rita Georgi zu sitzen und deren Frage nicht näher zu erörtern. Sie holt tief Luft und fängt an, vom Leben des Jungen zu erzählen. Zuerst den Status der Eltern von Lutz Wegener, die nicht sonderlich mit Intelligenz ausgestattet waren. Sie erzählt, wie Lutz als Kleinkind bereits mehrfach von der Jugendfürsorge in Obhut genommen wurde, weil die Eltern im Delirium lagen und sich nicht um das Kind kümmerten.

Zu Anfang war der Vater noch im Kraftwerk beschäftigt, aber dann hat man sie dicht gemacht, beide Kraftwerke im Spreewald, und der Sog der Armut hat die Mutter noch tiefer hinab gezogen.

Als Lutz zehn Jahre alt war, musste er miterleben, wie seine eigene Mutter in obszöner Aufmachung am Bahnhof herumlungerte - oder vor dem Hochhaus -, und wie sie dann mit fremden Männern nach Hause kam, wie sie im Schlafzimmer verschwanden und wie sie zwischendurch halb nackt in der Wohnung herumlief, Schnaps oder Zigaretten suchte, und wie sie den Jungen zum Supermarkt schickte, um von dem Geld der Freier Nachschub zu holen, anstatt an etwas Essbares für den Jungen zu denken. Es sei der Verkäuferin zu verdanken gewesen, dass das Jugendamt noch einmal auf den Jungen aufmerksam geworden ist. Dort hat man ihm auch geraten, einen solchen Wunsch der Mutter ruhig auszuschlagen, um nicht mitschuldig zu sein.

»Haben Sie schon einmal erlebt, wie ein Kind reagiert, wenn es mitschuldig an der Misere seiner Familie gemacht wird? Das kann ein Kind ein Leben lang zeichnen. «

Was der Rat des Fürsorgers in dem Kind ausgelöst hat, das wusste man bei der Polizei nicht. Umso genauer wusste man, dass es nur der Junge gewesen sein konnte, der die betrunkene Mutter eines Tages die Treppe hinuntergestoßen hat.

Das alles kennt Rita bereits aus den vielen Artikeln, die sie darüber gelesen hat, aber das kann sie Hannah Noack nicht sagen.

»Er konnte doch nicht verurteilt werden? «, sagt sie wenigstens.

»Es fand sich niemand, der das Gegenteil behaupten konnte. Dem Jungen selbst glaubte man nicht und er kam in eine geschlossene Jugendanstalt. Dort ist manchmal Endstation für die Tugenden junger Leute. Was sie bis dahin noch nicht wissen, erlernen sie dort. Die Wut auf die Gesellschaft wird dort geboren, und die Methoden, wie man sich den Normen der Gesellschaft am besten widersetzt, die lernen junge Leute untereinander am effektivsten. «

»Wo war denn der Junge, als das mit seiner Mutter passierte? «

»In der Wohnung. Er will von alldem nichts mitbekommen haben. Die Frau hat längere Zeit auf dem Beton gelegen und soll an ihrer Verletzung verblutet sein.«

»Bringt es ein Kind fertig, seine Mutter sterben zu lassen? Es war immerhin die Mutter. «

»Wer weiß schon, was sich in diesem Milieu abspielt. Bei den Schwachen, die sich nicht wehren können, entsteht ein solcher Hass, der alles Normale infrage stellt. Das darf man nicht vergessen. Und ein Kind erkennt die Tragweite seines Handelns noch nicht. «

»Sie glauben also, er könnte schuldig sein. «

»Für uns geht es nie darum zu glauben oder nicht zu glauben. Es geht um die Verhältnismäßigkeit. Damals ging es um einen Jungen, auch wenn er kratzte und biss und spukte, als man ihn in Obhut nahm. Er war gerade erst vierzehn Jahre geworden. Was Eltern an einem Kind verderben, darf dem Kind nicht zur Last gelegt werden. Ich glaube, Lutz hat erst durch Frau Bramsch gelernt, wie man Menschen begegnen sollte. Respekt war für ihn ein Wort von ganz anderer Bedeutung. Respekt hatte Lutz nur vor dem Ledergürtel des Vaters und vor dem Schlüssel der Mutter, wenn sie ihn für Tage in seinem Zimmer einsperrte, um … Na ja, sie wissen schon. «

»Wann ist er von der Anstalt zurückgekommen? «

»Nun ja, so schlecht ist die Gesellschaft nun auch wieder nicht. Es war ein Kampf, aber wir haben gewonnen. Frau Bramsch kümmert sich seitdem um ihn, aber sie kann die andere Misere nicht beheben. Lutz hat in der Anstalt eine Lehre als Tischler begonnen, aber in dieser Branche gibt es jetzt nicht mehr ausreichend Arbeit. Jetzt ist er Hilfsarbeiter auf dem Munitionsplatz. Aber er hat Angst. Große Angst. Er weiß natürlich von dem Unglück im Herbst 2002. «

»Das verstehe ich. «

Rita hat von der Explosion gehört, bei der vier Arbeiter ums Leben gekommen sind. Früher produzierte die DDR dort Kleinwaffenmunition, nach 1990 rüstete eine US-Firma die Anlage zur Munitionsentsorgung für das In- und Ausland um. In einem der Bunker können sechs Fliegerbomben gelagert werden. Zwei Detonationen soll es gegeben haben. Die waren so stark, dass die Trümmer auf einer Fläche von einem Hektar verstreut lagen. Nur einer der Mitarbeiter konnte identifiziert werden, die anderen waren nicht einmal mehr auffindbar. Schlimm ist, was Rita von einem ihrer Kollegen darüber weiß: Bis heute bestünden noch immer große Sicherheitslücken. Einhundertfünfzig Menschen arbeiten auf dem Gelände und es kursierte die Meinung, vor dem Unglück seien wichtige Informationen vorenthalten worden. Im Januar zuvor hatte es auf dem Gelände aus unbekannter Ursache gebrannt. Inzwischen ist das Verfahren abgeschlossen, verurteilt wurde niemand. Aber das ist jetzt nicht ihr Thema.

»Lebt sein Vater noch? «

Hannah Noack verzieht wehleidig die Lippen, schaut ins Leere und bewegt sehr langsam den Kopf hin und her.

»Hat der Junge eine Wohnung?«

»Nicht das, was man Wohnung nennen könnte. Der Lutz ist auch etwas schwierig, das muss man zur Ehrerettung von Frau Bramsch schon sagen dürfen. «

Rita sieht die Frau verständnislos an. Hinter der Stirn, die so kühl einen so verdammten Sachverhalt schildert, scheint doch eine kleine Wut zu brodeln, gegen alles und jeden. Hoffentlich nicht gegen sie als Fragestellerin, denkt Rita.

»Warum sind Sie nicht den Weg durch die Instanzen gegangen, wenn Sie meinten, es sei generell etwas schief gelaufen? «

»Weil das, was Sie Instanzen nennen, ganz tief da mit drinnen steckte.«

Das Ganze erscheint Rita auf einmal so unwirklich. Noch vor einer Woche hatte sie keine Ahnung davon, dass es einen jungen Mann gibt, dessen Schicksal sie interessiert, und heute kennt sie beinahe sein halbes Leben. Aber eben nur das halbe. Wenn sie über sein Leben schreiben will, dann muss es ihr gelingen, den jungen Mann zum Reden zu bringen, alles andere kann sie vergessen. Ihre Frage aber, ob sie einmal über ihn berichten sollte, verändert das friedlich müde Gesicht der Hannah Nock.

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, solange Sie nicht gegen unsere Vorschriften verstoßen. Der Lutz wird von den Jugendlichen seines Alters schon jetzt nicht akzeptiert. Er gilt als Zögling, als Günstling. Ich weiß nicht, was man hier von ihm weiß, außer, dass er trotz seines Alters noch immer in der Obhut von Frau Bramsch lebt. «

Sie weiß ja längst, dass er geschnitten wird von den anderen, aber der Grund scheint ihr nicht ausreichend. Irgendetwas liegt in Lutz Wegener selbst vergraben, was Gleichaltrige spüren, besser als wir, denkt sie.

»Vielleicht ist er psychisch krank? «

Hannah Noack zieht die Lippen breit, als sei sie genervt von der Frage, und das ist sie wohl auch:

»Glauben Sie vielleicht wir dachten er sei nur nicht gut drauf? «

Rita schrickt zusammen. Innerlich. Nach außen bleibt sie ruhig. Es war eine so fruchtbringende Nacht, der Artikel nimmt sich schon jetzt auf einer beträchtlichen Größe aus, dabei sind die Bilder noch nicht einmal geschossen. Aber das jetzt, das hätte sie sich beide wirklich sparen sollen. Kein guter Abgang.

Zwei merkwürdige Todesfälle

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