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Kapitel 6 - Heera

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Heera atmete den Duft des frisch aufgebrühten Tees ein, der ihr dampfend aus der Blechtasse entgegenstieg. Sie hatte kaum ein Auge zubekommen, nachdem Silas und Yanis sie von der Wache abgelöst hatten. Trotzdem war sie nicht müde, sondern fühlte sich voller Tatendrang. Solange sie noch etwas tun konnten, gab es noch Hoffnung. Selbst wenn es bedeutete, bei stechender Hitze einem ungewissen Weg zu folgen.

Sie ließ den Blick über die anderen schweifen und hielt inne, als sie sah, wie Daphne energisch auf Silas einredete. Dieser schüttelte ungläubig den Kopf und war bemüht, sie zu besänftigen. Daphne schien aber auf irgendetwas zu bestehen und sich nicht von ihrer Ansicht abbringen zu lassen.

Silas versuchte sie festzuhalten, aber sie riss sich von ihm los und steuerte zielstrebig auf eine Person zu, die nicht weit von Heera auf einer Bank saß und sich das schwarze, seidig glänzende Haar bürstete – Medea.

»Was treibst du eigentlich für ein falsches Spiel?«, fuhr Daphne sie zornig an.

Medea sah erschrocken auf. Neben ihr auf der Bank stand der goldene Käfig mit ihrer Lerche. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ich habe dich bereits im Schloss jede Nacht mit jemandem sprechen gehört und diese Nacht hast du es wieder getan. Wer ist es?«

Medea schüttelte den Kopf. »Du musst geträumt haben! Ich habe mit niemandem gesprochen.«

Vielleicht entging es den anderen, doch Heera sah die verräterischen roten Flecken, die sich immer dann auf dem Hals ihrer Schwester bildeten, wenn sie etwas zu verheimlichen versuchte oder log.

Neugierig erhob sich Heera und ging näher zu den beiden streitenden Mädchen. Sie waren so laut, dass sie auch die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zogen.

»Wie kannst du es wagen, mir zu unterstellen, dass ich lüge? Du bist die Einzige, die uns etwas verheimlicht, und ich will wissen, was es ist«, fauchte Daphne außer sich. »Wir hatten schon einmal die Schwarze Hexe direkt unter uns. Wer sagt uns, dass es dieses Mal nicht wieder so ist und du mit ihr unter einer Decke steckst?«

Empört schnappte Medea nach Luft. »Ich stecke nicht mit der Schwarzen Hexe unter einer Decke!«

»Mit wem sprichst du dann nachts, wenn nicht mit ihr?«

»Ich spreche nachts mit niemandem!«

Überraschend mischte sich auch Prinzessin Thelma in den Streit ein. »Ich hörte dich ebenfalls in der Nacht reden«, sagte sie ruhig, in ihren eisblauen Augen spiegelte sich Misstrauen.

Medea sank unter der Last der Anklagen in sich zusammen. Die anderen Mädchen drängten sie in die Enge. »Vielleicht habe ich auch im Schlaf gesprochen«, gab sie kleinlaut nach.

»So klang es nicht«, widersprach Daphne. »Wir müssen einander in diesen schweren Zeiten vertrauen können, aber dir glaube ich kein Wort mehr!«

»Beruhigt euch, Mädchen«, tadelte Niobe die streitenden Ernannten mit ihrer Ziegenstimme. »Wir haben keine Zeit für solchen Unfug!«

»Aber vielleicht sitzt der Feind direkt unter uns«, schimpfte Daphne. »Wenn wir nicht etwas gegen sie unternehmen, werden wir bald alle Gefangene der Schwarzen Hexe sein!«

»Ich sagte dir doch bereits, dass ich nichts mit der Hexe zu tun habe«, beteuerte Medea erneut den Tränen nahe.

Heera ertrug es nicht, ihre Schwester so aufgelöst zu sehen, und schloss sie deshalb beschützend in ihre Arme, auch wenn sie wusste, dass Daphne nicht ganz unrecht mit ihren Anschuldigungen hatte.

Zwar glaubte sie nicht, dass die Schwarze Hexe dahintersteckte, aber irgendetwas verbarg Medea vor ihnen und sie würde herausfinden, was es war.

»Wir werden jetzt aufbrechen und ich will nichts mehr davon hören«, befahl Niobe. Selbst als Ziege hatte sie kaum etwas von ihrer Autorität eingebüßt. Ohne länger zu warten, stolzierte sie los.

Daphne zeigte drohend mit dem Finger auf Medea, bevor sie Niobe folgte. »Ich werde dich diese Nacht nicht aus den Augen lassen! Verlass dich darauf, dass ich herausfinden werde, was du uns verheimlichst.«

Medea drückte sich dichter an ihre ältere Schwester. »Oh Heera, warum glaubt mir denn niemand? Ich habe wirklich nichts Böses getan!«

»Ich glaube dir«, versicherte ihr Heera. Medea hatte ein gutes Herz, aber sie konnte gemein werden, wenn es um den Prinzen ging. Das hatte sie bereits am eigenen Leib erfahren müssen. »Hast du in der Nacht vielleicht mit deinem Vogel gesprochen und schämst dich, es vor den anderen zuzugeben?«

»Nein«, beharrte Medea.

»Aber du hast mir gesagt, dass er sprechen könnte.«

»Ich war verwirrt und hatte Angst«, versuchte Medea sich herauszureden und wirkte dadurch nur noch verdächtiger. »Vergiss einfach, was ich gesagt habe.«

Medea griff nach dem Vogelkäfig und machte sich auf den Weg.

Es kam Heera so vor, als würde sie vor ihr fliehen. Sie hatte Medea nicht geglaubt, dass die Lerche sprechen könnte, und tat es auch jetzt noch nicht, aber Medea schien überzeugt davon, dass es so war. Das würde zumindest die Situation erklären.

Nicht nur Daphne würde sie in der nächsten Nacht beobachten, sondern auch Heera. Gemeinsam würden sie früher oder später schon hinter Medeas Geheimnis gelangen.

Obwohl Silas und Yanis sich bestens im ganzen Königreich auskannten, fiel es ihnen zunehmend schwer, sich zu orientieren. Nachdem die schwarze Wolke über das Land gezogen war, sah alles anders aus.

Es gab keine Wiesen mehr, auf denen Hirten Schafe hüteten, keine Seen für den Fischfang, keine Wälder zur Jagd, und die Dörfer waren alle komplett verlassen. Die Menschen, die nicht dem todbringenden Wind zum Opfer gefallen waren, hatten in eiliger Flucht das Land verlassen.

Es würde ihnen nicht viel bringen, denn der Tod machte an den Grenzen von Chóraleio nicht halt.

Die kleine Gruppe war den ganzen Tag unterwegs gewesen, sodass ihnen am Abend die Füße schmerzten.

Prinzessin Thelma litt am meisten. Sie war es nicht gewohnt, weite Strecken zu Fuß zu gehen, und hatte sich eine blutige Blase gelaufen. Ihr treuer Diener Kristópher trug sie deshalb, doch so groß und stark er auch war, strengte ihn die zusätzliche Last sichtlich an. Schweiß stand auf seiner Stirn und er schnaufte schwer bei jedem einzelnen Schritt.

Die Sonne versank bereits am Horizont, ohne dass ein schützendes Dorf in Sichtweite gewesen wäre. Ihnen würde nichts anderes übrig bleiben, als die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Aber selbst das kümmerte die Mädchen nicht. Sie waren viel zu erschöpft von dem langen Marsch, um sich vor den Schrecken der Nacht zu fürchten. Ihnen war alles recht, solange sie endlich die Beine von sich strecken konnten.

Ohne Murren ließen sie sich an einer Weggabelung nieder und breiteten Decken auf dem steintrockenen Boden aus.

Selbst Niobe schien erleichtert, endlich ihre Hufe ausruhen zu können. Liegend nagte sie an ein paar verkümmerten Grashalmen, die den Wegesrand säumten.

Yanis und Silas verteilten die Vorräte, die sie aus dem Dorf für ihre Reise mitgenommen hatten. Es war kein Festmahl, aber das trockene Brot und der Schinken würden ihnen zumindest die Mägen füllen. Dazu gab es Wein, mit dem sie ihr Mahl hinunterspülen konnten. Zudem würde der Alkohol für einen ruhigen Schlaf und etwas Wärme sorgen.

Heera entging jedoch nicht, wie Daphne das Getränk verweigerte und stattdessen einen Schluck Milch zu sich nahm. Trotz des anstrengenden Tages hatte sie ihr Vorhaben für die Nacht wohl nicht vergessen. Bereits jetzt ließ sie Medea kaum aus den Augen. Sobald sich diese erhob oder mit jemandem sprach, folgte sie ihr mit argwöhnischem Blick.

Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst

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