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Kapitel 7 - Erina

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Gerade als die Sonne vollends hinter den Bergen verschwunden war und sich die schwache Sichel des Mondes hinter den Wolken am Himmel hervorschob, erklang in der Ferne das Heulen von Wölfen. Fjodoras Tiere hoben wachsam die Köpfe und lauschten dem Klang. Sie spitzten die Ohren und begannen plötzlich bedrohlich zu knurren.

»Sie kommen auf uns zu«, sagte die westliche Prinzessin.

Besorgt sahen die anderen sie an. Was sollten sie nun tun? Es dämmerte bereits und niemand von ihnen wusste, wie weit das nächste Dorf entfernt war. Aber hierbleiben konnten sie auch nicht. Sie saßen praktisch auf dem Präsentierteller, und die Wölfe würden sie aus meilenweiter Entfernung wittern.

»Die Wölfe werden besonders hungrig sein«, überlegte Heera laut. »Weil viele Tiere an der schwarzen Wolke gestorben sind, finden sie kaum noch Beute.«

»Wenn sie erst einmal unsere Witterung aufgenommen haben, werden sie nicht mehr von uns ablassen«, stimmte Yanis ihr zu.

»Aber was sollen wir jetzt tun?«, klagte Daphne. In ihren blonden Locken hatten sich Zweige und Laub verfangen, was ihr einen zerzausten Eindruck verlieh.

»Sorge dich nicht, meine Schöne«, tröstete Silas sie, während er ihr beschützend einen Arm um die schlanken Schultern legte. »Ich werde mich zwischen dich und jeden Angreifer stellen, ganz gleich, ob Mensch oder Tier!«

»Ich wüsste vielleicht eine Lösung«, meldete sich Erina schüchtern zu Wort.

»So sprich«, forderte Niobe, während sie nervös auf und ab ging.

»Wenn ich mich nicht täusche, befindet sich nicht weit von hier ein Schloss. Dort könnten wir Zuflucht suchen.«

»Ein Schloss?«, wiederholte die Königin ungläubig. »Wessen Schloss sollte das sein?«

»Ich war schon einmal dort, als Ihr mir die Prüfung stelltet, Euch eine goldene Rose zu bringen. Doch ich muss euch alle warnen, denn ein schreckliches Biest lebt in dem alten Gemäuer.«

Mit Schrecken dachte Erina an das Versprechen, das sie dem Biest hatte geben müssen, dafür, dass es sie mit der Rose hatte ziehen lassen. Die goldblättrige Rose war samt dem Schloss von Chóraleio verschwunden, doch sie war sicher, dass dies an ihrem Schwur nichts ändern würde.

Wie viele Tage oder Wochen mochten ihr noch bleiben, bis sie für immer die Gefangene des schrecklichen Untiers werden würde?

»Ich für meinen Teil stelle mich lieber einem einzelnen Biest als einem ganzen Rudel Wölfe«, entschied Leilani und stemmte sich vom Boden auf.

»Vorausgesetzt, das Schloss ist überhaupt noch da und wurde nicht wie alle anderen von der schwarzen Wolke verschluckt«, meinte Thelma, als sie erneut auf Kristóphers Rücken kletterte.

Ihre Sorge stellte sich schon bald als unbegründet heraus, denn je näher sie dem geheimnisvollen Schloss kamen, umso dichter wurde der Wald um sie herum. Schnee rieselte von den weißen Zweigen. Ihre Schritte erzeugten ein knirschendes Geräusch auf dem gefrorenen Boden, und ihr Atem hinterließ kleine Wölkchen in der eisigen Luft. Diesen Flecken Land schien der grausame Wind verschont zu haben. Es herrschte tiefer Winter.

In der Dunkelheit kämpften sie sich voran. Nur das Licht einer einzelnen Fackel erhellte ihnen den Weg. Stetig hörten sie die Wölfe auf ihrer Jagd heulen, als wären sie ihnen bereits dicht auf der Spur.

Erina erinnerte sich kaum noch daran, wie sie vor Tagen in das Schloss gefunden hatte, doch sie spürte tief in ihrem Herzen, dass sie auf dem rechten Weg waren.

Zielsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie schließlich in der Dunkelheit die Umrisse eines alten Gemäuers ausmachten. In nur einem einzigen Fenster war der Widerschein einer flackernden Kerze zu erkennen.

Die Wölfe waren nun ganz nah, und so zögerten sie nicht, durch das Tor zu treten, die schweren Türen zu öffnen und in dem gewaltigen Foyer des Schlosses Schutz zu suchen. Ihre Schritte hallten wie Alarmglocken von dem steinernen Fußboden wider.

»Hallo?«, rief Königin Niobe laut mit ihrer Ziegenstimme. »Ist jemand zu Hause?«

»Was soll das?«, fuhr Daphne sie entgeistert an. »Wollt Ihr das Biest auch noch auf uns aufmerksam machen?«

»Biest hin oder her«, entgegnete Niobe, »die Höflichkeit gebietet es, den Hausherrn um Schutz zu erbeten.«

»Das Biest wird sich uns nicht zeigen, solange wir nichts an uns nehmen, was ihm gehört«, widersprach Erina. »Es scheut die Gegenwart von Menschen. Sein Anblick ist zu entsetzlich.«

»Umso besser«, beschloss Leilani. »Lasst uns die Nacht hierbleiben, und am frühen Morgen brechen wir wieder auf. Das Biest wird nicht einmal merken, dass wir hier waren.«

»Im ersten Stock gibt es Zimmer mit weichen Federbetten. Dort wollen wir uns zur Ruhe legen«, schlug Erina vor. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich vor dem Wiedersehen mit dem Biest fürchtete. Ihre Angst verschreckte auch die anderen Mädchen, sodass sie leise wie Verbrecher durch das große Schloss schlichen und ihre Türen verrammelten, sobald sie sich für eines der vielen Zimmer entschieden hatten.

Bei all der Aufregung hatten sowohl Heera als auch Daphne ihr Vorhaben vergessen, und so bekamen sie nicht einmal mit, wie Medea allein mit ihrem Vogelkäfig in einem Zimmer verschwand.

Die Mädchen sanken müde und erschöpft in die weichen Betten. Die Augen fielen ihnen beinahe von allein zu, als der Schlaf sie übermannte und in die Tiefen der Träume hinabzog.

Es war Erina, als hätte der Ruf eines Uhus sie geweckt, doch als sie die Augen aufschlug, war es totenstill. Der Mond schien durch das geöffnete Fenster, und ein schwacher Windhauch wehte ihr ins Gesicht.

Die Hitze und Dürre, welche die schwarze Wolke hinterließ, hatte das Schloss des Biests nicht erreicht, sodass in diesem Teil des Landes noch tiefer Winter herrschte. Schneeflocken tanzten im schwachen Mondschein und fielen auf die Fensterbank.

Fröstelnd schlang Erina die Arme um den Körper. Sie konnte sich nicht daran erinnern, das Fenster geöffnet zu haben. Zitternd schob sie ihre nackten Füße unter der weichen Bettdecke hervor und schlich barfuß zu dem Fenster.

Nachdem sie es geschlossen hatte, hörte sie plötzlich das schwere Schnaufen eines großen Tieres hinter sich. Sie fuhr herum und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Das Biest stand in einer dunklen Ecke des Zimmers.

Als es sie schreien hörte, stürzte es auf sie zu, als wollte es sie in tausend Stücke zerreißen. Doch stattdessen presste es eine behaarte Klauenhand auf ihren Mund, um ihren Schrei zu ersticken.

Erinas Herz flatterte so wild wie ein junger Vogel auf seinem allerersten Flug. Sie bekam vor lauter Angst kaum Luft und starrte dem Biest ängstlich mit weit aufgerissenen Augen entgegen.

Als es seine Pranke von ihrem Mund löste, wich sie panisch vor ihm zurück.

»Bitte tut mir nichts«, flehte sie weinerlich und hielt sich schützend die Hände über den Kopf.

»Warum bist du zu mir zurückgekehrt, wenn du dich so sehr vor mir fürchtest?«, fuhr das Biest sie zornig an. Seine Stimme war wie ein Donnergrollen. »Hat dein Prinz sich gegen dich entschieden?«

»Nein«, entgegnete Erina mit zitternder Stimme. »Der Prinz wurde mitsamt seinem Schloss von der Schwarzen Hexe entführt.«

Die dunklen Augen des Biests weiteten sich erschrocken. Zum ersten Mal bemerkte Erina, wie menschlich sie im Vergleich zu dem Rest von ihm wirkten.

»Die Schwarze Hexe?«, wiederholte das Biest beinahe furchtsam. »Warum bist du dir so sicher, dass tatsächlich sie hinter dieser finsteren Macht steckt?«

»Sie hat nicht nur den Prinzen, sondern ganz Chóraleio und die anderen Königreiche verflucht. Wir wussten, dass mit ihrer Rache zu rechnen ist, nur nicht, wann.« Betrübt senkte sie den Kopf. »Wir hatten gehofft, dass uns mehr Zeit bliebe.«

Das Biest wirkte noch nicht gänzlich überzeugt. »Wenn sie Chóraleio verflucht hat, warum sollte sich ihre Rache dann auch gegen sämtliche andere Königreiche richten?«

Diese Frage hatte sich für Erina gar nicht gestellt. Sie war der Schwarzen Hexe begegnet und hatte ihr in die Augen geblickt, in denen kein Funke Mitgefühl glühte. »Sie genießt es, Menschen Leid zuzufügen. Wenn sie einen Weg gefunden hat, um eine dunkle Wolke über Chóraleio zu schicken, würde nichts sie davon abhalten, so auch mit anderen Königreichen zu verfahren. Überall, wo die Wolke vorüberzieht, gibt es kein Leben mehr.« Sie stockte und betrachtete das Biest nachdenklich. »Nur Euer Schloss hat sie verschont.«

»Wie könnte sie mir auch noch mehr nehmen, als sie es schon getan hat?«, seufzte das Biest. »Der Tod wäre mir nur willkommen.«

Erina war überrascht von dessen Traurigkeit. Nie zuvor hatte sie das Biest in einer anderen Stimmung als blanker Wut erlebt. Vorsichtig trat sie einen Schritt auf es zu. »Was hat die Schwarze Hexe Euch angetan?«

Fassungslos blickte das Biest ihr entgegen. »Schau mich an! Ist mein Anblick nicht Antwort genug? Dachtest du etwa, ich wäre bereits als Monster zur Welt gekommen?«

Darüber hatte sie sich bisher keine Gedanken gemacht. Verschüchtert schüttelte sie den Kopf.

»Ich war einst ein Prinz. Die Mädchen umwarben mich wie keinen anderen, aber keine war mir gut genug«, erzählte das Biest. In dessen Stimme lag tiefes Bedauern. »Eines Tages zog ein heftiges Unwetter über mein Schloss und eine alte bucklige Frau schlug gegen meine Tür. Sie bat mich um Unterschlupf. Als ich ihr diesen verwehrte, verwandelte sie sich vor meinen Augen in die Schwarze Hexe und verfluchte mich. Seitdem muss ich in Einsamkeit als Biest leben, vor dem sich die Menschen fürchten.«

Erina zögerte, ehe sie antwortete: »Die Menschen fürchten sich nicht wegen Eures Äußeren vor Euch, sondern wegen Eurer unglaublichen Wut.«

Erneut flammte der Zorn in den Augen der Bestie auf. »Mein Anblick verstört dich genauso wie jede andere vor dir! Kein Mensch könnte ein Biest mögen.«

Mutig ging Erina dem Biest weiter entgegen, bis sie direkt vor ihm stand. »Wenn Ihr möchtet, dass die Menschen Euch trotz Eures Äußeren mögen, dann müsst Ihr auch etwas dafür tun.«

»Ich ließ dir dein Leben und eine meiner geliebten Rosen. Ist das nicht genug?«, fuhr es sie schroff an.

»Ihr habt mir dafür ein Versprechen abverlangt«, widersprach Erina. »Wenn Ihr gemocht werden möchtet, müsst Ihr uneigennützig handeln. Helft anderen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen!«

»Was meinst du damit?«, fragte das Biest verständnislos, so als hätte es zuvor noch nie jemandem geholfen.

»Die schwarze Wolke hat ihren Ursprung in den Ostlanden. Wir sind auf dem Weg dorthin, um Prinz Lean und alle Schlösser zu befreien. Begleitet uns! Vielleicht könnt Ihr bei der Gelegenheit sogar die Schwarze Hexe dazu bringen, Euch Eure menschliche Gestalt zurückzugeben.«

»Die Ostlande sind weit entfernt«, konterte das Biest.

»Kennt Ihr den Weg dorthin?«, hakte Erina unbeirrt nach.

»Ich kenne jeden Weg!«

»Dann führt uns dorthin!« Die Furcht war aus ihrer Stimme gewichen, denn nach dem Geständnis des Biests konnte sie dessen menschliche Seite umso deutlicher sehen und konzentrierte sich auf diese.

»Deine Freunde würden sich vor meinem Anblick so sehr fürchten, dass sie mich töten würden, sobald sie mich sehen.« Seine Worte klangen nicht ängstlich, sondern wie eine Warnung.

»Das würden sie nicht«, beschwor Erina. »Es sind gute Menschen und solange Ihr ihnen nichts antut, würden sie auch Euch nichts zuleide tun.« Sie sah es flehend an. »Ich bitte Euch! Helft uns!«

Das Biest rang mit sich. Trotz seiner gewaltigen Gestalt schien es sich tatsächlich am meisten vor der Gegenwart anderer Menschen zu fürchten, obwohl es gleichzeitig genau das war, wonach es sich vermutlich am meisten sehnte.

Erina streckte ihre kleine zarte Hand nach dem Biest aus und strich ihm sanft über das struppige Fell. »Ihr würdet mir damit einen großen Gefallen erweisen. Bitte zeigt mir, dass Ihr nicht die Bestie seid, die Euer Aussehen vermuten lässt.«

Ihre Berührung schien das Biest zu erweichen. Sie konnte seinen Widerwillen wie Schnee schmelzen sehen.

Zaghaft nickte das Biest mit dem großen, unförmigen Kopf. »Ich werde dir helfen!«

Erina lächelte es dankbar an. Dessen Entgegenkommen bewegte sie und sie spürte, wie sich in ihrem Inneren neben Mitleid nun auch Zuneigung für das Geschöpf regte.

Die Augen sind der Spiegel der Seele

und doch machen sie uns blind für die Wahrheit.

Oft bedeutet Gewinnen auch Verlieren.

Der Anfang des Erkennens

kann auch das Ende des Wissens sein.

Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst

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