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Kapitel 4 - Heera

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Der Weg war beschwerlicher, als die Mädchen es sich vorgestellt hatten. Zwar waren zumindest die Ernannten es gewohnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen, doch noch nie zuvor war es so heiß gewesen. Der Schweiß stand ihnen in Perlen auf der Stirn und tränkte ihre Kleider, während ihre Kehlen so ausgetrocknet waren, dass sie kaum noch Luft bekamen.

Den Prinzessinnen ging es nicht besser, ganz im Gegenteil. Sie waren selten zu Fuß unterwegs, sondern ritten oder fuhren in prachtvollen Kutschen. Besonders Thelma litt unter der Hitze. Ihr treuer Diener Kristópher musste sie immer wieder tragen, weil ihr schwacher Kreislauf sie taumeln ließ.

Auch die Wölfe von Fjodora hechelten bei der Hitze und suchten vergeblich nach einem Baum, der ihnen Schatten spenden könnte. Ein fließender Fluss oder wenigstens ein Bach wären eine Erlösung gewesen, doch alle Gewässer waren bis auf den Grund ausgetrocknet und die Fische, die in ihnen gelebt hatten, mussten einen qualvollen Tod erlitten haben.

Königin Niobe schritt tapfer auf ihren Hufen voran mit der Krone zwischen den beiden Hörnern. Selbst als Tier strahlte sie eine gewisse Autorität und Eleganz aus.

Schließlich erhoben sich am Horizont die Umrisse eines kleinen Dorfes. In der Hoffnung, dort auf andere Menschen zu treffen, schöpfte die Gruppe neue Kraft, und sie beschleunigten ihre Schritte.

Doch schon bald mussten sie erkennen, dass das Dorf genauso ausgestorben war wie das ganze Königreich. Kein Tier und kein Mensch kreuzten ihren Weg, als sie den Dorfeingang passierten. Die Türen der Wohnhäuser standen offen, so als wäre bei der eiligen Flucht vor der schwarzen Wolke nicht einmal genug Zeit geblieben, um sie wieder zu schließen.

Mutig traten Yanis und Silas in das erste Haus ein, um zu überprüfen, ob wirklich nichts und niemand zurückgeblieben war.

Nach kurzer Zeit kamen sie grinsend wieder heraus. »Hat jemand Durst?«, fragte Yanis, während Silas ein Fass auf den muskulösen Schultern trug.

Daphne konnte nicht länger an sich halten und stürzte direkt auf sie zu. »Ist das etwa Wein?«

»Ein ganzes Fass voll«, bestätigte Silas und schenkte ihr galant das erste Glas ein, während sich auch die anderen um ihn scharten.

»Stopp!«, rief Königin Niobe, ehe Daphne einen Schluck nehmen konnte. »Dieses Fass gehört uns nicht, sondern armen Menschen, die ihr Hab und Gut auf ihrer Flucht zurücklassen mussten. Es wäre unrecht, sie nun zu bestehlen!«

Daphne warf ihr einen zornigen Blick zu. Ihr Durst und die Erschöpfung ließen sie offenbar jegliche guten Manieren vergessen. »Verehrte Königin, dies ist Chóraleio. Euch gehört jede Straße, jedes Haus und somit auch jedes Weinfass. Niemand würde es wagen, Euch ein Glas Wein zu verwehren. Ganz im Gegenteil, die Bewohner dieses Dorfes würden sich geehrt fühlen, Euch zu bewirten.«

»Es ist kein Bewohner da, der mir dies bestätigen könnte!«, beharrte Niobe.

»Somit wird auch niemand ein Fass Wein vermissen«, kam Leilani Daphne zu Hilfe. »Euer Volk würde sicher nicht wollen, dass ihre Königin verdurstet.«

Heera nahm Daphne das Glas mit dem Wein aus der Hand und hielt es der Königin auf Höhe ihres Mauls entgegen. »Es ehrt Euch, dass Ihr selbst in dieser dunklen Stunde an das Wohl Eures Volkes denkt. Ich bin sicher, Ihr werdet die Menschen, an deren Hab wir uns bedient haben, nicht vergessen und ihnen den Wein in doppelter Menge zurückzahlen, wenn wir erst einmal das Schloss, den König und den Prinzen von diesem schrecklichen Fluch erlöst haben. Aber nun tut uns allen den Gefallen und nehmt den ersten Schluck!«

Niobe blickte mit ihren dunklen Augen zögernd zu Heera auf.

Nur widerwillig ließ sie ihre rosafarbene Zunge in das Glas mit dem Wein gleiten und begann daraus zu trinken. Das genügte den anderen als Erlaubnis, den Rest des Weinfasses komplett auszuschenken.

Auch in den anderen Häusern des Dorfes wurden sie fündig. Die Menschen waren so eilig aufgebrochen, dass manch ein Tisch noch mit Speis und Trank gedeckt war. Selbst die Löffel lagen noch in den halb leer gegessenen Suppenschalen.

Gegen Niobes Protest aßen sich alle satt und packten danach noch Taschen mit Proviant für die Reise. Einzig Heeras Vorschlag, auch die festlichen Ballkleider gegen einfache, aber praktische Kleidung zu tauschen, stieß auf wenig Gegenliebe.

Besonders die ernannten Mädchen zierten sich, ihre wertvollen Kleider zurückzulassen. Wer wusste schon, wann sie je wieder die Gelegenheit haben würden, sich in Samt und Seide zu hüllen und mit kostbaren Edelsteinen zu schmücken?

Es brauchte einige Überzeugungsarbeit, bis sie schließlich doch Einsehen zeigten. Überraschenderweise waren die Prinzessinnen schneller bereit, sich auf den Vorschlag einzulassen.

Prinzessin Thelma wirkte selbst in einem braunen Leinenkleid noch wie eine Königin. Das war die Ausstrahlung, von der Niobe so oft gesprochen hatte. Eine wahre Königin war in jeder Gestalt zu erkennen, selbst als Ziege.

Leilani schien froh, ihre zerfetzte Kleidung gegen ein sauberes weißes Hemd, eine schlichte Hose und feste Stiefel tauschen zu können. Fjodora hatte bereits auf dem Weg ins Dorf ihre Fellweste abgelegt und brauchte sich nun nicht einmal mehr umzuziehen, da sie bereits in Reisekleidung im Schloss eingetroffen war.

Während Heera sich wie Leilani mit Männerkleidung eindeckte, entschieden die anderen Ernannten sich für schlichte Kleider.

Silas verneigte sich respektvoll vor Daphne, als diese unzufrieden in einem grauen Baumwollkleid aus einem der Häuser trat. »Verehrte Daphne, ich neige mein Haupt vor Eurer Schönheit!«

Sie rümpfte die Nase, aber konnte ein kleines Lächeln nicht verbergen. »Prinz Lean wäre nicht erfreut, wenn er wüsste, dass du seiner zukünftigen Braut in seiner Abwesenheit den Hof machst!«

Silas richtete sich grinsend auf und ging ihr entgegen. »Ich bin sicher, Ihr wärt eine ganz bezaubernde Braut, aber noch seid Ihr eine Ernannte. Solange Ihr dem Prinzen nicht Euer Jawort gegeben habt, wird ein einfacher Mann wie ich doch träumen dürfen.«

Daphne kicherte verlegen. »Ich halte nicht viel vom Träumen! Manche Menschen träumen ihr ganzes Leben, ohne dass sich auch nur einmal einer ihrer Träume erfüllt. Ich bin mehr eine Frau der Tat, die sich nimmt, was sie will, anstatt mit Tagträumereien ihre Zeit zu verschwenden.«

Silas konnte seine Augen kaum von ihren Lippen lassen, die so geschickt mit Worten zu spielen vermochten. »Das gefällt mir am besten an Euch!«

Medea beobachtete das Schauspiel und schüttelte den Kopf. »Wie kann sie nur einem anderen schöne Augen machen, während Prinz Lean vielleicht in Lebensgefahr schwebt?«, raunte sie Erina zu, die neben ihr stand.

Die jüngste der Ernannten zuckte unsicher mit den Schultern. »Gönn ihr doch einen kleinen glücklichen Moment! Lean ist nicht hier und er würde sich gewiss nicht daran stören. Silas ist sein Freund und er vertraut ihm blind.«

»Umso schlimmer«, schimpfte Medea. »Für mich gibt es keinen anderen als Lean. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Ganz gleich, was auch geschehen mag, ich könnte mein Herz keinem anderen schenken.«

Erina sah sie betrübt an. »Nicht einmal, wenn Lean eine andere wählen würde?«

»Nicht einmal dann«, beteuerte Medea.

Die kleine Gruppe hatte beschlossen, die Nacht in dem Dorf zu verbringen und erst am nächsten Morgen wieder aufzubrechen. Während sich die anderen zum Schlafen zurückgezogen hatten, übernahmen Heera und Fjodora die erste Wache. Später würden Silas und Yanis sie ablösen.

Obwohl die Sonne hinter dem dichten Wolkenhimmel verschwunden war, brachte auch die Dunkelheit nur wenig Abkühlung. Es wehte kaum ein Lüftchen, und das Feuer zwischen den beiden jungen Frauen brannte nur, um ihnen Licht zu spenden. Es war eine sternenlose Nacht.

Fjodora kraulte ihre Wölfe abwechselnd hinter den Ohren. Der Feuerschein fiel auf ihr Gesicht und betonte die lange Narbe, die sie zwar entstellte, aber gleichzeitig als starke und unbeugsame Frau kennzeichnete.

Heera war vom ersten Moment an von ihr beeindruckt gewesen. Auch jetzt gelang es ihr kaum, den Blick von ihr abzuwenden.

Ohne sie anzusehen, fragte Fjodora: »Glaubst du, ich merke nicht, wie du mich anstarrst?«

Erschrocken schaute Heera zu Boden. »Entschuldige bitte, ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Es ist nur unhöflich, wenn du mir nicht erklärst, warum du mich beobachtet hast. Ist es wegen der Narbe? Macht sie dir Angst?«

Zögerlich hob Heera wieder den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. »Narben machen mir keine Angst. Sie sind für mich ein Zeichen von Stärke. Ich habe mich nur gefragt, wie es dazu gekommen ist.«

Fjodora lächelte sie gütig an. »Falken sind wilde Tiere, die nur schwer zu zähmen sind. Einer zerkratzte mir das Gesicht, ehe er bereit war, sich meinem Willen zu beugen.«

Erstaunt hob Heera die Augenbrauen. Fjodora hatte Prinz Lean Jagdfalken geschenkt, die nun gemeinsam mit ihm und dem Schloss verschwunden waren. »Hast du dich danach nicht vor den Falken gefürchtet?«

»Angst schreckt mich nicht ab, sondern zieht mich an. Furcht ist dazu da, um sie zu bekämpfen.«

Heera hätte vermutlich etwas ganz Ähnliches geantwortet. Sie wurde schließlich nicht ohne Grund die Furchtlose genannt. Doch sie hätte nicht erwartet, dass sie je einer Prinzessin begegnen würde, die ihr so eine Antwort geben würde.

Fjodora widersprach jeder Vorstellung, die sie von einer Prinzessin gehabt hatte. Sie war weder eitel noch hochnäsig oder verwöhnt. Sie erschien ihr wie eine starke Frau, die keinen Mann brauchte, um sich sicher zu fühlen.

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Wir haben noch eine lange Nacht vor uns. Frag mich ruhig, was immer du willst«, erwiderte die westliche Prinzessin belustigt.

»Warum willst du Prinz Lean heiraten?«, fragte Heera geradeheraus und ohne Umschweife.

»Fürchtest du meine Konkurrenz etwa?«, zog Fjodora sie lachend auf. »Da wärst du die Einzige!«

»Lean achtet nicht so sehr auf das Äußere eines Menschen. Er war von dir genauso fasziniert wie ich«, gestand Heera. »Man trifft nicht oft auf eine Prinzessin in Hosen, welche die Gesellschaft von Wölfen denen von Menschen vorzieht.«

Fjodoras spöttisches Grinsen verwandelte sich in ein warmherziges Lächeln, das ihre braunen Augen im Feuerschein zum Leuchten brachte. »Man trifft auch nicht oft auf ein Bauernmädchen, das es wagt, so offen mit einer Prinzessin zu sprechen, wie du es gerade tust.«

Sie erhob sich von ihrem Platz, kam um das Feuer herum und ließ sich direkt neben Heera nieder.

Verschwörerisch beugte sie sich näher zu ihr. »Ich möchte ehrlich zu dir sein. Ich weiß nicht viel über euren Prinzen und es ist mir auch nicht wichtig. Sein Aussehen, sein Mut oder sein gutes Herz sind für mich zweitrangig. Das Einzige, was mich an ihm interessiert, sind die gefüllten Schatzkammern von Chóraleio.«

Entsetzt starrte Heera sie an.

Fjodora hob beschwichtigend die Hände. »Das muss sich für dich entsetzlich berechnend anhören, aber als Thronerbin bin ich vor allem meinem eigenen Königreich und meinem Volk verpflichtet. Die westlichen Sturmhöhen sind ein steiniges Land, in dem nur wenig wächst. Jeden Winter sind die Vorratskammern leer und die Menschen nagen am Hungertuch. Einzig ein Bündnis mit einem reichen Königreich könnte etwas an unserer Lage ändern.«

»Aber es muss furchtbar sein, jemanden heiraten zu müssen, den man nicht liebt«, stieß Heera aus.

Im selben Moment, in dem die Worte ihre Lippen verließen, merkte sie selbst, wie sehr sie sich nach der verträumten Medea anhörte. Sie liebte ihre Familie über alles, dennoch wäre sie nicht bereit gewesen, für ihr Wohl einen reichen Mann zu heiraten.

»Viel entsetzlicher ist es, jeden Winter die Toten zu zählen, die verhungert oder erfroren sind«, konterte Fjodora. »Und zu wissen, dass man nichts an deren Situation ändern kann.«

»Gibt es denn keine andere Lösung? Ihr könntet doch Chóraleio auch ein Bündnis vorschlagen, ohne dass du direkt den Prinzen heiraten musst. Vielleicht ein Handel?«

»Womit sollten wir handeln? Mit Steinen? Chóraleio verfügt über reiche Bodenquellen. Die Felder tragen bei euch beinahe von allein Früchte und eure Flüsse und Seen sind reich an Fisch. Es gibt nichts, was wir anbieten könnten, das Chóraleio nicht bereits selbst in Hülle und Fülle hätte.« Fjodora senkte den Kopf. »Glaub mir, ich habe mir schon so oft den Kopf über eine andere Möglichkeit zerbrochen. Wenn es eine geben würde, wäre ich gewiss nicht hier.«

Heera wusste nicht, was sie noch dazu sagen sollte. Genau wie Lean war Fjodora in dem Wissen aufgewachsen, dass ihr eigenes Wohl hinter dem ihres Volkes stand. Sie war verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Menschen ihres Königreichs glücklich zu machen, selbst wenn das bedeutete, dass sie dafür ein Leben mit einem Mann führen musste, den sie nicht liebte.

Heera hatte immer geglaubt, dass es den Adligen an nichts mangeln würde. Erst seit ein paar Wochen erkannte sie, dass ihr Reichtum auch große Opfer erforderte.

»Du hast Glück, denn Prinz Lean ist ein guter Mann. Vielleicht wirst du dich nicht in ihn verlieben, aber zumindest wirst du in ihm einen guten Freund finden. Er ist unvoreingenommen, gütig, hilfsbereit und humorvoll. Er schätzt die Jagd genauso sehr wie du«, versuchte Heera Fjodora aufzuheitern.

Diese hob interessiert die Augenbrauen. »Nachdem ich dir nun erklärt habe, warum ich um die Krone kämpfe, würde ich aber doch gerne wissen, was du hier machst. Du erscheinst mir nicht wie ein Mädchen, das ihr Leben lang davon geträumt hat, einen Prinzen zu heiraten.«

»Ich wollte niemals heiraten, weder einen Prinzen noch sonst jemanden«, gestand Heera lächelnd. »Ich bin durch Zufall in die Auswahl geraten.«

Sie erzählte Fjodora von allem, was in den letzten Wochen geschehen war. Einzig ihre Gefühle für Lean ließ sie dabei außen vor, doch die westliche Prinzessin schien sie dennoch zu durchschauen.

»Woher willst du wissen, dass euer Zusammentreffen bloßer Zufall und nicht etwa Schicksal war?«, hakte sie nach.

Heera blickte sie irritiert an. »Zufall oder Schicksal, ist das nicht dasselbe?«

Fjodora schüttelte vehement den Kopf. »Zufälle geschehen, ohne Einfluss auf den Verlauf unseres Lebens zu nehmen. Aber alles, was geschehen muss, um uns zu dem Menschen zu machen, der wir sind, ist Schicksal. Sag mir, bist du noch dieselbe, die du warst, bevor du den Prinzen kennengelernt hast?«

Heera blieb ihr eine Antwort schuldig.

Bevor sie Lean getroffen hatte, war Liebe für sie ein Hirngespinst von naiven kleinen Mädchen gewesen. Doch nun spürte sie, wie ihr eigenes Herz schneller schlug, wenn sie an ihn dachte. Nicht zu wissen, was mit ihm war, tat so weh, dass sie kaum atmen konnte. Die Ungewissheit, ob sie ihn je wiedersehen würde, fühlte sich an wie tausend Bienenstiche.

Nein, sie war nicht mehr dieselbe. Sie hatte ihre Furchtlosigkeit in dem Moment aufgegeben, als sie ihr Herz an Lean verloren hatte.

Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst

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