Читать книгу Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst - Maya Shepherd - Страница 9
Kapitel 2 - Heera
ОглавлениеWeil nicht nur die Gäste der Feierlichkeiten in Panik durch das Schloss rannten, sondern auch die Diener, und gleichzeitig die Menschen aus der Stadt Schutz suchen wollten, war es nicht leicht, einen Weg aus den hohen Mauern zu finden.
Yanis und Silas gaben ihr Bestes, die Mädchen zusammenzuhalten, doch sie verloren einander immer wieder aufs Neue, weil sich fliehende Menschen zwischen sie drängten.
Fjodoras Wölfe wurden bei dem Tumult unruhig. Nur drei von ihnen waren bei ihr. Die übrigen hatte sie allein aus dem Schloss geschickt.
Prinzessin Thelma hielt sich dicht an den breitschultrigen Kristópher, der sie davor schützte, von anderen angerempelt und umgeworfen zu werden.
Daphne und Leilani hatten sich bei Silas untergehakt, während Yanis sich um Erina und Medea kümmern sollte. Heera bildete die Vorhut, doch plötzlich ließ sie lautes Stimmengewirr herumfahren. Sie sah, wie Medea mit Yanis stritt, sie sich schließlich von ihm losriss und in die entgegengesetzte Richtung davonrannte – zurück ins Schloss.
Alarmiert verließ Heera ihren Platz an der Spitze der Gruppe und bahnte sich grob einen Weg zu dem Freund des Prinzen. »Warum hast du sie gehen lassen?«
»Seitdem wir aufgebrochen sind, wollte sie noch etwas aus ihrem Zimmer holen. Ich habe ihr mehrfach gesagt, dass wir dafür keine Zeit mehr haben, aber sie wollte nicht auf mich hören«, verteidigte sich Yanis.
»Das stimmt«, bestätigte Erina. »Yanis trifft keinesfalls Schuld!«
Heera starrte die beiden erst ungläubig an, bevor sie wütend die Luft ausstieß.
Das war typisch für Medea! Was konnte nur so wichtig sein, dass sie dafür ihr Leben riskierte?
»Entschuldige, dass ich dich so angefahren habe«, bat sie Yanis um Verzeihung. »Kennst du den Weg zu der Höhle?«
Er nickte. »Ich bin praktisch im Wald aufgewachsen.«
»Gut, dann führst du die anderen dorthin. Ich komme mit Medea nach!«
Heera wollte bereits ihrer Schwester nachlaufen, doch Yanis hielt sie am Arm zurück. »Lean würde nicht wollen, dass ihr euch beide in Gefahr begebt.«
»Lean würde mich genauso wenig davon abhalten können wie du«, konterte Heera und streifte seine Hand ab. »Mach dir um mich keine Sorgen, sieh lieber zu, dass du die anderen so schnell wie möglich aus dem Schloss in Sicherheit bekommst!«
Sie lief los, ohne ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen oder sich umzudrehen.
Sobald sie die Treppe zum oberen Stockwerk erreicht hatte, kam sie schneller voran. Die Flure waren menschenleer. Nur vereinzelt traf sie auf Kammerzofen.
Die Tür zu Medeas Zimmer stand offen, und ihre Schwester lief ihr auf der Schwelle schon entgegen. In ihrer Hand hielt sie den goldenen Vogelkäfig.
Heera konnte ihre Wut kaum noch zügeln. »Ist das dein Ernst? Du riskierst dein Leben für einen verdammten Vogel?«
Medea rümpfte beleidigt die Nase. »Es ist nicht nur irgendein Vogel. Prinz Lean hat ihn mir geschenkt.«
»Er würde dennoch nicht wollen, dass dir deshalb etwas zustößt«, fuhr Heera sie an. »Lieber würde er dir jederzeit einen neuen Vogel schenken.«
»Ich will aber nicht irgendeinen Vogel!«
In solchen Momenten wollte Heera ihre jüngere Schwester am liebsten erwürgen. Medea war auf eine Weise genauso stur wie sie selbst, aber das war auch der Grund, warum sie sich immer wieder in Gefahr brachte.
Zornig griff Heera nach der Hand ihrer Schwester und schwor sich, sie nicht wieder loszulassen, ehe sie die Höhle im Wald erreicht hatten.
»Was ist an dem Vogel denn so besonders?«, fragte sie, während sie über den verlassenen Flur eilten.
»Er ist mein bester Freund«, antwortete Medea voller Überzeugung.
Der Nebel hatte sich bereits so stark um das Schloss und den Wald ausgebreitet, dass Medea und Heera kaum noch die eigene Hand vor Augen sehen konnten.
Trotzdem rannten sie weiter in das graue Nichts – Heera voran. Sie kannte den Wald besser als jede andere und war nicht bereit aufzugeben.
Wenn Leilani die Wahrheit gesagt hatte, würde sie hier draußen ohnehin der Tod holen. Da wäre es immer noch besser gewesen, bei den anderen im Schloss zu bleiben, aber mittlerweile waren sie davon so weit entfernt, dass sie nicht einmal hätten sagen können, ob es östlich oder westlich von ihnen lag. Der Nebel hatte alles um sie herum verschluckt.
Medea klammerte sich fest an die Hand ihrer Schwester, während sie mit der anderen den Vogelkäfig beschützend gegen ihre Brust drückte.
»Bist du dir sicher, dass du weißt, wo wir hinmüssen?«, fragte sie zweifelnd.
»Nein, aber wir haben keine andere Wahl, als es weiter zu versuchen«, entgegnete Heera, woraufhin Medea nur ein besorgtes Seufzen ausstieß.
Sie liefen weiter, als Medea plötzlich abrupt stehen blieb, Heera losließ und stattdessen den Käfig vor ihr Gesicht hob. Die kleine Lerche hatte sich ängstlich auf ihrer Stange zusammengekauert und stieß ein wimmerndes Fiepsen aus.
»Liebste Lerche, kannst du uns helfen? Kennst du den Weg?«, sprach Medea den Vogel an.
Entsetzt starrte Heera sie an. »Was soll der Blödsinn? Bist du wahnsinnig geworden? Vögel beherrschen die menschliche Sprache nicht!«
Medea ließ sich von ihr nicht beirren und sah weiter flehend zu dem kleinen Vogel, der sich weder rührte noch einen Mucks von sich gab. »Du brauchst dich nicht vor Heera zu fürchten. Sie mag eine harte Schale haben, aber ihr Kern ist trotz allem butterweich. Bitte sprich doch mit mir!«
Medea schien felsenfest davon überzeugt zu sein, dass ihre Lerche tatsächlich sprechen könnte, das brachte selbst Heera ins Zweifeln.
Erwartungsvoll blickte sie nun ebenfalls zu dem Vogel, doch als dieser sich auch Sekunden später nicht rührte, schüttelte sie frustriert den Kopf.
»Hilfe!«, brüllte sie nun aus voller Kehle in den Nebel. »Kann uns jemand hören?« Sie hoffte, dass sie, wenn die anderen die Höhle bereits erreicht hatten und sie bemerken würden, ihren Stimmen folgen könnten.
Doch es blieb still – viel zu still. Es war weder das Zwitschern von Vögeln zu vernehmen noch das Knistern von Tieren, die durch das Unterholz stiegen, nicht einmal das Rascheln der Blätter im Wind.
»Hilfe!«, kreischte nun auch Medea. Beide Mädchen begannen laut zu rufen.
Heera musste sich eingestehen, dass sie jegliche Orientierung verloren hatte.
Als niemand auf ihre Schreie reagierte, klammerte sich Medea weinend an ihre Schwester. »Werden wir jetzt sterben?«
»Nein«, behauptete Heera entschieden. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht.« Auch wenn sie nicht wusste, wie sie Medea vor einer schwarzen Wolke beschützen sollte.
Auf einmal war es ihr, als hätte sie eine Stimme durch den Nebel vernommen – so leise wie ein Flüstern. Sie gebot Medea, still zu sein, und lauschte in das allumfassende Grau.
»Heera … Medea …«
Da war es wieder! Ganz eindeutig! Auch Medea hatte die sanft gehauchten Wörter gehört.
»Folgt mir …«, hallte es durch den finsteren Dunst.
Unsicher setzte Medea den ersten Schritt in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Doch Heera hielt sie zurück. »Was, wenn es eine Falle ist?«
Erneut erklang die geisterhafte Stimme: »Ich bin die Hexe des Waldes und werde euch leiten. Vertraut mir!«
»Haben wir denn eine Wahl?«, konterte Medea.
Ausnahmsweise hatte sie recht, und so folgten beide Mädchen der körperlosen Stimme durch den Nebel.
Nach kurzer Zeit konnten sie plötzlich das ängstliche Stimmengewirr von anderen Menschen wahrnehmen.
»Hallo? Ist da jemand?«, schrie Heera erneut.
Für einen Augenblick wurde es still, doch einen Moment später erhielten sie laut und deutlich die Antwort: »Heera? Bist du das?«
Es war Daphne.
»Ja! Wir sind hier«, riefen Heera und Medea gleichzeitig.
Daphne lachte erleichtert auf. »Folgt meiner Stimme! Ihr habt die Höhle fast erreicht.«
Nach nur wenigen Schritten konnten die Schwestern die Schemen von Körpern ausmachen, die sich aus der Dunkelheit abhoben. Sie beschleunigten ihre Schritte und stolperten in den Eingang der Höhle.
Alle anderen waren dort: die drei Prinzessinnen samt ihren Begleitungen, die anderen beiden Ernannten sowie Silas und Yanis.
Der Nebel breitete sich immer weiter aus, machte selbst vor der Höhle nicht halt und zog tiefer in das Innere. Doch zu dem Nebel kam plötzlich auch ein starker Wind hinzu, der jedes Geräusch verschluckte und an den Haaren und Kleidern der Mädchen riss. Sie konnten ihre eigenen Worte nicht mehr verstehen und flohen weiter in die Höhle hinein.
Erst als sie unter der Erde angekommen waren, entkamen sie dem Zerren und Reißen des Windes.
Zitternd vor Angst kauerten sie sich eng aneinander und lauschten auf die Geräusche des Waldes. Es klang, als würde ein Sturm über sie hinwegziehen, so stark, dass er ganze Bäume samt Wurzeln ausreißen und Häuser forttragen könnte. Der Boden bebte unter ihren Füßen, und Steine rieselten von der Decke.
Erina und Medea begannen beide ängstlich zu weinen. Heera saß zwischen ihnen und legte behutsam ihre Arme um die beiden Mädchen, obwohl ihr selbst angst und bange war.
Daphne ließ zu, dass Silas seine starken Arme um sie schlang, während Yanis sanft auf Prinzessin Leilani einsprach, die sich zu Fjodora und ihren Wölfen geflüchtet hatte. Kristópher hatte sich beschützend vor Thelma gestellt, bereit, jede Gefahr abzuwehren.
So verharrten sie alle für einige Zeit. Heera konnte nicht sagen, ob es sich dabei um Minuten oder Stunden handelte.
Langsam ließ das Beben nach, und die Geräusche verklangen, bis es schließlich unheimlich still wurde – geradezu totenstill.
Fjodora löste sich als Erstes aus ihrer Starre und stand entschlossen auf. »Kommt! Wir sollten nachsehen, was geschehen ist.«
Zögernd folgten ihr die anderen zum Höhlenausgang. Ein schwaches Dämmerlicht fiel in das Innere. Sie hatten damit gerechnet, dass sich ihnen ein Bild der Zerstörung bieten würde: Bäume, die aus dem Boden gerissen worden waren, abgerissene Äste, die ihnen den Weg versperrten, oder ganze Felsbrocken, die von der Höhlendecke gestürzt waren.
Nichts davon war eingetreten – alles war noch viel schlimmer. Zwar stand die Höhle so fest wie eh und je und die Bäume waren tief im Erdboden verwurzelt, aber kein Baum trug auch nur noch ein einzelnes Blatt.
Der Waldboden, der sonst von Blättern, Moos und Zweigen bedeckt war, lag staubig und völlig ausgetrocknet vor ihnen. Nicht weit von der Höhle befand sich eine Gruppe Rehe. Die schwarze Wolke musste sie überrascht haben, ehe sie Zeit gehabt hatten zu fliehen. Nun waren nur noch Skelette von ihnen übrig.
Auch auf den kahlen Bäumen kauerten Vögel ohne jegliche Federn oder Haut. Nur noch ihre Knochen waren zu erkennen.
Daphne begann panisch zu schreien und vergrub ihr Gesicht an Silas’ Brust, vermutlich um den schaurigen Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Die Wölfe von Fjodora beheulten in Trauer den Tod der vielen Waldtiere, während die Mädchen nur fassungslos in den kahlen Wald starren konnten.
Heera war zu schockiert, um weiter über die körperlose Stimme nachzudenken, die Medea und ihr den Weg zu der Höhle gewiesen und dadurch ihre Leben gerettet hatte.
Einzig Leilani wirkte ruhig. Gewiss war sie auf ihrer Flucht bereits an kahlen Wäldern, ausgestorbenen Dörfern und vertrockneten Flüssen vorübergekommen, sodass sie der Anblick nicht ganz so unvorbereitet wie die anderen traf.
»Lasst uns zurück zum Schloss gehen und sehen, was davon noch übrig geblieben ist«, schlug sie dennoch vor.