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Im neuen Verlag

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Die Distanz von ihrer Wohnung in der City bis zum Spree-Rundschau-Verlag ist etwas größer, als ihr Dienstweg bisher war, dafür aber wird sie nicht so oft in dem großen Haus herumsitzen, wie es im kleinen Haus bisher der Fall war. Sie hat zwar ein Auto, aber sie nimmt sich vor, täglich die Strecke mit dem Fahrrad zu fahren, das hilft der Umwelt und erspart den leidigen Kampf um die Parkplätze. Noch spielt das Wetter mit, aber es ist zu erwarten, dass es bald gefährlich glatt wird.

Rita hat bei ihren Eltern in der Stadtmitte ihr eigenes Zimmer, aber morgens gibt es meistens Stress. Jeder möchte sofort nach dem Aufstehen zur Toilette gehen und ausgiebig das Bad benutzen. Es gibt auch die angenehme Seite. Sie wird noch umsorgt. Zu den verdammt unangenehmen Seiten zählt, dass sie wichtige Dinge zuweilen nicht wiederfindet, weil ihre Mutter einen Räumfimmel hat. Besonders bei solchen Dingen, die sie nicht in ihrem Zimmer aufbewahrt, wie Schuhe, Schirme, Körperpflegemittel. Das mag zum Mutterinstinkt gehören, den sie nicht – noch nicht – einschätzen kann, der sie nur nervt und von dem sie felsenfest überzeugt ist, ihn einmal selbst nicht zu bekommen.

Eigentlich beginnt ihre Dienstzeit gegen neun Uhr. Beim «Wochen-Boten» hat sie zumeist vorzeitig an ihrem Arbeitsplatz gesessen, aber jetzt traut sie sich nicht, in aller Herrgottsfrühe beim Rundschau-Verlag aufzukreuzen und womöglich als Streberseele zu gelten. Und ob sie abends länger bleiben kann, das wird sie später sehen. Es muss sich so vieles ändern in ihrem Leben, aber dafür braucht man die nötige Ruhe und einen klaren Verstand, der in letzter Zeit irgendwie aus dem Tritt gekommen ist. Das liegt beileibe nicht nur an der freudigen Aufregung darüber, dass sie mit ihrem Manuskript bei einem renommierten Verlag untergekommen ist. Beileibe nicht.

Der Herbstmorgen liegt grau über der Stadt – nur östlich ein heller Streifen am Horizont. Sonne wird es aber nicht geben an diesem Novembertag. Sie mag die Silhouette der Altstadt, die gemütlich, aber nicht außergewöhnlich imposant ist. Nur die alten Türme der mittelalterlichen Stadtmauer und die drei Kirchen erheben sich majestätisch über die roten Ziegeldächer. Dieser Anblick trägt das Gefühl von Heimat in Ritas Herz. An diesem Gefühl soll sich nichts ändern. Was genau soll sich an ihrem Leben ändern?

Zuerst müsste sie mal was für ihr Gemüt tun. Eine neue Frisur, ein schönes Kostüm. Immer nur in Jeans, das passt nicht zu jedem Anlass. In Zukunft wird sie in der ganzen Region unterwegs sein. Vielleicht sollte sie über eine eigene Wohnung nachdenken?

Energisch schiebt sie den Gurt ihrer Stofftasche über die linke Schulter. Ihr forscher Schritt verrät, wie viel neue Tatkraft in ihr steckt. Schade, sie hätte doch das Fahrrad nehmen sollen, aber heute gibt es einen Grund, aufgeräumt auszusehen, wenn sie im Verlag erscheint. Gerade fährt heftig klingelnd eine Straßenbahn an der Haltestelle Mitte ein, und Rita erinnert sich noch an die Zeit, als der Betonbogen der Fußgängerbrücke den grünen Platz überspannte.

Als sie noch Kind war, lief sie manchmal quer durch die kunstvoll angelegten Blumenrabatten, um den Weg über die Brücke abzukürzen. Wo gibt es heute noch prächtige Blumenrabatten? Kaum eine Stadt kann sich den Luxus gepflegter Innenstadtparks noch leisten. Armes Deutschland.

Sie wirft ihren Kopf in den Nacken und läuft eilig weiter. Hoch über ihr ein Krächzen. Dunkel und drohend kreisen Hunderte von Raben.

Rabenland ist abgebrannt – unser alter Kinderreim. Rabenland ist überall. Rabenland herrscht in der Gesellschaft, in der Familie, unter vermeintlichen Freunden. Auch heute. Wahrscheinlich gehört es zu dieser Welt, gestern wie heute. Nils Hegau muss im Rabenland leben.

Manchmal macht es sie wütend, wenn sie ganz unverhofft an ihn denkt. Sie ist noch jung, möchte leben, möchte lieben, im Taumel der Zeit schwelgen und aus dem Vollen schöpfen. Mit Mark Hellmann wäre ihr das Dilemma vermutlich nicht passiert. Mark ist ein toller Kumpel.

Die Raben drehen ab. Sie sind nur lästig, weil es so viele sind, denkt sie. Geh deinen Weg allein, Rita Georgi.

Sie verscheucht die lästigen Gedanken an Nils Hegau. Es darf kein Problem daraus entstehen. Klar hat sie selbst einen unverzeihlichen Fehler begangen. Sie hätte ihrem gesunden Menschenverstand folgen und seinem Scharm widerstehen sollen. Hätte er je die kleinste Andeutung gemacht, sie wäre wahrscheinlich gewarnt gewesen. Bei Mark Hellmann war sie immer gewarnt und sie hat sich mit viel Witz davor gefeit, ihren besten Freund nicht auf diese Art und Weise zu verlieren.

Klar weiß sie, dass alles, was sie jetzt denkt, Selbstbetrug ist. Nils war bis zu diesem bewussten Abend kein Thema für sie, über das man nachdenken musste. Außer seinen ätzenden Chef-Allüren, die wahrscheinlich jeder Boss einmal hat, gabt es in der Tat keinen Grund, warum sie ihm hätte aus dem Wege gehen sollen. Und der erste Abend mit ihm war echt toll.

Noch eine Runde dreht die Rabenschar über dem Hochhaus, dreht dann wie auf Kommando nach Südwesten ab. Patsch. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Gerade heute. Warum zum Teufel steht sie immer am falschen Platz!

Ein hässlicher Klecks auf ihrer unbefleckten Weste sagt ihr auf sichtbare Art, jemand will sie beschmutzen. Zugleich weigert sich ihr wacher Verstand, solche Gedanken zuzulassen, aber ein gutes Zeichen ist ein Raben-Fleck wahrlich nicht. Grad heute nicht.

Eigentlich ist sie glücklich, eine neue Aufgabe zu haben, die sie fordert, die ihr einiges abverlangt. Die gewisse Oberflächlichkeit bisher hat ihr keinen Spaß gemacht, und wahrscheinlich darum hat sie geglaubt, sie müsse ihren eigenen Wünschen intensiver entsprechen. Und zu diesen Wünschen gehörte freilich auch Sex. Niemals in ihrem Leben waren die kleinen Träume unrealistisch und wohl deshalb überwog die Zufriedenheit an ihrem Leben. Ihr fehlt nichts. Und jetzt, wo sie endlich einmal etwas Großes geschaffen hat, wo niemand kommt und die Hälfte ihrer Kreativität wieder zunichtemacht, weiß sie, dass noch viel mehr in ihr steckt.

Über einen Satz der Lektorin des Münchner Verlages denkt sie schon längere Zeit nach:

möchten Sie unter einem Pseudonym veröffentlichen? Da es in ihrem Roman um brisante Tatsachen geht und diese den Geschehnissen in Ihrer Stadt entlehnt wurden, ist es vielleicht ratsam …

Sie steht zu allem, was sie schreibt. Und sie hat die Fakten weder geschönt noch übertrieben. Aber reizvoll ist es allemal, nicht von jedem Unwissenden als die Urheberin eines Skandal-Buches erkannt zu werden. Dann aber kommt sie mit sich überein, ihren Namen nicht zu ändern. Dafür lebt sie schon zu viele Jahre fest an diesen Namen gekettet. Wohl deshalb war der Vorschlag der Lektorin nicht bis in ihr Inneres gedrungen. Riana Gora. Rietta Georgetti. Hochnäsig. Abgehoben. Anmaßend. Dünkelhaft.

Nach der Redaktionskonferenz, auf der sie allen anderen Mitarbeitern vorgestellt wurde, sitzt sie nun zum ersten Mal ganz allein in ihrem neuen Büro, das leider ein Durchgangsbüro ist. Nebenan der Redakteur, dessen witzige Kolumnen Rita immer besonders begeistert gelesen hat, der aber als Person gar nicht witzig rüberkommt, eher verbissen ehrgeizig, Andreas Pankwitz ist noch nicht an seinem Platz. Sein Büro ist noch duster, wahrscheinlich verdunkelt. Jedenfalls kann sie sich in der Glasscheibe der Durchgangstür wie in einem Spiegel betrachten.

Geduscht, geföhnt und sogar ein wenig geschminkt – aber mit einem hässlichen Fleck auf der Jacke - war sie überpünktlich im Büro erschienen. Tatsächlich ist sie ohne ihre gewohnt lässige Aufmachung eine recht attraktive Frau. Zuerst dachte sie, sie kann sich ohne ihre geliebten Jeans, hineingepfercht in knitternde Blusen und unbequeme Röcke, niemals wohl fühlen - nicht vor den Augen der Menschen, sondern in ihrer eigenen Haut. Sie muss ihr Haar noch einmal zurechtzupfen und streift den Kragen ihrer schneeweißen Bluse glatt, die ihr plötzlich etwas von Dame gibt. Zwar hat ihre liebgewordene Aufmachung in Jeans und Pullover ihrer Sinnlichkeit nie einen Abbruch getan, aber gewundert hatte sie dann doch, dass ausgerechnet Nils Hegau ein Auge auf sie geworfen hat, wo sie doch das pure Gegenteil von seiner aufgedonnerten Frau Alice darstellt.

Darstellte.

Die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Irgendwie hat sie ihre kleine Veränderung sogar erschüttert – positiv erschüttert, weil mit der adretten Hülle auch die verkrusteten Strukturen ihres Denkens über die Weiblichkeit erheblich gelockert sind.

Was würde wohl in ihr vorgehen, wenn sie einen zweiten Namen trägt. Riana Gora. Sie müsste weder ihre Initialen ändern, noch müsste sie sich große Mühe bei der fremden Unterschrift geben.

Das Telefon läutet. Die Sekretärin der Redaktion meint, es wäre ein Anrufer dran, der nur sie sprechen wolle, keinen anderen dieser Schleimer. Genau so habe er es gesagt.

Nun, das ist durchaus üblich, dass die Zeitungsmenschen, die beileibe nicht allen Leuten ums Maul schreiben, als Schleimer bezeichnet werden, denkt sie für einen Moment, aber wer sollte ausgerechnet heute … ausgerechnet sie ...?

»Rita Georgi. Guten Tag …«

»Das hättest du nicht tun sollen, mein Engel …«, hört sie vom anderen Ende der Leitung. Rita durchfährt es eiskalt. Sie spürt, wie sich Muskelstränge verhärten, wie sich Sehnen anspannen, deren Existenzen sie bislang nur von Anatomiezeichnungen kennt. Sie muss sich sehr beherrschen, den Hörer nicht weit von sich zu schleudern und ist sich doch nicht sicher, ob sie unter diesen Umständen überhaupt einen Ton herausbringen kann. Ganz sicher wird sie sich nicht mit Nils Hegau auf ihrer neuen Dienststelle herumstreiten. Ganz sicher nicht.

»Tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht sprechen, wir haben gerade … Redaktionskonferenz«, lügt sie nach einem kleinen Hustenanfall und weiß zugleich, dass einer wie Hegau viel zu gerissen ist, um nicht längst herausgefunden zu haben, dass es eine Ausrede ist.

»Lüg mich bloß nicht an«, krächzt er wie von Sinnen, doch dann – wie ausgewechselt - tönt es von Engelszungen: »Mein Sonnenschein. Ich weiß, dass du nicht meinetwegen von Heidenreich weg bist. Dafür lieben wir uns viel zu sehr. Aber kannst du mir mal erklären, wie es jetzt mit uns weitergehen soll?«

Mit einem Mal erkennt sie das ganze Dilemma, in dem sie seit Wochen steckt und das sich nicht ändern wird, wenn nicht etwas Ungewöhnliches passiert.

»Mit uns wird nichts weitergehen, Nils Hegau. Du bist verheiratet und hast eine schöne Frau, und ich bin …«

»Du bist eine schöne Frau, die schönste, die ich je unter mir hatte.«

Abgesehen davon, dass diese vulgäre Art keiner Erwiderung bedarf, empfindet sie die Lüge in seinen Worten empörend.

»Ich bin nicht schön, und das weißt du auch. Also, wer von uns beiden flunkert hier?«

»Oh, dann weißt du nur nicht, wie schön du bist. Du bist wunderschön, du bist nur nicht lieb genug. Aber das wirst du noch lernen. Ich werde es dir beibringen, mein Engel. Zu jedem Zuckerbrot gehört auch eine kleine Peitsche. Erinnerst du dich nicht mehr, wie es war, als wir es miteinander getrieben haben?«

Rita hält ihre Hand vor Mund und Sprechmuschel, aber sie zischt bösartig:

»Wenn hier jemand etwas treibt, dann bist du es. Du treibst das Spiel zu weit. Du bist ja verrückt …«

Rita knallt den Hörer so heftig auf die Station, dass ein technisches Malheur zu befürchten ist, das sie nicht selbst beheben kann. Ärgerlich. Sie ist erst den dritten Tag hier.

Später probiert sie es aus, das Telefon ist noch intakt. Sie ruft die Sekretärin an und gibt eine Nummer durch, die partout nicht mehr zu ihr durchgestellt werden soll und am besten zu niemand anderes im Verlag. Es handele sich um einen nicht ernstzunehmenden Anrufer aus einer Nervenheilanstalt.

Noch den ganzen Tag über ist sie unkonzentriert. Es belastet sie ungemein, nicht daran gedacht zu haben, dass Nils Hegau alles daran setzen könne, sie aufzuspüren – und schwer kann das wahrlich nicht sein.

Schwerer empfindet sie das Problem als solches, von dem ihr noch nicht einmal entfernt vorschwebt, wie sie es lösen kann. Gerade jetzt kann sie keinen Skandal gebrauchen. Natürlich gibt es auch Möglichkeiten, ihm jeglichen Kontakt verbieten zu lassen, aber dafür ist nicht genug passiert und wenn es doch gelänge, dann wäre der Skandal geradezu vorprogrammiert. Was Nils Hegau vermutlich in diesem Falle anstellen würde, liegt klar auf der Hand.

Zwei Tage später fragt die Sekretärin zuerst an, ob sie die weinerlich klingende Stimme eines Mannes hören wolle, der vorgibt, Georgi zu heißen, Rainer Georgi.

Zuerst ist es, als gehöre die Stimme niemandem, den sie kennt, und schon gar nicht ihrem Vater:

»Deine Mutter meint … ich meine …würde es dir etwas ausmachen, heute mal direkt nach Feierabend nach Hause zu kommen, es ist etwas…«

»Ich komme immer direkt nach Hause. Vielleicht solltet ihr wissen, dass ich …«

Es war zu erwarten, dass er sie nicht ausreden lässt.

»Deine Großmutter ist …«

Wenn sie bei keiner anderen Nachricht so aufgeschreckt zuhören würde, bei Großmutter immer. Wenn sie an niemanden eine innige Bindung hat, nicht einmal an ihre Eltern, für Oma Frieda empfindet sie eine ganz gewisse Zuneigung, eine, die das Herz betrifft. Dafür, dass es um Oma geht, hört sich Vaters Stimme nicht wirklich gut an.

»Sag jetzt nichts …Sag nichts Papa!«

»Dann komm nach Hause.« Rita kennt ihren Vater und sie kennt die Art, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.

Es ist, als stellt sie fest und fragt zugleich: »Sie ist gestorben ...?«,

aber Rainer Georgi scheint nur eine Frage herausgehört zu haben.

»Ja.« Sein Atem geht kurz, wie es immer ist, wenn er die Nerven für das, was man ihm zumutet, nicht aufbringt.

Erst als sie die Treppe herunter saust, der Sekretärin ein paar Worte zuruft, spürt sie, wie das kleine Wörtchen Tod zu etwas Greifbarem wird, etwas, das sie selbst betrifft, über das sie nicht nur in einem – wenn auch hoch gelobten - Artikel zu berichten hat, den man verändern kann, umschreiben, anpassen, redigieren, bis er die gewünschte Dimension annimmt.

Zu Hause sitzen sie eine ganze Weile einfach da, keiner sagt etwas, jeder wartet auf den letzten Trost, den es noch geben kann. Doch der Tod gewährt keinen Trost. Das Warten verändert sich nach einiger Zeit. Warum bleibt das Entsetzen aus, denkt Rita. Warum der lähmende Schreck, der immer kommt, wenn man dem Tod gegenübersteht.

Ihr Vater streckt die Hand nach ihr aus, drückt sie und versucht mit einem Lächeln die Unruhe aus ihrem Blick zu vertreiben. Das Gefühl der Schuld kann er nicht vertreiben. Ja, Mama hat Recht, sie war schon seit einiger Zeit nicht mehr in Alt Zechau bei Oma Frieda gewesen. Unverzeihlich. Alles was ihr an Zeit zur Verfügung stand, hatte sie in diesen verflixten Roman gesteckt – und nun?

Sie kann sich jetzt gar nicht mehr über ihren Erfolg freuen, kann nicht einmal ihre Eltern an ihrem Erfolg teilhaben lassen, von dem bislang beide keinen Schimmer haben. Irgendwann begreift sie, dass es die Mutter ist, die jetzt am meisten Zuwendung braucht. Frieda war die Mutter von Mama Helga, und Helga Georgi war diejenige, die in letzter Zeit am meisten für Frieda gesorgt hat.

Auch wenn sie keine besondere Innigkeit verbindet, spürt sie doch eine zwingende Verantwortung für ihre Mutter. Davon kann und will sie sich nicht frei machen.

»Es tut mir leid, Mama«, sagt sie wenigstens. »Ja, ich war so lange nicht bei Oma, aber das hatte einen ganz besonderen Grund. Einen, den ich euch noch nicht gesagt habe, den ihr aber wissen solltet.«

»Wie kannst du annehmen, dass wir jetzt über deine Probleme reden wollen?«

Der Zorn, der aus Mutters Stimme zu hören ist, der ihre Trauer für einen Moment überlagert, ist nichts als gerecht, aber diese Erkenntnis bringt Rita nicht weiter.

»Ja, es ist ein falscher Moment. Aber gibt es je einen richtigen? Ich will euch gar nicht mit meinem Problem belasten, und Oma kann es auch nicht mehr lebendig machen.« Sie schnäuzt sich und ringt nach Luft. »Aber wenn es euch schon nicht freut, Oma hat es sehr gefreut zu hören, dass ich …«

Sie hört auf zu reden. Tief in sich spürt sie, dass Mutter Recht hat und dann auch wieder nicht. Warum hat sie denn ihren Eltern nicht erzählt, dass sie in all den Nächten einen Roman geschrieben hat. Sollen sie es hören, jetzt, und nicht erst, wenn er gedruckt vor ihnen liegt. Das wird in Kürze so sein. Sie weiß nicht einmal, ob ihre Eltern lesen würden, was sie geschrieben hat. Sie kann sich aber gut vorstellen, dass sie in diesem Fall die Probleme der Stadt erkennen würden, die sie in der Handlung verarbeitet hat, weil die überall und auch in ihrem Elternhaus auf arge Kritik gestoßen sind.

Warum hat sie nur ihrer Großmutter davon erzählt?

Das Familienleben war generell aus dem Gleichgewicht geraten. Zuerst nur unmerklich, aber dann wurde die Kluft zwischen ihr und ihren Eltern immer tiefer. Der Grund ist nichts als fehlendes Vertrauen.

Rita hat die Stille, die sich langsam im Hause Georgi breitgemacht hat, zumeist sogar genossen. Und mit der Stille sind nicht die hörbaren Töne gemeint; der Wert der Worte ist gemeint.

Es ist ihr bisher lieber gewesen, sie schweigen sich an, als dass sie aus lauter Unkenntnis übereinander nur schlechte Luft ablassen.

Mit Oma Frieda war das immer anders gewesen. Auch mit ihr saß sie lange schweigend zusammen. Das war eine vertraute Stille, weil Worte nicht nötig waren. Wie lange ist es her, dass sie das letzte Mal …?

Wie viele Monate?

Erst, als sie in die Endphase ihres Romans gekommen war, blieben schließlich ihre Besuche im entfernten Alt Zechau aus. Zugegeben, es waren keine sehr langen Besuche, aber jeder einzelne war von großer Herzlichkeit getragen.

Die Beerdigung verläuft so bescheiden, dass es beinahe beschämend ist. Im Dorf weiß an diesem Tag kaum jemand etwas vom Beerdigungstermin der Frieda Körber. Rita weiß nicht, ob ihre Mutter nur kein großes Wesen darum machen wollte, oder ob sie schlicht überfordert ist. Sie muss es so nehmen, wie es ist. Aber es ist umso bedrückender, wenn nur wenige Augenpaare in das offene Grab blicken, wenn nur wenige Herzen in dumpfer Bedrückung ihren Schmerz verbergen, ihre Tränen tapfer zurückhalten. Was ihren Vater betrifft, der wäre sofort nach der Grabrede gegangen, doch das lassen die beiden Frauen nicht zu, zumal sich am Friedhofstor doch ein paar Leute eingefunden haben, denen die Hand nicht ausgeschlagen wird, wie Mutter streng entscheidet, sie ist schließlich eine von hier.

Rita streut als Letzte eine Hand voll Erde auf den Sarg, auf dem ein Bukett aus weißen Rosen liegt, das sie selbst im Blumengeschäft am Hochhaus bestellt hatte.

Sie tritt dann als Letzte durch das Friedhofstor wieder hinaus auf die Straße zwischen Alt Zechau und Vorwerk. Sie kennt die Leute nicht, die ihrer Mutter still die Hände schütteln, die mit ihr tuscheln, als schämten sie sich, nicht im ordentlichen Geleit geschritten zu sein. Die alten Frauen ziehen ihre Kopftücher tief in die Stirn und vor Ritas geistigem Auge entsteht das Bild ihrer Oma, die sommers wie winters ein solches Kopftuch getragen hat, das zu beiden Seiten steif über das Gesicht hinaus ragte, das breit und faltig auf den Schultern stauchte und dessen Zipfel tief in den Rücken hinunter ragte. Sobald Oma den Fuß aus der Tür setzte, warf sie das Tuch über den Kopf, das ihr grau meliertes Haar verbarg, um dessen kräftige Struktur Rita sie beneidete.

Sie trägt ihre alte Heliomatik-Brille, weil die auch ohne Sonnenschein bei hellem Tageslicht eine beträchtliche Färbung aufweist. So lassen sich ihre Tränen gut verbergen. Sie schämt sich nicht dafür. Sie schämt sich für sich selbst, schließlich hat sie aus purem Eigennutz ihre Lieblings-Oma ein paar Monate lang vernachlässigt.

Zum Glück muss sie niemandem die Hand drücken, man scheint sie gar nicht mehr zu kennen.

Erst später, als sie zu dritt auf dem Hof der Großmutter stehen, schaut Rainer Georgi seine beiden Frauen an und sieht, in welch jämmerlichem Zustand Rita ist. Schon hebt er seinen Arm, um sie liebevoll wie früher zu umfassen, als sie noch sein kleines Mädchen war, doch aus unerklärlichem Grund zieht er den Arm wieder zurück und fragt nur: »Alles in Ordnung?«

Ihm muss sie verzeihen, wenn er das fragt. Bei ihm ist wohl alles in Ordnung. Er hatte keine besondere Beziehung zu Oma Frieda gehabt und solange seine eigene Mutter noch lebte, war er damit beschäftigt, seinen Anteil an Verantwortung dorthin zu investieren.

»Ich glaub nicht«, sagt sie trocken und denkt zugleich, dass in letzter Zeit nichts mehr in Ordnung ist in ihrem Leben. Auch wenn ihr der Tod der Großmutter eine innere Leere beschert, weil er so unverhofft über sie gekommen ist, beginnt sie das erste Mal am Wert einer Familie zu zweifeln. Auch wenn sich alle bemühen, möglichst traurig auszusehen, weiß sie doch, dass von ihnen eine Last genommen wurde. Von ihr indes ist keine Last abgefallen. Die Last des Gewissens wiegt doppelt schwer, wenn man nicht alles gegeben hat, was ein alter Mensch braucht. Würde. Zuwendung. Und in gewisser Weise auch Liebe.

Zum Glück gibt es keine anderen Erben als Mutter Helga und das unwürdige Thema nervenzerrender Erbstreiterei bleibt ihnen erspart.

Zwei merkwürdige Todesfälle

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